26. Juni 2023
Die internationale Presseschau

Der Aufstand in Russland, initiiert vom Anführer der Wagner-Söldnertruppen Prigoschin, beschäftigt Medien weltweit. Russische Zeitungen halten sich mit Kommentaren weitgehend zurück. Das Online-Magazin MOSCOW TIMES schreibt:

Silhouettenartige Ansicht der Kremltürme vor einem Abendhimmel.
Götterdämmerung im Kreml? Der Putschversuch könnte vielschichtige Auswirkungen haben, beschreiben die Kommentare weltweit. (AFP / Natalia Kolesnikova)
"Unabhängig vom Ausgang der Rebellion wird der Kreml keine andere Wahl haben, als zuzugeben, dass er die Kontrolle über die Situation verloren hat. Während Panzer durch die Straßen Russlands rollen, Städte abgeriegelt werden und Putin vor der Nation über einen versuchten Staatsstreich spricht, darf nicht vergessen werden, dass die russische Regierung bisher die Ansicht vertrat, alles sei unter Kontrolle. Nach dem heutigen Tag kann sie dieses Kartenhaus nicht mehr aufrechterhalten. Das ist eine Katastrophe für die Öffentlichkeitsarbeit des Kremls, die sowohl die nationale Stabilität als auch die Kriegsanstrengungen gefährdet", stellt MOSCOW TIMES fest.
Der italienische CORRIERE DELLA SERA aus Rom wundert sich: "Die russischen Staatsnachrichten sind zu den üblichen Meldungen zurückgekehrt, am Morgen danach gibt es Kochsendungen. Was von Wagners Marsch auf Moskau wirklich übrig geblieben ist, kann man mit bloßem Auge nicht sehen, aber man kann es spüren. Trotz seiner Kürze hat der Aufstand die Verwundbarkeit des Machtsystems von Putin gezeigt, indem er den Kern seiner Stärke getroffen hat."
NEPSZAVA aus der ungarischen Hauptstadt Budapest fasst die Ereignisse noch einmal zusammen: "Ein paar tausend Söldner besetzten kampflos Rostow am Don, den Sitz des Oberkommandos, das unmittelbar den Krieg (in der Ukraine) lenkt. Die Garnison, die Nationalgarde, die Polizei und wer sonst noch infrage gekommen wäre - keiner leistete Widerstand. Das lässt darauf schließen, dass Prigoschin über Unterstützung in den Streitkräften verfügte, auch wenn keine kompletten Einheiten zu ihm überliefen, wie er es sich wohl erhofft hatte."
"Der Zar ist nackt. Prigoschin hat das Image Putins zerstört", titelt die polnische GAZETA WYBORCZA und führt aus: "Die Bilanz des kurzen bewaffneten Aufstands ist für Putin katastrophal. Der russische Präsident hat der Welt eine schockierende Schwäche gezeigt – als Politiker, professioneller Geheimdienstagent und Oberbefehlshaber ist er diskreditiert. Anstatt mit Prigoschin, seinem ehemaligen Schützling, selbst zu sprechen, übertrug Putin die Rolle des Verhandlungsführers dem Oberhaupt eines anderen Staates, Lukaschenko, und floh aus Moskau, wahrscheinlich in seinen schwer bewachten Palastbunker am Waldai-See in der Region Nowgorod. (...) Die Wagnerianer marschierten in perfekter Ordnung und unter der Deckung ihrer eigenen Flugabwehr in Richtung Hauptstadt. Und Putin, der behauptete, den ‚besten‘ Geheimdienst der Welt zu haben, hat dies entweder übersehen oder heruntergespielt", zeigt sich GAZETA WYBORCZA aus Warschau überzeugt.
Die belgische Zeitung DE TIJD versucht eine Herleitung, wie es zu dem Aufstand gekommen sein könnte: "Prigoschin verschaffte sich mit seiner unverblümten Kritik eine Anhängerschaft, insbesondere unter russischen Nationalisten und Extremisten. Wichtig war auch, dass er sich immer wieder an der Front in der Ukraine filmen ließ, wo er mit seinen Männern unter Beschuss stand. Damit unterschied er sich deutlich von den 'Sesselgenerälen', die von weit hinter der Front aus Soldaten in den sicheren Tod schicken. (...) In den kommenden Tagen wird sich zeigen, wie groß der Schaden ist. Mit besonderer Spannung wird das Schicksal von Verteidigungsminister Schoigu und Generalstabschef Gerassimow beobachtet, die sich übrigens am Samstag nicht gezeigt haben. Werden sie die Rebellion überleben oder wird Putin sie opfern?" Diese Frage wirft DE TIJD aus Brüssel auf.
DE VOLKSKRANT aus den Niederlanden ist der Ansicht: "Man kann davon ausgehen, dass Putin die Repressionen in Russland verschärfen wird, weil er eine Neuauflage der Revolte von Prigoschin befürchtet. Er weiß, dass Revolutionen in Russland manchmal erst im zweiten Anlauf gelingen. Und sein wichtigstes Versprechen an das russische Volk lautet seit 23 Jahren: keine Revolution."
"Putins Herrschaft über das Land war noch nie so bedroht wie heute", ist THE GUARDIAN aus London überzeugt. "In den vergangenen 18 Monaten hat er zwei schwere Rückschläge einstecken müssen, die er selbst verursacht hat: den gescheiterten Versuch, Kiew einzunehmen und die Ukraine zu unterwerfen, und nun die Rebellion seines Schützlings mit Kräften, die Putin selbst in die Lage dazu versetzt hatte. Die Unsicherheit und die Demütigung könnten ihn noch gefährlicher machen. Prigoschins Aufstand scheint zwar beendet zu sein, aber die Folgen davon beginnen sich gerade erst zu entfalten." Das ist die Ansicht des britischen GUARDIAN.
LIBERATION erscheint in der französischen Hauptstadt Paris und prognostiziert den Anfang einer Reihe von Aufständen: "Die Ereignisse des 24. Juni könnten sich wiederholen. Clans, Fraktionen oder Privatarmeen... Wer von Putins inneren Dämonen wird als nächstes auf Moskau marschieren?"
Die aserbaidschanische Zeitung MÜSAVAT sieht Putin ebenfalls in einer schwierigen Lage: "Es gibt absolut keine Garantie dafür, dass es in naher Zukunft nicht zu einem weiteren Militärputsch kommt. Auf jeden Fall hat die militärische Opposition bereits begonnen, sich zu organisieren. Und das Verhalten der russischen Elite während des Aufstands macht deutlich, dass eine echte Bedrohung für den Kreml-Herrscher Putin besteht. Unter diesen Gesichtspunkten kann davon ausgegangen werden, dass 'Batka', wie Putin abschätzig den belarussischen Präsidenten Lukaschenko nennt, den Kreml am Haken hat. Jetzt schuldet Putin 'Batka' etwas und sollte auf seine Launen vorbereitet sein", beurteilt MÜSAVAT aus Baku die Lage.
Die lettische Zeitung NEATKARĪGĀ RĪTA AVĪZE sieht düstere Zeiten auf Putin zukommen: "Der von der Wagner-Gruppe geplante Militärputsch, die kampflose Einnahme von Rostow, der Marsch auf Moskau und schließlich der Rückzug: Trotz des theatralischen Endes dieser Tragikomödie beginnt damit ein neuer Abschnitt in der Geschichte des von Putin beherrschten Russlands. Die Bevölkerung konnte die Erniedrigung im Kreml live miterleben, ob nun mit Popcorn oder einer Kalaschnikow in der Hand. Die Einnahme Moskaus wurde erst abgeblasen, als klar wurde, dass der Einmarsch nicht so einfach sein würde wie in Rostow. Um beim Bild des Theaters zu bleiben: Es war, als habe Prigoschin sagen wollen, dass zwar der erste Akt zu Ende, aber noch nichts vorbei ist. Warten wir ab, wer übrigbleibt: ich – oder Putin?“ So lautet die Prognose von NEATKARIGA RITA AVIZE, die in Riga erscheint.
Die chinesische Zeitung JIEFANG RIBAO sieht nicht Putin, sondern Prigoschin geschwächt und konzentriert sich in ihrem Kommentar auf das Kriegsgeschehen in der Ukraine: "Mit der Auflösung der Wagner-Söldnertruppen wird auch Prigoschin marginalisiert. Der Zwischenfall wird für die Lage an der ukrainischen Front keine entscheidende Wende bringen. Denn militärisch hat Russland weiterhin die Überhand. Diese können die ukrainischen Offensiven nur schwer durchbrechen. Es gibt jedoch eine Reihe Sicherheitsrisiken, wenn der Krieg länger anhält und die Folgen ausufern. Mit Blick auf die Wahl 2024 muss Präsident Putin sein politisches Können jedenfalls noch unter Beweis stellen", befindet JIEFANG RIBAO aus Schanghai.
Die estnische Zeitung POSTIMEES bezweifelt, dass der Aufstand die weltpolitische Krisenlage entspannt: "Realistischer wäre, sich auch auf das schlimmste Szenario vorzubereiten. Prigoschin hat mit seinem Putschversuch das Regime erniedrigt und seine Hilflosigkeit vorgeführt. Das könnte den russischen Aggressor dazu bringen, noch härter gegen die Ukraine vorzugehen, aber natürlich ist es jetzt erst einmal eine Erleichterung für die Ukraine, wenn die Wagner-Kämpfer abziehen. Wir müssen die Lage weiter aufmerksam beobachten, die Unterstützung der Ukraine fortsetzen und auf dem NATO-Gipfel im Juli in Vilnius über mehr Aufrüstung beraten", empfiehlt POSTIMEES, die in Tallinn erscheint.