Alexander Kohlmann: Herr Wenders, die ersten Filme sind in der Frühzeit des Mediums als "lebende Fotografien" beworben worden. Sie haben jetzt einen Film gedreht über einen Fotografen - und vor allem auch über dessen Fotografien, die sich ja naturgemäß erst mal nicht bewegen. Wie ist es denn dazu gekommen, wie hatten Sie die Idee zu so einem Film?
Wim Wenders: Tja, es klingt ein bisschen wie die Quadratur des Kreises, aus Fotografien einen Film zu machen. Gekommen bin ich dazu, dass ich mir irgendwann gesagt habe: Jetzt gibt es diesen Fotografen, diesen Sebastião Salgado. Er ist erklärtermaßen mein Lieblingsfotograf, ich habe Prints von ihm über meinem Schreibtisch hängen seit einem Vierteljahrhundert, der arbeitet noch, ich arbeite noch, es ist eigentlich ein Jammer, dass ich den nie getroffen habe.
Kohlmann: Und gab es da irgendeinen Schlüsselmoment, wo Sie gesagt haben: Da ist dann wirklich die Idee konkret geworden? Das ist ja immer so, man hat die Idee im Kopf und irgendwann merkt man, es nimmt jetzt Fahrt auf und der "Point of no return" ist überschritten.
Wenders: Ja, das war eine Frage von ihm an mich, ganz unschuldig ohne Hintergedanken. Er hatte sein neues Projekt "Genesis" angefangen, das sind Fotografien von unserem Planeten wie er zum Beginn der Schöpfung war und wie es ihn immer noch gibt. Er war mittendrin, habe ich auch gesehen, diese Bilder und seine Frage an mich war: Wim meinst Du, man kann diese Bilder anders zeigen als in Ausstellungen und Büchern? Meinst Du, es gibt irgendeine Art, das auf einer Leinwand zu zeigen, zum Beispiel indem man Musik dazu tut oder Geräusche, ich weiß nicht? Da habe ich ein bisschen überlegt und gesagt: Ne, das geht nicht. Das wird eine Dia-Show und das tut deinen Bildern nicht gut, die Idee kannst Du mal gleich begraben.
Und dann haben wir nicht mehr weiter darüber geredet und wir haben stattdessen weiter über die Fotos geredet, und er hat mir Geschichten darüber erzählt, wie er bei diesem Stamm in Papua Neu Guinea war und bei diesen Indianern am Amazonas, weil er diese Urvölker aufgesucht hat und auch mit denen fotografiert hat. Und je mehr er mir erzählt hat, umso mehr habe ich mir gedacht: Mensch, ich habe ihm doch was Falsches gesagt. Eigentlich kann man diese Bilder wahrscheinlich auch auf der Leinwand zeigen, aber dann nur zusammen mit seinen Geschichten, weil dann sind sie beschützt, dann kommen sie im Zusammenhang vor, wo das doch möglich sein muss. Und dann habe ich ihm gesagt: Ja gut, man kann es schon machen, aber dann musst du es begleiten mit deinen Geschichten, nicht mit Musik und Gott weiß was. Das ist Diavortrag, aber deine Geschichten, die bringen es zum Leben. Und irgendwann hat er gesagt: Ja, dann mach ich das doch mal, aber wem soll ich sie denn dann erzählen, außer Dir? Und dann saß ich da.
"Seine Fotografien erinnern an einen Stummfilm"
Kohlmann: Ja, wenn man sich das jetzt anguckt in diesem Film, diese Fotografien, dann machen Sie ja tatsächlich was Besonderes mit denen. Sie haben schon gesagt, Sie unterlegen die mit Tönen, man hört plötzlich die Explosionen von den Ölfeldern, die Saddam Hussein angezündet hat, oder ganz am Anfang das Stimm-Gewirr und Hämmern in dieser Mine. Gleichzeitig montieren sie die aber auch, eigentlich bekommen die Bilder eine Bewegung dadurch, dass sie hintereinander ablaufen, dass sie natürlich als Regisseur eine große Auswahl da getroffen haben. Es entsteht ein bisschen so etwas wie ein Zwischenschritt zum Tonfilm. Also ist das auch so eine Art Verwandlung der Fotografien für das Kino, also eine Aneignung und Verwandlung?
Wenders: Naja, viele von seinen Fotografien erinnern einen schon an einen Stummfilm, erinnern einen schon an "Metropolis" oder die ersten Filme, wo man die Pyramiden gesehen hat und Gott weiß welche fremden Gegenden. Und daraus ist ja letzten Endes auch der Film entstanden aus diesen ersten "lebenden Bildern", und da haben wir doch den Pfad aufgegriffen und mithilfe seiner Geschichten auch aus diesen Fotos Geschichten werden lassen. Dazu kam dann ein bisschen als Bonus, dass er erst mal ein begnadeter Erzähler ist und zweitens auch seine Filme eigentlich, seine Fotos - habe ich schon falsch gesagt - eigentlich schon wie ein Film organisiert hat, nämlich auch schon mit vielen Einstellungswechseln und alles Serien von Bildern. Also, der Film beginnt zum Beispiel mit einer großen Fotoserie über ein Goldbergwerk in Brasilien. Und da hat er so viele Bilder gemacht, dass man daraus fast tatsächlich sich einen Film vorstellen könnte, mit Totalen und Nahaufnahmen und von unten und Porträts von Menschen, die da arbeiten. Also, es ist schon aufgelöst, wie man eigentlich einen Film auflösen würde, der ist schon ein heimlicher Geschichtenerzähler gewesen.
Kohlmann: Sie haben ja zu Beginn ihrer Karriere eigentlich hauptsächlich durch fiktionale Filme auf sich aufmerksam gemacht, also wirklich erzählte Geschichten mit erfundenen Charakteren. Dann kam mit "Buena Vista Social Club" erstmals dieser Riesenerfolg im Dokumentarfilmbereich und später weitere Filme wie "Pina Bausch". Meine Frage ist, was reizt Sie an dieser Gattung so sehr, wie kommt es zu diesem Weg vom fiktionalen Film zum Dokumentarfilm? Reizt Sie das Echte, also das Wirkliche, mehr als das Erfundene? Oder würden Sie vielleicht sogar sagen, dass der Unterschied gar nicht so groß ist in der Art und Weise, wie Sie an die Geschichten, um die es ja geht, herangehen?
Wenders: Also der Unterschied ist viel geringer, als man erwartet. Als ich "Buena Vista" gemacht habe, habe ich die ganze Zeit gedacht, ich mache wirklich einen Musikdokumentarfilm. Und im Schneideraum habe ich erst gemerkt, in Wirklichkeit waren wir Zeugen eines unfassbaren Märchens. Wir waren nur dabei, und es ist vor unseren Augen passiert. Aber anders kann man es nicht definieren, wenn man das erzählt, was da vor unseren Augen passiert ist, ist das ein Märchen. Und das ist die äußerste Fiktion, die man sich vorstellen kann.
Also, es ist schwer zu sagen, was ist heute ein Dokumentarfilm, was ist ein fiktionaler Film. Und ich habe meine fiktiven Filme sogar manchmal ohne Drehbuch gemacht, um irgendwo anzufangen und dann im Laufe des Films erst rauszukriegen, welche Geschichte wird das.
"Ich möchte auch selbst auf ein Abenteuer gehen"
Kohlmann: Das merkt man Ihren fiktiven Filmen, auch wenn man jetzt zurückblickt und die sich noch mal anguckt, auch total an, ob man "Paris Texas" nimmt oder "The Million Dollar Hotel", es ist immer ein Reiz auch für Räume und ein Erspüren von Atmosphären und Geschichten, die da drin stecken. Also dieses Hotel, das ist ja alles da, das ist ja auch eine Realität, oder?
Wenders: Klar, ich möchte auch, wenn ich eine Geschichte erzähle, nicht schon von vornherein wissen, wie sie ausgeht oder was darin passiert, dann ist es ja eigentlich langweilig. Ich möchte selbst auch eine Geschichte erleben, ich möchte auch selbst auf ein Abenteuer gehen. Und gerade, wenn ich eine Fiktion erzähle, möchte ich an diese Fiktion, während ich da mache, glauben können - und das glaube ich nicht mehr, wenn ich sie von vornherein schon von A bis Z runterdeklinieren kann und eigentlich nur noch bedienen muss und nur noch abdrehen muss.
Kohlmann: Wenn man jetzt so guckt, Dokumentarfilm, fiktionaler Film, Fotografien, in den letzten Jahren ist ja eine andere neue Gattung sehr stark geworden, nämlich das serielle Erzählen, wo ja auch viele von Ihren Kollegen schon Werke abgeliefert haben jenseits des Kinos. Wäre denn das auch etwas für Sie, dass Sie sagen, Sie machen mal eine mehrteilige Serie fürs Fernsehen? Ich kam vor allen Dingen drauf, wenn man sich bei "The Million Dollar Hotel" den Anfang anguckt, diese Vielzahl von Charakteren, da hatte ich das Gefühl, Sie würden gerne mal länger bei einen bleiben, mit der Kamera, das sind so viele Geschichten. Öffnen sich da für Sie neue Möglichkeiten?
Wenders: Ich finde das völlig logisch, dass das im Moment mit die aufregendste Form des Kinos ist, die es aus Amerika gibt. Die Serien "House of Cards" oder "True Detective" sind wirklich fantastische Filme, wo große Filmemacher, die diese Arbeit, die sie da machen können, im Kino schon längst nicht mehr machen dürfen. Das ist im Kino eben alles in festgefahrenen Formen und diese Arbeiten finde ich großartig. Ich hätte auch fast bei einer dieser Serien jetzt mitgemacht, die zweite Staffel gemacht ...
Kohlmann: Welche, dürfen Sie es mir sagen?
Wenders: "True Detective" hätte ich um ein Haar gemacht, wenn ich nicht jetzt gerade mit "Salz der Erde" fertig gewesen wäre und an einem anderen Film "Everything will be fine" noch bis nächstes Frühjahr arbeiten muss, deswegen konnte ich da nicht alles stehen und liegen lassen, obwohl ich wirklich ein paar schlaflose Nächte gehabt habe. Das hätte ich gerne gemacht.
TV-Shows sind eine Rückkehr des Autorenkinos
Kohlmann: Also, wir können uns vielleicht noch auf eine Serie von Ihnen freuen, irgendwann?
Wenders: Ich würde es wahnsinnig gerne machen. Ein paar meiner besten Freunde machen das und sind begeistert und sagen: Wir können endlich wieder als Autoren arbeiten im amerikanischen Kino, die Zeit war eigentlich längst vorbei.
Kohlmann: Das ist eigentlich eine Rückkehr des Autorenkinos.
Wenders: Ganz genau. Das ist es, haargenau das ist es.
Kohlmann: Vielleicht noch eine letzte Frage. In Deutschland ist ja - wie wir alle wissen - das Serienthema noch nicht so durchgestartet, wie es das vielleicht passieren könnte. Dafür ist hier das Theater sehr stark. Wäre das auch für Sie eine Gattung, die sie einmal ausprobieren wollen, also ein Live-Erlebnis, wo man als Regisseur viel stärker - ein bisschen kann man es vergleichen mit einem Fußballtrainer - die Kontrolle abgibt in dem Augenblick, wo der Vorhang aufgeht?
Wenders: Es ist wirklich so, dass man der Fußballtrainer ist. Ich hab nur einmal eine Inszenierung gemacht, hatte das Glück, dass ich dafür drei Monate probieren konnte und eine riesige Bühne hatte, die Felsenreitschule in Salzburg. Und danach habe ich immer das Gefühl gehabt, solche Bedingungen hätte ich nicht noch mal bekommen und letzten Endes dieses Fußballtrainer-Dasein, dass man da bei der Inszenierung im Publikum sitzt und kann nichts mehr machen. Man sitzt da und denkt sich, warum halten sich die Jungs nicht an meine Strategie? Es ist in den Händen der Schauspieler. Das ist eine tolle Erfahrung gewesen, da habe ich viel von gelernt, aber irgendwie habe ich auch gemerkt, in dieser einen großen Einstellung kann ich eigentlich die Arbeit, die ich mache, doch nicht so richtig machen.
Kohlmann: Also doch ein echter Kino-Regisseur?
Wenders: Ja, doch, ja.