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Historiker Philipp Blom
"Zeit für eine neue europäische Gemeinschaft"

Die EU müsse weitermachen - aber ganz anders, sagte der Historiker Philipp Blom im DLF. Das erfordere unter anderem ein ganz anderes Wirtschaftsmodell und eine neue Organisationsform. Der Sieg von Populisten wie Marine Le Pen könne das Ende der EU bedeuten.

Philipp Blom im Gespräch mit Christine Heuer | 20.03.2017
    Der Historiker Philipp Blom aufgenommen im Oktober 2016, auf der 68. Frankfurter Buchmesse, in Frankfurt/Main (Hessen).
    Philipp Blom: "Populisten und Nationalisten könnten unsere Demokratie zerstören". (dpa / picture-alliance / Arno Burgi)
    Christine Heuer: Diese Woche werden die Römischen Verträge – sie waren der erste Gründungsakt der europäischen Gemeinschaft – 60 Jahre alt. Aber der EU ist nicht so recht zum Feiern. Die Union ist schlecht aufgestellt, Populisten in Europa und dem Rest der Welt machen ihr zu schaffen, der Brexit natürlich sowieso und auch die große Uneinigkeit in Zielen, Maßnahmen und dem Tempo, in dem sie dann vielleicht einmal umgesetzt werden sollen. Die Flüchtlingspolitik ist nur ein prominentes Beispiel für den Streit, der bald nur noch 27 Mitgliedsstaaten untereinander.
    Geht die Krise auch wieder vorbei, oder ist die EU, ist der europäische Gedanke ernsthaft in Gefahr? Darüber möchte ich jetzt mit dem Historiker und Schriftsteller Philipp Blom sprechen. Zu seinen bekanntesten Büchern zählen "Der taumelnde Kontinent – Europa 1900 bis 1914" und "Die zerrissenen Jahre – 1918 bis 1938", Bücher also über die Vor- und Nachkriegszeit - da sprechen wir über den Ersten Weltkrieg in Deutschland und Europa – und auch über Parallelen, die man vielleicht zur Gegenwart ziehen kann. Guten Morgen, Herr Blom.
    Philipp Blom: Guten Morgen, Frau Heuer.
    Heuer: Die EU steckt in der Krise. Hat sich die europäische Idee überlebt?
    Blom: Ich glaube nicht, dass sie sich überlebt hat. Aber vielleicht hat sich ihre Organisationsform im Moment überlebt. Die war sicherlich richtig in der Nachkriegszeit. In der Nachkriegszeit wollten wenige Franzosen, Deutsche oder Engländer eine Montanunion haben, aber das war ein ausgesprochen weitsichtiger Gedanke, das zu tun, und das war vielleicht auch nur möglich, das als Staatenbund zu machen. Aber vielleicht hat sich dieser Staatenbund in dieser Form tatsächlich ein bisschen überlebt.
    "Der europäische Gedanke hat sich nicht überlebt"
    Heuer: Das heißt, die EU hat sich überlebt?
    Blom: Ja! Der europäische Gedanke hat sich nicht überlebt. Der europäische Gedanke ist so wichtig wie eh und je. All diese großen Themen, die Sie angesprochen haben, und noch mehr, ob es um globale Finanzmärkte oder um Klimawandel oder um Terrorismus geht, sind nicht im nationalen Kontext zu lösen, und auch ein mächtiger Staat wie Deutschland oder Frankreich kann gegen Klimawandel allein nichts tun. Der europäische Gedanke, auch vielleicht als eine tatsächlich historische Gemeinschaft mit gemeinschaftlichen Traumata, hat sich sicherlich nicht überlebt.
    "Die EU ist nicht das Monster, als das sie immer dargestellt wird"
    Heuer: Aber wie kann man den, Herr Blom, transportieren ohne die EU?
    Blom: Vielleicht ist es irgendwann mal Zeit für eine neue europäische Gemeinschaft, die dann tatsächlich ein Völkerbund ist und nicht ein Staatenbund. Das heißt, wo die Menschen in einer europäischen Demokratie direkt ein Parlament wählen und eine Regierung und nicht wie jetzt über Länderparteien. Wir wählen dann in Deutschland für deutsche Parteien, die sich dann in Brüssel mit den äquivalenten europäischen Parteien zusammentun und über lange Verhandlungen zu einer ganz anderen Programmplattform kommen, als das die Parteien in den Ursprungsländern eigentlich vorgeschlagen hatten. Und das sind natürlich Sachen, die sind wirklich nicht sehr demokratisch.
    Die EU ist nicht das Monster, als das es immer dargestellt wird. In der EU wird sehr viel gute Arbeit geleistet. Aber sie hat deutlich ein Kommunikationsdefizit und vielleicht hat sie auch ein Demokratiedefizit, und ich glaube, wenn man den europäischen Gedanken erhalten will, dann ist es ganz wichtig, auf diese Defizite einzugehen und sie zu beseitigen.
    Heuer: Wie macht man das? Zum Beispiel, wenn ich Ihnen zuhöre, wie beteiligt man die Bürger stärker an Europa?
    Blom: Na ja. Erst mal muss man sich daran erinnern, dass man selber ein Bürger ist oder eine Bürgerin und dass die Bürgerbeteiligung bei einem selbst anfängt. Und wissen Sie, dann gibt es Initiativen und Demonstrationen und das ganze Repertoire der Zivilgesellschaft, die so etwas tun kann. Aber ich glaube, man darf sich auch keine Illusionen machen. Es wird nicht gelingen, alle Menschen davon zu überzeugen, und viele Menschen finden, sie haben andere Probleme und die da in Brüssel wissen sowieso nicht, worum es ihnen geht, und das sind abgehobene Bürokraten. Es ist ganz interessant: Ich lebe in Wien und die sogenannte Brüsseler Demokratie hat weniger Angestellte als die Wiener Stadtregierung. Vielleicht ist das doch nicht so ein bürokratischer Moloch, wie er immer dargestellt wird.
    "Nationalisten und Populisten können unsere Demokratien kaputtmachen"
    Heuer: Aber trotzdem ist das ja genau die Klaviatur, auf der Nationalisten und Populisten in Europa gerade ziemlich erfolgreich spielen. Können die die europäische Idee wirklich kaputt machen?
    Blom: Natürlich können sie das. Ja! Sie können auch – und da dürfen wir uns keine Illusionen machen – unsere Demokratien kaputtmachen. Es ist durchaus möglich, dass nicht nur Ungarn und Polen in die Richtung von autoritären Staaten gleiten, sondern dass das auch westeuropäische Länder tun. Es ist durchaus möglich, dass Marine Le Pen in Frankreich gewinnt und sich in Frankreich nicht nur die Atmosphäre ändert, sondern dass damit auch de facto die EU zu Ende ist. Ich meine, wir haben jetzt gerade erlebt, wie Geert Wilders nicht gewählt wurde, wir haben erlebt, wie Norbert Hofer nicht gewählt wurde, und es ging jeweils ein großer Seufzer der Erleichterung durch Europa. Aber ich glaube, man darf nicht verkennen, das ist kein Problem, was an einigen Persönlichkeiten hängt; das ist ein strukturelles Problem der Politik, von der sich Menschen nicht mehr repräsentiert fühlen und die dann tatsächlich darauf reagieren und etwas wollen – und das gab ja auch das Argument beim Brexit, was eigentlich bei vielen der Interviews mit Wählerinnen und Wählern immer wieder kam -, und das war, something’s got a change, irgendwas muss sich ändern.
    "Demokratie funktioniert nur, wenn genug Menschen daran glauben"
    Heuer: Aber warum muss sich eigentlich überhaupt etwas ändern, Herr Blom? So schlecht geht es den Menschen in Europa, den meisten Menschen jedenfalls, doch gar nicht.
    Blom: Wissen Sie, ich glaube, das ist etwas, das ist ein längeres Gespräch wert. Aber das ist richtig erst mal: Wir sehen im Moment, dass Demokratie zwar sicherlich einen gewissen Wohlstand nötig hat, um Stabilität zu gewährleisten, aber, dass das augenscheinlich nicht genug ist. Denn die Menschen heute sind als Gesellschaften im Durchschnitt – ich weiß schon, dass das nicht überall so ist – reicher als je zuvor. Aber trotzdem fühlen sie, dass ihnen die Felle wegschwimmen, dass ihre Welt zerbröselt vor ihren Augen, und damit haben sie auch nicht so Unrecht. Wissen Sie, die Demokratie funktioniert nur, wenn genug Menschen daran glauben.
    "Nicht sagen: Populismus kommt aus der Dummheit der Massen"
    Heuer: Warum glauben die Menschen daran nicht mehr? Liegt das an der Globalisierung?
    Blom: Das liegt zum Teil an der Globalisierung, aber das liegt zum Beispiel auch an der Digitalisierung. Mit anderen Worten: Maschinen nehmen immer mehr Jobs. Und das alte Versprechen der Demokratie, Deinen Kindern wird’s mal besser gehen als Dir und wenn Du hart arbeitest, dann kannst auch Du das kleine Reihenhäuschen schaffen und Dein Auto vor der Tür haben und so, das ist nicht mehr wahr und das wissen Leute, das spüren Leute. Und sie spüren vielleicht auch, dass Politiker gar nicht mehr die Macht zu haben scheinen, auch wenn sie das Richtige wollen, dieses Richtige durchzusetzen, und das macht sie misstrauisch und das macht sie auch verzweifelt und dann schlagen sie ein bisschen um sich und suchen nach anderen Möglichkeiten. Ich glaube, das ist eine sehr problematische Reaktion, aber es ist auch eine sehr verständliche Reaktion, und ich glaube, es ist wichtig, dass man nicht sagt, Populismus kommt einfach aus der Dummheit der Massen, sondern es kommt vielleicht auch daher, dass unsere Gesellschaften strukturelle Probleme haben, die sie im Moment nicht auflösen können. Wir wissen noch nicht, wie wir damit umgehen, dass immer weniger Menschen Arbeit finden, und das wird sich in Zukunft fortsetzen, dass weniger Menschen Arbeit finden. Und dann gibt es so etwas wie die Migration, die globale Migration, die eingesetzt hat, was auch zum Beispiel eine Folge des Klimawandels ist und dadurch auch verstärkt werden wird, und darauf haben wir auch noch keine gute Antwort gefunden. Wir wissen nicht, wie wir damit umgehen können.
    "Das wird sicherlich ein neues Wirtschaftsmodell erfordern"
    Heuer: Das sind Probleme, die uns lange beschäftigen werden. Bislang haben wir die politische Struktur der Europäischen Union und die europäische Idee, den europäischen Gedanken, der ja für Frieden, Demokratie, Menschenrechte und Wohlstand steht. Vielleicht ist es das schlechteste Mittel, aber das einzige, das wir haben. Ich möchte zum Schluss fragen, Herr Blom: Was droht uns, wenn das wegfällt? Droht uns dann Krieg, Willkür und Armut?
    Blom: Wissen Sie, ich glaube, in den letzten zwei Jahren haben gebildete, kluge, faktenbewährte Menschen so oft gesagt, ach, das kann nie passieren. Das ist ein Satz, den wir erst mal in Karenz schicken sollten. Wir haben inzwischen begriffen, alles Mögliche kann passieren, was niemand für möglich gehalten hätte, und vielleicht ist es klug, mit diesem Gedanken weiterzugehen, nämlich dass auch Dinge, die bis jetzt unvorstellbar waren, passieren könnten, aber nicht passieren müssen, wenn wir entschieden genug als Demokratien darauf reagieren, wenn wir es wieder schaffen, Menschen zu involvieren – und das wird sicherlich auch ein anderes Wirtschaftsmodell erfordern -, und das sind sehr große Fragen. Aber ich glaube, wir sind einfach an einem Moment in der Geschichte, in der sehr große Fragen gestellt werden müssen, weil sich ein enormer Strukturwandel abzeichnet und vollzieht, und darauf haben unsere Gesellschaften noch nicht wirklich eine Antwort gefunden und es gibt dann auch so eine fatale Verbraucher-Attitüde, die sagt, nee, da habe ich im Moment keinen Bock drauf, lass mal. Das Problem ist, davon ist Geschichte sehr unbeeindruckt, ob man da gerade Bock drauf hat. Das passiert trotzdem. Und ich glaube, da müssen wir als Gesellschaften sehr hart gemeinsam darüber nachdenken, zum Beispiel, wäre es nicht mal wunderbar, wenn eine Politikerin, ein Politiker kommen würde und sagen würde, wer wollen wir eigentlich in 30 Jahren sein, in was für einem Land wollen wir dann leben und was für realistische Pfade gibt es, dahin zu kommen.
    "Weitermachen, aber ganz anders"
    Heuer: Also weitermachen, aber anders?
    Blom: Weitermachen, aber ganz anders und mit mehr Energie, mit mehr Überzeugung. Denn die Risiken und das, was auf dem Spiel steht, ist im Moment wahnsinnig groß.
    Heuer: Der Historiker und Schriftsteller Philipp Blom. Haben Sie vielen Dank für das Gespräch.
    Blom: Danke Ihnen, Frau Heuer.
    Heuer: Schönen Tag.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.