Donnerstag, 25. April 2024

Archiv

Dreifaltigkeit Gottes
Trinität als Politikum

Die christliche Lehre von der Dreifaltigkeit Gottes sei "hochpolitisch und brisant", sagte der Historiker Michael Wolffsohn im Deutschlandfunk. Im Islam werde die Trinität als "Vielgötterei" angesehen. Der jüdischen "Polemik" gegen die Lehre von der Dreifaltigkeit hält Wolffsohn entgegen, es gebe einen "breiten gemeinsamen ethischen und theologischen Grundstock".

Michael Wolffsohn im Gespräch mit Andreas Main | 12.01.2017
    Michael Wolffsohn, Historiker, aufgenommen am 21.07.2016 während der ZDF-Talksendung "Maybrit Illner" zum Thema "Erdogans Rache - ist die Türkei noch unser Partner?" im ZDF-Hauptstadtstudio im Berliner Zollernhof Unter den Linden. Foto: Karlheinz Schindler | Verwendung weltweit
    Dreifaltigkeit - Drei oder viele oder einer? Michael Wolffsohn, Historiker aus München zum Thema Trinität (dpa-Zentralbild)
    Andreas Main: Ich will niemandem zu nahe treten und nicht verallgemeinern, aber in christlichen Kirchen oder in theologischen Fakultäten oder in der Medienwelt wird kaum oder gar nicht geredet über Trinität. Anders hier. Wir wagen uns vor auf ein Feld, wo auch viele Christen sagen, das verstehe ich nicht. Wir versuchen, die theologische Rede von der Dreifaltigkeit Gottes zu verstehen, wir versuchen das mit dem Münchner Historiker Michael Wolffsohn. Er ist vielen bekannt als eine Stimme, die sich einmischt mit Ecken und Kanten, dem es nicht um billige Zustimmung geht. Weniger bekannt, dass er sich auch immer wieder mit theologischen Fragen beschäftigt – etwa in einem vor fast zehn Jahren erschienenen Buch "Juden und Christen – ungleiche Geschwister". Und weil wir beide nicht Tag für Tag über Trinität reden, zeichnen wir dieses Gespräch auf. Ich freue mich, ihn im Studio des Bayerischen Rundfunks begrüßen zu können. Hallo und einen schönen guten Morgen, Michael Wolffsohn.
    Michael Wolffsohn: Guten Morgen, Herr Main.
    Main: Ausgerechnet mit einem jüdischen Denker über Trinität, die Dreifaltigkeit Gottes zu sprechen – mit Verlaub, das hat was Bizarres. Was können Sie als jüdischer Historiker zu diesem christlichen Thema beitragen?
    "Die Dreifaltigkeit ist ein Bild"
    Wolffsohn: Ich bin, ich versuche jedenfalls ein denkender Mensch zu sein und mir die Frage zu stellen: Was bedeutet eigentlich die Trinität? Zum einen. Zum anderen: Ist tatsächlich die Trinität nur eine rein christliche Vorstellung? Gibt es nichts Vergleichbares im Judentum? Und wie steht der Islam dazu?
    Man muss sich hineinversetzen in die Art von Literatur, welche sowohl das Alte Testament, die Hebräische Bibel, bietet - als auch das Neue Testament. Wir haben es weitgehend mit einer bildhaften Literatur zu tun. Das heißt, die Botschaft ist in Bildern zu suchen. Die Bilder müssen wir verstehen. Gleiches gilt auch für die Dreifaltigkeit, die Trinität.
    "Dreiheit als Einheit könnte auch eine Vierheit, Fünfheit sein"
    Main: Wie wird die christliche Rede von dem dreifaltigen Gott im Judentum – oder sagen wir besser in den Judentümern – wahrgenommen?
    Wolffsohn: In diesem Fall gibt es sogar weitgehend ein einheitliches Judentum, das sich abgrenzt vom christlichen Verständnis. Das bedeutet, die Trinität – also die Einheit der Dreiheit – sei sozusagen eine christliche Erfindung. Vielleicht dem einen oder anderen Hörer noch zur Nachhilfe, weil Sie ja auch allgemein interessierte Hörer haben – Vater, Sohn, Heiliger Geist. Das ist eine Dreiheit, aber – so der Grundgedanke der Trinität – die Dreiheit ist eine Einheit. Was bedeutet das? Dieses Bild ist von tiefer Symbolik. Man darf es eben nicht wortwörtlich interpretieren und dann auch gleich dagegen polemisch argumentieren.
    Damit wird gesagt – in aller Kürze und stark vereinfacht: Gott ist in allem, Gott ist alles, er ist Schöpfer der Welt, er ist allgegenwärtig. Das heißt, die Dreiheit als Einheit, könnte im Grunde genommen auch eine Vierheit, Fünfheit sein.
    Das ist symbolisch für alles – Vater, Sohn, Heiliger Geist. Das ist die Grundbotschaft. Dann muss man darüber nachdenken. Hier unterscheiden sich dann Gläubige von Ungläubigen, aber nicht konfessionell gedacht Christen von Juden, Juden von Christen oder Muslimen. Wer das Bild versteht, wird es in dieser Botschaft verstehen - unter der Voraussetzung, dass er oder sie ein gläubiger Mensch ist. Das ist die trennende Perspektive.
    "Ich halte dieses Bild für ein ganz grandioses Bild"
    Main: Sie sprechen von einem Bild. Ist es für Sie reines Gedankenspiel, wenn wir hier über Trinität reden? Also, nichts gegen Gedankenspiele – aber dennoch die Frage: Sehen Sie eine Relevanz dieser Frage?
    Wolffsohn: Oh ja.
    Main: Welche?
    Wolffsohn: Der Kosmos, die Menschheit besteht aus einer Vielheit. Zugleich gibt es den Menschen an sich mit seinen Ängsten, Bedürfnissen, Überlebenswillen, der Wunsch zu lieben, geliebt zu werden, ein gutes Leben zu führen. Das sind allgemein menschliche Eigenschaften, Wünsche, Hoffnungen.
    Zugleich ist jeder Mensch in sich ein Individuum – mehrere Milliarden Menschen. Das heißt, wir haben zum einen die Individualität, zum anderen die Vielheit. Das wird ausgedrückt durch dieses Bild. Ich halte dieses Bild für ein ganz grandioses Bild.
    Hl. Dreifaltigkeit Süddeutschland, Unbekannter Künstler, 17. Jahrhundert.Skuptur aus Lindenholz mit Resten alter Fassung
KOLUMBA Kunstmuseum des Erzbistums Köln (KdöR)
    Trinität - ein grandioses Bild. (Hl. Dreifaltigkeit Süddeutschland, Unbekannter Künstler, 17. Jahrhundert.Skuptur aus Lindenholz mit Resten alter Fassung, KOLUMBA Kunstmuseum des Erzbistums Köln) (Deutschlandfunk / Andreas Main)
    Jetzt der Vergleich zum Judentum. Im Judentum haben wir im Grunde genommen das gleiche. Man muss nur mit offenem Herzen und offenem Verstand an die biblischen Texte herangehen. Das können wir, wenn Sie Interesse haben, gerne vertiefen.
    "Im Koran heißt es wörtlich: Drei kann nicht eins sein"
    Main: Das tun wir später. Bevor wir aber weiter über Jüdisch-Christliches reden, möchte ich auf den Islam zu sprechen kommen. Es gibt Suren im Koran gegen Trinität. Es gibt islamistische Attacken gegen Polytheisten. Sind in diesem Punkt Muslime und Juden womöglich erstaunlich einig?
    Wolffsohn: Scheinbar ja. Judentum und Islam sagen: Nein, Trinität – das ist letztlich zu Ende gedacht eine Vorform – oder der Islam ist da noch schärfer – eine Art von Polytheismus, also Vielgötterei. Im Koran kommt es wörtlich vor: Drei kann nicht eins sein. Daher also die strikte Ablehnung der Trinität.
    Traditionell orthodox interpretiert: ja, Judentum und Islam haben eine gemeinsame Distanz, teilweise sogar Polemik gegen die christliche Vorstellung der Trinität. Tatsächlich aber gibt es eine durchaus nachweisbare Nähe zwischen der Vorstellung der Trinität im Christentum und jüdischen Texten.
    "Auch das arianische Christentum war vehement gegen die Trinität"
    Main: Noch einmal – um beim Islam zu bleiben: Wie gefährlich das Auseinanderspielen von Monotheismus gegen Polytheismus sein kann, das belegen die jüngsten Anschläge. Wenn ich mir das Bekennerschreiben des jüngsten Istanbuler Anschlags anschaue – darin heißt es: "In Fortsetzung der gesegneten Operation des Islamischen Staates gegen die Türkei hat einer der heldenhaften Soldaten des Kalifats gegen den berühmten Nachtclub zugeschlagen, wo die Nazarener, die Christen, ihr polytheistisches Fest feiern." Also Religion kann gefährlich sein.
    Wolffsohn: Gut - Religion kann gefährlich sein, aber sie kann auch ungefährlich sein und Frieden stiftend. Das Grundsätzliche in Bezug auf die Distanz des Islam zur Trinität geht weit zurück in die Frühgeschichte des Islam – nämlich in seine Entstehungsgeschichte.
    Hier gibt es eine interessante interdisziplinäre Forschergruppe namens Inârah, die – wie ich finde – empirisch wasserdicht nachweist, dass der frühe Islam bis ungefähr 800 unserer Zeitrechnung ein arianisches Christentum war. Ob das nun stimmt oder nicht, das sollen die Spezialisten entscheiden.
    Aber interessant ist, dass das arianische Christentum seiner Zeit vehement gegen die Trinität argumentierte. Es wurde für die Trinität bekanntlich 325 nach Christus auf dem Konzil von Nicäa entschieden. Das heißt, Konstantin, der sogenannte Große, entschied sich für die Trinität, also gegen das arianische Christentum. Aber das arianische Christentum bestand im vorderasiatischen Raum weiter. Im Grunde genommen handelt es sich hier – ob jetzt unter der Überschrift Islam oder nicht – um die traditionell innerchristliche Auseinandersetzung über die Trinität.
    "Elohim ist eine plurale Form"
    Main: Ich beziehe jetzt einfach mal eine strenge jüdische Position und sage: Gott kann keinen Sohn haben, Gott kann nicht mehrere sein. Ist das aus Ihrer Sicht eine zu strenge jüdische Deutung oder eine selbstverständliche, hinter die Sie auch nicht zurück fallen können oder mögen?
    Wolffsohn: Das ist eine gängige Interpretation und entspricht der traditionellen jüdischen Vorstellung – bis hin weit in das Reformjudentum, wenn ich das recht sehe. Aber es stimmt nicht, wenn wir die jüdischen Texte zugrunde legen. Sie haben richtig zitiert, Vater und Sohn können nicht identisch sein. Aber die Vorstellung von Gott als Vater und wir als Kinder ist eins zu eins im Judentum: Awinu Malkhenu - unser Vater, unser König, das ist Gott. Wir sind als einzelne Menschen Kinder Gottes.
    Jesus war also in dem Anspruch, Sohn Gottes zu sein, ein Kind Gottes - ein Kind Gottes wie alle Kinder Gottes, wie alle Menschen Kinder Gottes sind. Insofern ist das jesuanische Verständnis, der jesuanische Anspruch, Sohn Gottes zu sein, durchaus deckungsgleich mit jüdischen Vorstellungen, dass jeder Mensch ein Kind Gottes ist.
    Zweiter Punkt der Trinität – Gott, Vater – ist unbestritten, auch im Vergleich zum Islam.
    Und jetzt kommen zum Schwierigsten, zum Heiligen Geist. Sie kennen natürlich Genesis 1, den 2. Satz: "Ruach Elohim merachefet al pnei hamajim." Der "Geist Gottes" ist die wörtliche Übersetzung. Und Elohim ist eine plurale Form. Was sagt uns das? Dass wir uns Gott als Singular vorstellen müssen und zugleich als Plural. Also haben wir ein identisches Wortbild. Die Aussage dieses Wortbildes Elohim, die Pluralform für Gott, ist im Grunde genommen nichts anderes als diese Vorstellung von der Trinität. In diesem Falle ist der Plural ja nicht gegrenzt auf zwei oder drei, jedenfalls mehr als eins. Und Ruach Elohim – der Geist Gottes. An anderen Stellen heißt es in der hebräischen Bibel ruach ha kodesh, der Heilige Geist. Jetzt frage ich Sie: Wo besteht dann der Unterschied der Vorstellung zwischen dem Heiligen Geist als ruach ha kordesh und dem Heiligen Geist im Christentum? Es gibt ihn nicht.
    "Ganz so sattelfest war der Glaube von Juden an die Einheit Gottes nicht"
    Main: Ich halte dagegen. Einer Ihrer zentralen Texte lautet wortwörtlich: "Höre Israel – Adonai ist unser Gott, Adonai ist eins." Und Adonai im Übrigen ist grammatikalisch Singular.
    Wolffsohn: Nein, Adonai ist Plural.
    Main: Oh.
    Wolffsohn: Denn sonst würde es Adoni heißen.
    Main: Ich konnte es ja mal versuchen.
    Wolffsohn: Nein, ist völlig in Ordnung. Es gibt Prominente – etwa Martin Luther auch – die das falsch übersetzt haben. Sie sind in der allerbesten Gesellschaft, Herr Main. Adonai ist schon eine Pluralform. Wir haben auch hier den Plural. Ganz spannende Geschichte.
    Zweitens heißt es "Höre Israel" – das ist ein Imperativ, also die Befehlsform. Wenn eine Befehlsform notwendig wird, dann heißt das doch im Grunde genommen im Klartext: Ganz so sattelfest war auch der Glaube von Juden an die Einheit Gottes nicht. Der Imperativ ist kein Zufall. Die Redakteure der Gebete und der biblischen Texte – Altes Testament ebenso wie Neues – haben sich sehr viel bei allem gedacht, was sie geschrieben haben. Wir müssen nur versuchen, uns hineinzudenken, was sie gesagt haben.
    Also, erstens plurale Formen des einen Gottes. Der eine Gott ist plural in der Begrifflichkeit, aber er ist als Singular sich vorzustellen. Zweitens klappt es offenbar nicht so mit dem Glauben der Juden an den Monotheismus, daher der Imperativ. Drittens – und das erkennen wir aus vielen Texten im Alten Testament, denken Sie nur an die Propheten, die ja immer wieder dagegen gewettert haben, dass "die" Juden sich abgewandt haben von dem einen. Das ist ganz eindeutig.
    Wir haben darüber hinaus, um die Sache noch komplizierter machen, nicht nur die Pluralform des männlichen Gottes in hebräischen, biblischen Urtexten, sondern wir haben auch die Schechina, die auch übersetzt wird mit ...
    Main: ... die Gegenwart, die Gegenwart Gottes.
    Wolffsohn: Das ist eine Umschreibung. Schechina ist ein weiblicher Singular, der zu verstehen ist als Gott selber. Die Schechina ist beispielsweise, so die traditionell jüdische Vorstellung, über dem Tempel in Jerusalem gewesen – also die weibliche Form Gottes. Es gibt viele Belege dafür.
    "Gott ist männlich und weiblich"
    Peter Schäfer, der Judaist, heute Direktor des Jüdischen Museums in Berlin, hat über die Weiblichkeit der Gottesvorstellung im Judentum ein grandioses Buch geschrieben, das ich nur allen empfehlen kann.
    Wir sehen hier die Pluralität der Begriffe, die ist eben kein Zufall, sondern – und wir kommen auf die Trinität zurück – der Grundgedanke ist: Gott ist vieles und zugleich einer. Und er ist eben sowohl männlich als auch weiblich.
    "Die Grenzen der Gendertheologie"
    Wir kommen hier an die Grenzen der Gendertheologie. Es ist völlig irrelevant zu fragen: Ist nun Gott männlich oder weiblich? Er ist alles. Er ist sowohl männlich als auch weiblich. Er ist Singular und er ist Plural. Das ist doch der Grundgedanke dieser Trinität. Und diesen Grundgedanken finden wir – und ich wiederhole mich absichtlich – auch im Judentum.
    Was heißt das politisch für uns? Die Abgrenzung zwischen Judentum und Christentum ist sehr viel geringer, wenn man mit offenem Herzen und offenem Verstand aufeinander zugeht, sich wechselseitig verstehen will. Ich sag nicht: "Piep, piep, piep – wir haben uns alle lieb."
    Ich bin auch durchaus bereit, wenn es notwendig ist, Abgrenzungen zu erkennen. Aber die Gemeinsamkeiten sind sehr viel stärker. Das heißt, wir müssen nicht das übliche Bla-bla über christlich-jüdische Gemeinschaftlichkeit formulieren, sondern wir haben tatsächlich einen dramatisch breiten Grundstock der Gemeinsamkeiten, die ethisch sind und theologisch.
    Main: Dieser breite Grundstock, dieses Thema scheint ja auch in der Luft zu liegen. Der erwähnte Judaist Peter Schäfer, Direktor des Jüdischen Museums, der wird im Frühjahr (Anmerkung der Redaktion: schon Ende Januar 2017!) ein Buch vorlegen, in dem es darum gehen wird, das gängige Bild von einem jüdischen Monotheismus gründlich zu überdenken. Wir kennen beide dieses Buch noch nicht. Aber daran erkenne ich zumindest die Relevanz unseres Themas.
    Wolffsohn: Aber natürlich. Die Relevanz des Themas besteht ja nicht in der Glasperlenspielerei, sondern es ist der Versuch, der ungeheuren Vielfalt des Menschen in seiner Singularität und in seiner Pluralität nahe zu kommen und der Schöpfung ganz allgemein und unserem Planeten Erde, dem Kosmos.
    Denn jeder stellt sich doch irgendwann einmal die Frage: Was ist denn mein Platz in der jeweiligen Gemeinschaft, in meiner Nation, Region, auf der Erde, im Kosmos? Was bedeutet mein kürzeres oder längeres Leben? Das sind doch elementare Seinsfragen.
    Und dieses dramatische Bild, die Einheit der Dreiheit, das heißt, die Einheit der Vielheit kennzeichnet doch das Sein ganz allgemein. Ich finde, dieses Bild grandios.
    Main: Sie sind kein Theologe, Sie sind Historiker und ein streitbarer Mann, der sich gerne mal mit denen anlegt, die intellektuell ungenau oder unredlich sind – zumindest aus Ihrer Sicht. Wieso ausgerechnet jetzt und in diesem Punkt Trinität diese versöhnliche Haltung?
    Wolffsohn: Es geht nicht um versöhnlich als Selbstzweck. Darüber hinaus ist Harmonie immer angenehmer als Disharmonie. Sondern es ist der Versuch – das ist Teil meines Berufes, nachzudenken über die Dinge, mit denen ich mich beschäftige. Das ist zum einen die jüdische Geschichte, die israelische Geschichte, die deutsche Geschichte.
    Da kann man, will ich auch nicht, an den religiösen Wurzeln beider Seiten vorbeigehen. Da muss man sich überlegen: Was ist denn eigentlich damit gemeint? Erst recht in einer Situation, in der wir uns heute befinden, in der die Bedeutung von Religion eher zunimmt als abnimmt. Und gerade in einer Gesellschaft wie der unsrigen, der westeuropäisch-deutschen, in der Menschen religiös weitgehen unmusikalisch sind, aber an dem Thema nicht vorbei können.
    Dann heißt es immer – ganz aktuell bei Sigmar Gabriel – wir müssen uns kulturell mit dem Islam beschäftigen und auseinandersetzen. Der Mann hat völlig recht. Aber die deutsche Bevölkerung in ihrer großen Mehrheit hat vom Christentum nicht einmal eine Ahnung. Wie soll sie dann mit Muslimen argumentieren können oder mit Juden.
    "Ich muss die religiösen Wurzeln kennen"
    Main: Sie plädieren also für eine intensivere theologische Auseinandersetzung, um eben auch diese Spaltung, die auch religiös begründet ist, ein wenig zu kitten?
    Wolffsohn: Ja, natürlich, denn wenn man sich mit den drei Religionen beschäftigt, da kennt man den gemeinsamen Kern, die gemeinsame Quelle. Alles, was danach an Trennendem gekommen ist, ist Ergebnis von Politik der Vergangenheit und der Gegenwart: a) von Geschichte und b) von unmittelbarer Gegenwart.
    Wenn ich also – beliebte Phrase der Gegenwart – Terrorismus an seinen Wurzeln bekämpfen will, dann muss ich die Wurzeln kennen, benennen und mich zu den Ähnlichkeiten und den Unterschiedlichkeiten der drei Religionen bekennen in einer offenen Auseinandersetzung. Daran kommen wir gar nicht vorbei. Das heißt, das Thema, das wir beide heute besprechen, das scheinbar nur hoch theologische Probleme aufwirft, ist hoch politisch, brisant.
    Main: Anis Amri, der Attentäter vom Berliner Weihnachtsmarkt, der hat nach seinem Blutbad einen erhobenen Finger in eine Videokamera gehalten, sagt zumindest die Generalbundesanwaltschaft. Dabei handelt es sich um einen Gruß, der bei IS-Anhängern verbreitet ist – der Tauhid-Gruß. Der eine Finger bedeutet, es gibt nur einen Gott. Das ist der Beleg schlechthin dafür, dass diese Frage sehr, sehr politisch sein kann.
    Wolffsohn: Oh ja. Und dieser eine Gott ist aber zugleich vieles und alles. Das ist die Botschaft, die wir von der Trinität haben, die wir in der Begrifflichkeit im Alten Testament finden, nicht El alleine, oder Jehowa, sondern Elohim beispielsweise, oder Adonai oder die weibliche Form Schechina. Insofern – ja – Gott ist einer, aber dieser eine Gott ist alles.
    "Jenseits der Phrasendreschereien"
    Main: Abschließend – wir werden die Theologiegeschichte nicht ummodeln, aber ganz bescheiden und demütig: Was ist aus Ihrer Sicht die Anregung, der Denkanstoß, die Quintessenz aus dem, was wir hier besprochen haben?
    Wolffsohn: Vorurteilsfrei an die jeweiligen Texte heranzugehen, seien sie christlich, jüdisch oder muslimisch. Und dann sich den eigenen Kopf zerbrechen und nicht den jeweiligen Dogmen nachzurennen, sondern fragen: Was ist das Dogma? Was will eigentlich der Text, der ein tief menschlicher Text in seinem Ansatz ist, uns sagen? Das heißt, zurück zur Menschlichkeit, und das durch das Denken angeregt – jenseits der Phrasendreschereien.
    Main: Und dann kommen wir zum Ergebnis, dass die Trinität, die Dreifaltigkeit Gottes, die fast 2.000 Jahre hinweg zum Stolperstein zwischen verschiedenen Religionen wurde, keine unüberwindbare Barriere mehr sein muss.
    Wolffsohn: Genau.
    Main: Michael Wolffsohn, Historiker in München, danke Ihnen für Ihre Einschätzungen. Trinität, darüber haben wir gesprochen. Mehr als ein Gedankenspiel. Wobei Gedankenspiele ja auch was haben. Also danke, lieber Herr Wolffsohn, dass Sie sich die Zeit genommen haben.
    Wolffsohn: Ich danke Ihnen.