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Schriftstellerin Gila Lustiger
"Heimat ist auch das Grundgesetz"

In einer Zeit, in der man nicht unbedingt in dem Ort lebt, an dem man geboren und aufgewachsen sei, müsse der Heimatbegriff neu verortet werden, sagte die Schriftstellerin Gila Lustiger im Deutschlandfunk. "Menschen schaffen die Strukturen des Zusammenlebens, die uns dann Heimat sind." Für sie sei auch das Grundgesetz eine Heimat.

Gila Lustiger im Gespräch mit Stephanie Rohde | 24.12.2016
    Gila Lustiger
    Die Schriftstellerin Gila Lustiger. (picture alliance/dpa - Karlheinz Schindler)
    Stephanie Rohde: Heute sind viele Menschen in Deutschland in ihrer Heimat. Das ist keine wirklich kühne Aussage an Weihnachten, also der Zeit im Jahr, wo viele heimkehren, um mit ihren Liebsten zusammen zu sein. Aber was ist diese Heimat? Lange war das einfach nur der Ort, an dem man aufgewachsen ist, so leicht ist das aber heute gar nicht mehr zu sagen. In Zeiten von Flüchtlingsbewegungen und von aufflammendem Nationalismus ist Heimat ja ein hoch politischer Begriff. Die einen lehnen ihn schlichtweg ab, andere schreiben Heimat sogar mit Y, um zu zeigen, dass sie verschiedene Heimaten haben, und wieder andere schreiben das Wort am liebsten in Sütterlin, um an andere Zeiten zu erinnern. Was bedeutet Heimat heute? Darüber möchte ich jetzt sprechen mit Gila Lustiger, sie ist Schriftstellerin, hat lange in Israel gelebt und ist jetzt in Paris zu Hause, wo wir sie erreichen. Guten Morgen, Frau Lustiger!
    Gila Lustiger: Guten Morgen!
    Rohde: Wo verbringen Sie Weihnachten? Ist das in Ihrer Heimat dann?
    Lustiger: Ich verbringe Weihnachten damit, dass ich schreibe. So könnte man vielleicht für mich mal sagen: Heimat ist die Sprache. Ich habe mehrere Heimaten, das Wort gibt es ja nicht im Plural, aber meine Mutter ist Israelin, ich bin in Frankfurt aufgewachsen, ich lebe seit 30 Jahren in Paris, aber ich denke, bei mir ist wie bei allen auch Heimat, der Heimatbegriff eben verbunden mit Erinnerung an meine Kindheit, an Orte, Gerüche, Erlebnisse. Und natürlich ist es bei mir, ich komme ins gewisse Alter, sehr nostalgisch.
    "Junge Menschen müssen, um sich eine Zukunft aufzubauen, ihre Heimat verlassen"
    Rohde: Das heißt aber, dass Heimat für Sie kein Ort in dem Sinne ist. Sie haben jetzt gesagt, es ist Sprache, es sind Erinnerungen.
    Lustiger: Es sind für mich ganz konkret, ist es auch die Sprache, ja. Es ist auch die Sprache.
    Rohde: Wenn wir jetzt auf die politische Ebene schauen, was Heimat ist: Also, kann das jeder für sich selber bestimmen oder kann das politisch auch bestimmt werden?
    Lustiger: Ich möchte ganz kurz mal auch darauf zu sprechen kommen, in was für Zeiten wir leben. Also, wir reden die ganze Zeit von den Flüchtlingen und von den Wirtschaftsmigranten, die zu uns nach Europa kommen und die ihre Heimat verlassen. Aber in Europa selbst heute gibt es viele Menschen, junge Menschen, die ihre Heimat verlassen müssen, ihre Länder verlassen müssen, in Spanien und in Griechenland zum Beispiel beträgt die Jugendarbeitslosigkeitsquote über 50 Prozent, in Frankreich sind es 20 Prozent, in Deutschland zehn Prozent. Junge Menschen müssen heute, um sich eine Zukunft aufzubauen, einfach ihre Heimat verlassen. Und ich habe vor Kurzem gelesen, dass jeder vierte Deutsche seinen Alterswohnsitz im Ausland haben will. Also, dass … Die deutschen Rentner ziehen nach Spanien und nach Frankreich. Das heißt, in einer Zeit, in der man nicht unbedingt in dem Ort lebt, in dem man geboren und aufgewachsen ist, muss man einfach den Heimatbegriff in, wie soll ich sagen, in der Gegenwart verorten und nicht mehr in der Vergangenheit.
    "Menschen schaffen Strukturen des Zusammenlebens, die uns dann Heimat ist"
    Rohde: Das heißt, das würde heißen, Heimat ist nicht da, wo ich herkomme, sondern da, wo ich gerade bin?
    Lustiger: Heimat ist das, was ich aus der … würde ich sagen … Ich bin, wie Sie ja gesagt haben, Jüdin und ich kann mit der Blut-und-Boden-Ideologie und mit dem Heimatbegriff, der eben da ankoppelt, sowieso nichts anfangen, und Heimat ist vielleicht für mich – und ich möchte Ihnen vielleicht kurz Hannah Arendt zitieren oder Bloch, da lehne ich mich an –, ist der Ort, in dem ich etwas schaffe. Und ich habe in meinem Essay "Erschütterung" einen Text von Hannah Arendt zitiert, den sie in den 50ern geschrieben hat, der Text heißt "Die Krise der Erziehung". Und da hat sie eine wirklich wunderbare Definition für Gesellschaft und in gewisser Weise auch für Heimat.
    Sie sagt da, dass die Welt von sterblichen Händen geschaffen ist, um Sterblichen für eine begrenzte Zeit als Heimat zu dienen. Und das bedeutet, dass eben Menschen die Strukturen des Zusammenlebens schaffen, die uns dann Heimat ist. Und Bloch sagt das ganz ähnlich, Bloch, der natürlich auch seine Heimat verlassen musste und die Erfahrung der Verfolgung gemacht hat, schreibt eben im amerikanischen Exil "Das Prinzip Hoffnung". Und da sagt er, dass Heimat etwas ist, was wir alle in der … ich habe das jetzt nicht im Wortlaut, aber was wir alle in der Vergangenheit, in der Kindheit wähnen, aber Heimat eben der Ort ist, an dem wir ankommen, wenn wir Demokratie schaffen.
    "Was mache ich, damit wir alle zusammen leben können?"
    Rohde: Sie haben jetzt gerade zwei Philosophen zitiert, wir erleben aber auch, dass dieser Begriff Heimat eine politische Renaissance auf der rechten Seite erfährt. Also, in Sachsen zum Beispiel, wenn wir es ganz konkret machen, demonstriert die Initiative Heimatschutz gegen die sogenannte Überfremdung durch Flüchtlinge. Kann Heimat möglicherweise auch funktionieren als Abgrenzung, also das sein, der Ort sein, wo die anderen nicht sind?
    Lustiger: Ja, natürlich. Natürlich verstehe ich auch Menschen, die in diesen globalisierten Zeiten Angst haben vor Veränderung. Aber Veränderung ist nun mal unvermeidbar und daher darf man eben diesen Heimatbegriff nicht irgendwie daran koppeln, sondern muss eben versuchen, sich zu sagen: Was mache ich, damit wir alle zusammen leben können, wie entsteht etwas, wie entsteht ein Raum, in dem wir alle zusammen leben können?
    "Heimat ist auch zum Beispiel für mich das Grundgesetz"
    Rohde: Also wäre das vielleicht so was wie das Internet, um jetzt mal einen Sprung zu machen? Es gibt ja inzwischen viele Leute, die das Internet als ihre Heimat bezeichnen, die sich dann online zu Hause fühlen. Wäre das etwas, was Ihnen vorschwebt?
    Lustiger: Mir ganz konkret, ich würde sagen, Heimat ist auch zum Beispiel für mich das Grundgesetz.
    Rohde: Inwiefern?
    Lustiger: Das hört sich zwar sehr abstrakt an, aber das Grundgesetz, das wurde am 23. Mai '49 erlassen und trat einen Tag später in Kraft, das heißt nach zwei Weltkriegen. Und das ist unser Rückgrat, das ist unsere Art, wie wir versuchen, miteinander zu leben in einem öffentlichen Raum. Und in diesem Grundgesetz gibt es zum Beispiel auch den Artikel drei und wenn Sie wollen, kann ich Ihnen den vorlesen, das ist auch Teil unserer Heimat oder unseres Verständnisses, wer wir sind, und dieser Artikel drei, da steht ganz konkret – das haben wir erlassen und uns so ausgedacht –, steht drin, dass niemand wegen seines Geschlechts, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Heimat und Herkunft und seines Glaubens oder seiner religiösen und politischen Anschauung benachteiligt oder bevorzugt werden darf.
    Und das gilt natürlich für die, die hier geboren sind, wie eben für die Fremden oder Hinzugekommenen. Sie müssen sich eben alle rechtmäßig verhalten. Und das ist vielleicht auch eine Möglichkeit, in der wir alle unsere Heimat hier schaffen, indem wir einfach nicht denken, wo kommen wir her, sondern was machen wir ganz konkret und wie, was machen wir für diese Heimat und was machen wir, damit wir in dieser Heimat leben können?
    Rohde: Sagt Gila Lustiger, die Schriftstellerin, die in Paris lebt. Vielen Dank für das Gespräch!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.