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Unterwegs zu den Geschichten

Gert Loschütz, 1949 in Genthin in der DDR geboren, kam 1957 in die Bundesrepublik. In den sechziger Jahren studierte er in Berlin Soziologie und Philosophie, war dann kurz Verlagslektor bei Luchterhand und lebt seit 1970 in der Nähe von Frankfurt. Er galt in den ersten Jahren seiner Autorschaft als streitbare Instanz, seine Hörspiele, Theaterstücke, Gedichte und Erzählungen sind als Kritik des ganz normalen bürgerlichen Wahnsinns gelesen worden, der sich um Achtundsechzig (und danach) verzweifelt gegen die längst fälligen sozialen und politischen Reformen zur Wehr setzte. Loschütz bezog Position, seine zu Satire und Groteske neigenden Texte ergriffen Partei. Nun, da diese Kämpfe historisch ausgestanden sind, ist es um Gert Loschütz ruhiger geworden.

Lutz Hagestedt |
    In seinem neuen Buch, "Unterwegs zu den Geschichten", erzählt Gert Loschütz von Stationen der eigenen Biographie. So scheint es. Denn `autobiographisch´ ist in erster Linie der Gestus dieser Prosa. Sie beginnt mit Kindheitslektüren ("Quer durchs Mistbeet"), erzählt von der früh geübten "Pose des Lesens", von Begleitern, "die mir wichtig sind" und die sich "räumlich zuordnen" lassen, von Büchern als biographischen Stationen.

    Das zweite Kapitel erzählt von nächtlichen Fahrten, von Fluchtbewegungen aus der Enge des Dorfes und der "Enge des Herzens". Es folgen Texte "Aus dem blauen Notizbuch": Da fährt der Ich-Erzähler in einem Doppelstockbus durch ein apokalyptisches Bild, erlebt - kurz vor Berlin - einen Sandsturm, der sprachlos macht und das "Gefühl einer ganz neuen Gefährdung" auslöst. Eine seltsam fremde, seltsam vertraute Welt.

    Unheimlich und leise rollt eine weitere Perle dieses Buches heran: Es ist die Zeit des Mai 1970 - eine bleierne Zeit in Berlin, nach der gewaltsamen Befreiung Andreas Baaders aus der Haft. Der Erzähler und seine Freundin kriegen Besuch. Die Wohnung haben sie nur bekommen, weil sie versprochen haben, zu heiraten, und jetzt beherbergen sie ausgerechnet Terroristen: "Eine der drei Frauen [...] kannten wir, wenn auch nur flüchtig. Sie war es, wegen der wir uns bereit erklärt hatten, auch die beiden anderen aufzunehmen. In diesen Tagen leuchtete ihr Gesicht von jeder Litfaßsäule, von jedem Post- und Bankschalter, ja, sogar noch an den Straßenbäumen hingen die Fahndungsplakate mit ihrem Madonnengesicht". Unschwer zu erkennen - diese Frau ist Ulrike Meinhof. Ihr galt die erste steckbriefliche Fahndung in Berlin nach 1945. Aber sie und ihre Begleiterinnen, darunter vermutlich Gudrun Ensslin, verhalten sich nicht so, als hätten sie Angst vor Entdeckung: Betrunken oder bekifft lärmen sie im Treppenhaus, eine von ihnen entblößt ihre Brüste vor dem Spion der Nachbarwohnung.

    Es sind protzige Gebärden verstörter Frauen. Besonders die Madonnengesichtige leidet: Mit ihren Artikeln hatte die Journalistin den beiden anderen "die Augen für die Ungerechtigkeit der Welt geöffnet [...]. Plötzlich war sie an die beiden gefesselt. Es war ein beinahe demütiger Ton, den sie ihnen gegenüber anschlug; sie unterwarf sich ihnen, [...] die jetzt wie ein Schatten an ihr klebten, darüber wachend, daß sie nicht wortbrüchig wurde."

    Mit wenigen Strichen hat Gert Loschütz die paranoide Situation eingefangen, in der die RAF bis zu ihrer Auflösung existieren wird. In einer stillen Komik der Verzweiflung erzählt er vom deutschen Terror und der schwersten innenpolitischen Krise nach ´45. Ein Blick zurück - und die Geschichte ist auch schon Geschichte, reiht sich ein, ohne einen besonderen Auftritt zu beanspruchen. Unmerklich wird etwas Vorgeschichte nachgereicht, die Flucht aus der DDR im April 1957, die Trennung der Eltern, beider Verschwinden, die zweite Ehe des Vaters mit einer paranoiden Frau, sein plötzlicher Herztod, die Zeit als Burgschreiber irgendwo im Südosten der `Beitrittsländer´:

    "Jedesmal, wenn ich weggehe, stecke ich das blaue Heft ein. Ich gehe die Treppe hinunter, klopfe an die Brusttasche, und wenn ich feststelle, daß ich es vergessen habe, kehre ich noch einmal um. Am Anfang sind es nur die Namen von Geschäften, die ich mir notiere, Namen, von denen ich glaube, daß es sie bald nicht mehr gibt. Ein Geschäft heißt, merkwürdig hausbacken, `Für ihren Bedarf´, und das Café an der Spree, zu dem ich manchmal mit dem Fahrrad fahre, `Familienzentrum´."

    Eine seltsam fremde, seltsam vertraute Welt. In der Prosa von Gert Loschütz blitzen die Namen, die bald schon vergessen sein werden, wie Signalwörter auf: Design Depot, Feierabendheim, Goldankauf - Bestpreise, Waschsalon Gisela. Eine Hemingway-Assoziation, eine Erinnerung an seinen ersten Roman "Fiesta" drängt sich auf. Sie ergibt sich aus der Signalkraft authentischer Namen und Sachen. Es sei jedoch ein Irrtum, betont Loschütz in einem theoretischen Exkurs über "Nähe" und "Abstand" beim Erzählen, daß die Literatur das Authentische beglaubigen könne.

    Gleichwohl ist es seine Strategie, die dargestellte Welt als Blickfeld des Autors, als Ausprägung seiner Person erscheinen zu lassen. Das Autobiographische ist hier Gestus und Postulat, nicht mehr und nicht weniger. Als bedeutsam erscheint allein "das richtige Verhältnis von Nähe und Abstand zum Erzählten". Zu große Nähe kann Kitsch, zu großer Abstand Sprödigkeit bedeuten. Gert Loschütz gelingt es, dieses "richtige Verhältnis" für jede Erzählung neu zu bestimmen. Auf aparte Weise orientiert er sich an Lebensbildern, Lebensstationen, die die eigenen sein könnten - des Autors wie des Lesers. Vertrauen zu und Vertrautheit mit diesem Schriftsteller und seinen Geschichten stellen sich ein.