Dienstag, 19. März 2024

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Studie zu Corona-Risikobewusstsein
"Gruppe der Unbesorgten groß genug, um Probleme zu verursachen"

Die meisten Deutschen überschätzen nach einer aktuellen DIW-Studie das Risiko einer COVID-19-Erkrankung. Dennoch gebe es Gruppen, die glaubten, sie hätten kaum ein Risiko, sagte einer der Studienautoren Gert G. Wagner Dlf. Die Politik sei hier gefordert, diese Menschen besser zu erreichen.

Gert G. Wagner im Gespräch mit Ralf Krauter | 12.08.2020
Ein Mann in Schutzkleidung nimmt eine Speichelprobe von einer Frau im Corona-Testcenter für Reiserückkehrer am Flughafen Stuttgart
Von den bis zu 29-Jährigen sind laut SOEP-CoV-Studie etwa 16 Prozent überzeugt, dass sie ein Nullrisiko haben, mit COVID-19 zu erkranken (imago / Lichtgut)
Welche Vorstellung haben Deutsche davon, wie hoch ihr individuelles Risiko einer COVID-19-Erkrankung ist? Dieser Frage ist das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin (DIW) in der Längsschnittstudie "Sozio-ökonomische Faktoren und Folgen der Verbreitung des Coronavirus in Deutschland" (SOEP-CoV) nachgegangen.
Ein Ergebnis: Die Deutschen überschätzen das Risiko einer Erkrankung mit COVID-19, berücksichtigen aber individuelle Risikofaktoren. Die meisten Menschen in Deutschland seien sich bewusst, dass Faktoren wie beispielsweise Alter, Vorerkrankungen und der Beruf einen starken Einfluss auf ihr individuelles Risiko haben, lebensbedrohlich an COVID-19 zu erkranken.
Ein Patient liegt während seines Aufenthalt im Krankenhaus Großhadern in einem Intensivzimmer an einem Beatmungsgerät und einem Dialysegerät.  
Intensivmediziner: "Es ist wichtig, dass wir die ältere Bevölkerung schützen"
Von den Patienten, die wegen eines schweren Verlaufs von COVID-19 in einer Klinik beatmet werden mussten, haben nur knapp 50 Prozent überlebt. Der Hauptrisikofaktor dabei ist das Alter.
Obwohl viele ihr Erkrankungsrisiko also überschätzten, gebe es auch Gruppen, die von einem Nullrisiko oder einem sehr geringen Risiko, mit COVID-19 zu erkranken, ausgingen, sagte Gert G. Wagner, Wirtschaftswissenschaftler und Mitautor der SOEP-CoV-Studie im Deutschlandfunk. Dazu gehörten den Ergebnissen zufolge viele jüngere Menschen. Die Politik müsse sich auf diese Gruppen konzentrieren.

Das Interview in voller Länge:
Ralf Krauter: Wie haben sie erfasst, wie Menschen die Gefahr durch Corona einschätzen?
Gert Wagner: Wir haben einfach danach gefragt, was sie glauben, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass sie lebensbedrohlich erkranken. Das haben wir gemacht in einer großen repräsentativen Erhebung, die in Westdeutschland schon seit 1984 läuft, dem Sozio-ökonomischen Panel (SOEP). Das sind durchaus befragungserfahrene Personen, die auch mit einer derart schwierigen Frage gut zurechtgekommen sind. Nur zwei Prozent haben gesagt, weiß ich nicht, kann ich keine Antwort geben, alle anderen haben eine Zahl genannt.
Krauter: Wie hoch war diese Zahl, also was glauben die Menschen, wie groß ist ihr persönliches Risiko, lebensbedrohlich an COVID-19 zu erkranken?
Wagner: Im Durchschnitt ist das weit höher, was angegeben wird, als es nach allem, was wir wissen, tatsächlich der Fall ist. Im Durchschnitt sind das etwa 25 Prozent, die angegeben werden, tatsächlich ist es wahrscheinlich bei unter einem Prozent. Und das ist schon gewissermaßen die Obergrenze, die man ausrechnen kann. Allerdings wird der Mittelwert ja stark beeinflusst durch sehr große Werte, die angegeben werden. Das sind zwar nur ein paar Prozent, die mehr als 50 Prozent angeben, aber das schlägt dann durch.
Guckt man sich den sogenannten Median an, das ist die Prozentzahl, die die untere Hälfte von der oberen Hälfte der Antworten trennt, dann liegt der bei 20 Prozent Wahrscheinlichkeit. Das heißt, die Hälfte der Befragten glaubt, dass ihr Risiko maximal 20 Prozent beträgt, und die andere Hälfte glaubt, dass es darüber liegt. Also 20 Prozent ist dann schon etwas realistischer als die 25 Prozent des Mittelwerts.
Grafik zeigt Einschätzung der Wahrscheinlichkeit von lebensbedrohlicher COVID-19-Erkrankung
Einschätzung der Wahrscheinlichkeit von lebensbedrohlicher COVID-19-Erkrankung – Zeitraum 1. April bis 5. Juli 2020 (Deutschlandradio / Andrea Kampmann)
Typisch für neue Risiken: Sie werden "krass überschätzt"
Krauter: Ich habe vor unserem Gespräch noch mal auf die Webseite des Robert-Koch-Instituts geschaut, die aktuelle Zahl dort ist bei etwa fünf Prozent der positiv Getesteten auf das neue Coronavirus (Stand: 12.08.2020). Tritt ein kritischer Verlauf ein, der eine Intensivbehandlung dann mit Beatmung erforderlich macht, da ist aber, wenn man die Dunkelziffer noch einrechnet, Faktor 10, also wahrscheinlich betrifft das maximal ein Prozent der Deutschen letztlich, dieser möglich lebensbedrohliche Verlauf.
Wagner: Ja, das haben Sie sehr gut ausgerechnet. Die, die zur Dunkelziffer gehören, die sind ja definitionsgemäß nicht lebensbedrohlich erkrankt, die wissen ja noch nicht mal, dass sie infiziert sind. Wenn man annimmt, dass alle, die getestet wurden und infiziert sind, sich als lebensbedrohlich erkrankt fühlen – das ist ja auch schon wirklich die Obergrenze, weil die meisten von denen sind wiederum ja auch nicht schwer krank, sondern zum Teil sogar symptomlos –, dann kommt man eben auf weniger als ein Prozent, die wahrscheinlich bis Anfang nächsten Jahres – das war der Bezugszeitrahmen, nach dem wir gefragt haben – sich lebensbedrohlich erkrankt fühlen könnten.
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Krauter: Das heißt also, die Risikowarnung in der Bevölkerung ist um einen Faktor 20 Pi mal Daumen höher als das tatsächliche Risiko?
Wagner: Ja, das ist aber bei neuen Risiken, die auch sehr selten sind, typisch. Das gilt beispielsweise auch für die Risikowahrnehmung, dass man durch einen Flugzeugabsturz, wenn man fliegt, stirbt, das wird auch krass überschätzt. Wichtiger ist, dass die Leute das relative Risiko, was von ihren persönlichen Merkmalen abhängt, recht gut einschätzen.
Wer Vorerkrankungen hat, ist davon überzeugt, dass er eher lebensbedrohlich erkrankt. Und mit dem Lebensalter nimmt das auch zu. Daran sollte die Politik anknüpfen, das hat sie ja auch getan. Und nach unserer Einschätzung sollte noch systematischer auf die individuellen Unterschiede eingegangen werden, wenn es jetzt darum geht, über Monate, vielleicht ja sogar über ein, zwei Jahre hinweg die Leute dazu zu bringen, dass sie sich vorsichtig verhalten.
"Wir überschätzen das Risiko - dadurch verhalten wir uns vernünftig"
Krauter: Das heißt, um das noch mal zusammenzufassen, das absolute Risiko schätzen die Menschen also tendenziell deutlich zu hoch ein, aber ihr persönliches Risiko im Verhältnis, das bewerten die meisten dann schon eher richtig. Also Jüngere, Gesunde zum Beispiel machen sich weniger Sorgen als Ältere dann vermutlich.
Wagner: Ganz genau. Das kann man ja auch, wenn man jetzt auf die Straßen guckt und am Wochenende in die Gaststätten und Kneipen und auf die Wiesen schaut, gut erkennen. In dem Zusammenhang ist es wichtig, wie groß der Anteil derer ist, die davon überzeugt sind, dass sie überhaupt kein Risiko haben, nach Altersklassen.
Wir haben da andere Erhebungen, die wir gerade auswerten, das sind die sogenannten COMPASS-Daten von Infratest dimap, da habe ich eben gerade mal nachgeguckt: Von den bis zu 29-Jährigen sind etwa 16 Prozent überzeugt, dass sie ein Nullrisiko haben. Dieser Anteil ist bei den 70-Jährigen und Älteren nur bei 10 Prozent. Und wenn man dann noch die dazu nimmt, die glauben, dass ihr Risiko maximal fünf Prozent beträgt, dann ist man bei den Jüngeren fast bei einem Drittel, die von einem sehr, sehr niedrigen Risiko ausgehen.
Und genau dieses Verhalten können wir auch beobachten. Ein Drittel der Jüngeren reicht ja schon aus, um dann sehr viele Leute in den Kneipen und Gaststätten und auf der grünen Wiese zu sehen. Auch hier könnte die Politik vielleicht differenzierter argumentieren und versuchen, genau dieses eine Drittel besser zu erreichen, als das bislang der Fall ist. Aber es ist auch wie gesagt nur ein Drittel, es ist keineswegs die Mehrheit der Jüngeren, die glaubt, sie hätte nur ein minimales Risiko.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Krauter: Jetzt argumentieren Risikoforscher immer wieder gerne, dass die meisten Menschen tendenziell vor den falschen Dingen Angst haben. Wir fürchten uns zum Beispiel vor Terroranschlägen, obwohl die Chance, bei einem Autounfall ums Leben zu kommen, ja um den Faktor 1.000 oder mehr höher ist. Was verrät denn Ihre Analyse jetzt über die Risikokompetenz der Deutschen bezüglich der Corona-Pandemie?
Wagner: Ja, dass wir dasselbe Problem haben mit einem Risiko, was sehr, sehr selten ist, aber wenn es eintritt, eben gravierende Folgen haben kann. Im Durchschnitt überschätzen wir eben dieses Risiko. Das ist aber wahrscheinlich im Hinblick auf Corona gar nicht falsch, dadurch verhalten wir uns vernünftiger, denn Vernunft ist ja gefragt.
"Die Gruppe der Unbesorgten groß genug, um Probleme zu verursachen"
Krauter: Für die Akzeptanz von Maßnahmen zum Infektionsschutz ist das wahrscheinlich durchaus förderlich, diese Fehleinschätzung, weil die Menschen dann eben eher bereit sind, zum Beispiel im öffentlichen Raum Mund-Nasen-Schutz zu tragen. Sollte sich der Gesundheitsminister also einfach über diese Fehleinschätzung des Risikos freuen, oder was raten Sie der Regierung?
Wagner: Freuen sollte er sich nicht, er muss es aber allerdings auch nicht bedauern. Wir sind fest davon überzeugt, es wäre wichtiger, dass die Gesundheitspolitik und die Politik im Allgemeinen sich auf die Gruppen konzentriert, die glaubt, sie hätte überhaupt kein Risiko oder ein sehr geringes. Bei den Jüngeren liegt diese Gruppe bei fast einem Drittel, aber auch bei den Älteren sind es mehr als 20 Prozent, die davon überzeugt sind, dass es sie nicht treffen wird oder nur mit einer minimalen Wahrscheinlichkeit treffen wird. Diese Gruppe der gewissermaßen Unbesorgten ist groß genug, um Probleme zu verursachen, und auf diese sollte die Politik sich konzentrieren.
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Krauter: Abschließende Frage: Sie haben ja Daten von Anfang April bis Ende Juni untersucht – wie hat sich die Risikowahrnehmung in diesem Zeitraum verändert?
Wagner: Sie war am Anfang höher als am Ende. Am Anfang lag die durchschnittliche Zahl, die für den gesamten Zeitraum ja bei ungefähr 25 Prozent liegt, bei knapp 30 Prozent, am Ende liegt sie unter 24 Prozent. Wir wissen aus dem COMPASS-Daten von Infratest dimap, dass das auch auf diesem Niveau nach dem 5. Juli verblieben ist.
Grafik zeigt Mittelwerte der Risikoeinschätzung von lebensbedrohlicher COVID-19-Erkrankung
Mittelwerte der Risikoeinschätzung von lebensbedrohlicher COVID-19-Erkrankung – Zeitraum 1. April bis 5. Juli 2020 (Deutschlandradio / Andrea Kampmann)
Krauter: Das heißt aber auch, die Vorsicht nimmt allmählich ab, das zeigen Ihre Daten schon auch?
Wagner: Nein, sie nimmt nicht mehr ab, sondern auf diesem etwas niedrigeren Niveau als zu Beginn der Pandemie ist das mehr oder weniger stabil geblieben.
Krauter: Und das wäre eine gute Nachricht aus Ihrer Sicht?
Wagner: Das ist, da bin ich fest von überzeugt, eine gute Nachricht. Allerdings nimmt der Anteil der Unbesorgten auch nicht ab, und um den müssen wir uns kümmern.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.