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Stadt ohne Schilder

Autofahrer, Straßenbahn, Radfahrer und Fußgänger: Wer in einer Großstadt lebt muss sich täglich im Verkehrschaos zurechtfinden. Wie aber kann man das Miteinander sicherer gestalten? Die Radikallösung kommt aus den Niederlanden. Dort haben Verkehrsplaner im friesischen Ort Drachten alle Schilder und Ampeln entfernt. Dieses Konzept zur Verkehrsberuhigung besagt: Man muss den Verkehr gefährlicher machen, damit er sicherer wird. Ein Bericht von Kerstin Schweighöfer.

07.01.2008
    Die Innenstadt von Den Haag, gleich hinterm Hauptbahnhof. Kopfschüttelnd steht Hans Monderman an einer großen Kreuzung: Autos brausen auf vier Spuren an ihm vorbei, ein Radler schafft es in letzter Minute, auf die andere Seite zu kommen. Und eine Straßenbahn klingelt geradezu empört, als ihr ein Fußgänger in die Quere kommt.
    "Falsch, alles falsch!" sagt Monderman.
    "Sämtliche Verkehrsteilnehmer sind gleichberechtigt", sagt er. Egal, wie sie sich fortbewegen.

    Deshalb würde er hier als erstes den Ampel- und Schilderwald abholzen. Und dann sämtliche Fahrbahnmarkierungen samt Zebrastreifen entfernen, sodass die Autofahrer keine eigene Bahn mehr haben und statt dessen ein gemeinsamer Raum entsteht, den sie sich mit den anderen teilen müssen. Nur auf Autobahnen und Schnellstrassen hätten die Autofahrer das Sagen. In den Städten hingegen seien sie Gast und so müssten sie sich auch benehmen. Wer ein fremdes Wohnzimmer betrete, ziehe ja auch zuerst seine dreckigen Stiefel aus.

    In den USA wurde Monderman als einer der 20 innovativsten Menschen der Welt ausgezeichnet. Von Beruf ist der 61Jährige eigentlich Verkehrsingenieur. Doch selbst nennt er sich lieber Verkehrsplaner. Für Verkehrsingenieure müssten eigentlich vor jedem Ortseingang große Verbotsschilder aufgestellt werden, denn die hätten die Verkehrsteilnehmer mit immer neuen Richtlinien und Schildern Jahrzehnte lang in falscher Sicherheit gewogen. Je sicherer sich ein Autofahrer fühle, desto rücksichtsloser benehme er sich. Muss er sich jedoch ohne Schilder und ohne jegliche Fahrbahnmarkierung seinen Weg suchen, dann drosselt er das Tempo sofort und sucht Augenkontakt zu den anderen Verkehrsteilnehmern.
    Das sei das Schlüsselwort: Augenkontakt. Autofahrer, Radler und Fußgänger müssten sich an Kreuzungen wieder im Auge behalten.

    Entdeckt hat Monderman das alles schon vor mehr als 20 Jahren in seiner Heimatstadt Drachten in Friesland: Als Verkehrssicherheitsbeauftragter sollte er dort eine Durchgangsstrasse sicherer machen. Noch mehr Blumenkübel und Schwellen als Verkehrs beruhigende Maßnahmen jedoch hätte er niemandem mehr zumuten können. Aus lauter Verzweiflung beschloss er, den Asphalt durch rote Klinkersteine zu ersetzen und die Strasse durch einen hellen Saum rechts und links schmaler erscheinen zu lassen - und tatsächlich: Es funktionierte. Als er mit einem Radargerät das Tempo registrieren wollte, konnte er nichts messen - alle Autos fuhren langsamer als 30 Stundenkilometer.

    In seiner Heimatstadt Drachten wurden inzwischen mehrere Straßenzüge und Kreuzungen nach seinem Prinzip des geteilten Raumes gestaltet, darunter auch der Kreisverkehr am Lawei-Platz, wo täglich fast 18.000 Autos aufeinandertreffen: Die Zahl der Schilder wurde dort von 100 auf 4 reduziert. Seitdem kommt es an dieser Kreuzung zu weitaus weniger Unfällen; und obwohl die Autos langsamer fahren, können sie diese Kreuzung jetzt schneller passieren: die durchschnittliche Wartezeit konnte von 50 auf 20 Sekunden verkürzt werden. Das ergab eine Untersuchung der Hochschule in Leeuwaarden.

    Nou, Groningen, Amsterdam, Nijmegen, Zwolle...... Mehr als 100 Mal konnte Monderman sein Prinzip bereits realisieren. Auch im Ausland: Brandenburg sucht Kommunen für ein Pilotprojekt. Berlin und Hamburg sind interessiert. Und in London wurden an der Kensington High Street alle Ampeln und Schilder entfernt mit der Folge, dass die Zahl der Unfälle mit Fußgängern um 60 Prozent gesenkt werden konnte.

    Bislang kümmert sich der Verkehrsplaner noch um ein EU-Projekt, das er in den letzten Jahren geleitet hat und das sich nun seiner Vollendung nähert: "shared space" heißt es, benannt nach seinem Prinzip des geteilten Raums. Sieben europäische Städte machen mit: darunter das englische Ipswich, Oostende in Belgien, das dänische Ejby sowie die deutsche Gemeinde Bohmte.

    Dass er auf einmal soviel Erfolg hat, nachdem er sich anfangs jahrelang als verrückt hatte bezeichnen lassen müssen - das kann Monderman immer noch nicht fassen. Seine Frau sei natürlich furchtbar stolz auf ihn. Aber dass er selbst im Urlaub bei jeder Kreuzung sofort an seine Arbeit denkt, gehe ihr zuweilen ganz schön auf den Wecker. Das Wort "Verkehr" jedenfalls dürfe er zuhause nicht mehr in den Mund nehmen: