Donnerstag, 28. März 2024

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Kritik am RAF-"Tatort"
"Die Zuschauer sind einfach gescheiter"

Stefan Aust kritisiert den Stuttgart-"Tatort" als RAF-Propaganda. Willi Winkler, wie Aust Autor eines Buchs über die Geschichte der Terrorgruppe, widerspricht seinem Journalistenkollegen: Beim "Tatort" handele es sich um ein "Feierabendmärchen" – und Historiker könnten vielleicht sogar von ihm profitieren.

Willi Winkler im Gespräch mit Christoph Sterz | 16.10.2017
    Szene aus Dominik Grafs RAF-Tatort "Der rote Schatten"
    Eine Szene aus Dominik Grafs RAF-Tatort "Der rote Schatten" (SWR-Presse/Bildkommunikation)
    Christoph Sterz: War das okay, wie Tatort-Regisseur Dominik Graf mit unbelegten Theorien umgegangen ist?
    Willi Winkler: Warum nicht? Es ist eine Version, die gestern im "Tatort" gezeigt wurde. Und sie ist als Mythos in einer gewissen Szene nach wie vor verbreitet. Ich habe mit einem ehemaligen IRA-Terroristen gesprochen, der hat als Erstes gesagt: Die wurden doch umgebracht. Also: Sie haben sich selber umgebracht, es spricht sehr wenig dafür, dass es anders war. Aber richtig ist auch, dass über diesen Transport der Waffen in die Zellen zumindest eine gewisse Kenntnis bestand. Und das ist dann natürlich, nachdem das nicht offengelegt wird, Anlass zu solchen Spekulationen und Verschwörungstheorien, die der "Tatort" ausgebreitet hat.
    Sterz: Sie sagen aber, es ist grundsätzlich okay, so etwas zu zeigen. Ich habe mal ein Zitat mitgebacht aus der heutigen "Bild": "Ich kann nicht verstehen, dass zur Hauptsendezeit im öffentlich-rechtlichen Fernsehen so ein gefährlicher Unsinn verbreitet werden kann", hat Stefan Aust gesagt, RAF-Experte und Herausgeber von Welt/N24. Also ganz so wie er sehen sie das also nicht?
    Winkler: Naja, soll ich mich jetzt wirklich zu Herrn Aust äußern? Der hat seine Karriere auf dem Mythos RAF aufgebaut. Und er hat die Vorlage geliefert für den Baller-Film "Der Baader Meinhof Komplex". Also: Wer ist er, um das zu sagen?
    Im "Tatort" war die Frage offen geblieben, ob die Terroristen der "Roten Armee Fraktion" (RAF) sich 1977 im Gefängnis das Leben nahmen - oder doch ermordet wurden. "Es gibt keine ernstzunehmenden Zweifel daran, dass es Selbstmord war", sagte auch Aust der "Bild"-Zeitung. Im dem TV-Krimi wurde der Mord an den Gefangenen der RAF in zwei Versionen inszeniert, auch als Mord durch eine geheime Truppe. "Das wird bei den Zuschauern hängen bleiben", kritisierte Aust, das halte er für sehr problematisch. Der verantwortliche Südwestrundfunk (SWR) wies den Vorwurf zurück. Der "Tatort" beziehe Position, ohne sich für eine Deutungsvariante zu entscheiden.
    "Die Zuschauer sind einfach gescheiter"
    Sterz: Dann kommen wir doch noch mal zurück auf das, was wir gestern gesehen haben. Da ist es ja nun mal so, dass ganz klar eine gestellte Szene zu sehen ist, die sich orientiert hat an den tatsächlichen Tatortfotos und deswegen sehr realistisch ausgesehen hat. Ist das auch deshalb in der Diskussion, ganz einfach weil es bewegte realistische Bilder sind?
    Winkler: Sicherlich. Jetzt möchte ich aber mal wissen, wer das glaubt. Es ist eine Fiktion, der "Tatort" ist für sich ein Feierabendmärchen am Sonntagabend. Wer glaubt denn deswegen, dass es so war? Also ich glaube, die Zuschauer sind einfach gescheiter, die nehmen das doch nicht als Doku-Drama: 'So Leute, jetzt wird die Wahrheit endlich ans Licht gebracht!' Das glaube ich nicht.
    Sterz: Was ich interessant finde, ist, dass in letzter Zeit immer wieder mal Serien, die etwas Zeitgeschichtliches haben, gezeigt wurden. "Weißensee" zum Beispiel, eine fiktive Serie rund um die DDR und die Stasi. Und da gab es diese Diskussion, die jetzt ein bisschen geführt wird, überhaupt nicht. Womit erklären Sie sich das?
    Winkler: Bei "Weißensee" ist, glaube ich, der Nostalgieeffekt größer. Es gibt ja offenbar ein sehr starkes Verlustgefühl in der ehemaligen DDR, dass einem etwas abhanden gekommen ist. Und das wird durch diese Familiengeschichte, die ja wiederum in der Tradition der "Buddenbrooks", eben der großen Familienerzählungen steht, reaktiviert und bedient.
    Sterz: Und Nostalgieeffekt ist okay?
    Winkler: Das ist doch völlig harmlos, das tut doch niemandem weh. Also, jetzt noch mal auf Ihr Argument mit dem "Tatort" gestern: Eine Verschwörungstheorie kommt in die Welt. Wenn das jetzt Anlass dazu gibt, dass man die vorhandenen Akten offenlegt – nach 40 Jahren wäre das ja möglich, es wurde ja ausführlich die Geschichte eines V-Mannes behandelt, und es gab mehrere – das wäre doch kein schlechter Effekt, wenn die jetzt veröffentlicht werden müssten. Dann hätte es auch was Gutes.
    "Wenn es knallt, ist das doch interessanter"
    Sterz: Das heißt, das Fiktionales, wo manchmal eine Schippe zu viel draufgelegt wurde, vielleicht auch manchmal mehr erreichen kann als eine trockene Doku?
    Winkler: Okay, jetzt greife ich mal ganz hoch: Erinnern Sie sich an die Serie "Holocaust" 1979. Das ist in der Geschichtswissenschaft die Zeitenwende. Danach – mit diesem sentimentalen Drama der Judenermordung – begann tatsächlich ein Nachdenken, ein Aufarbeiten, eine auch wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Holocaust, die es in der Form vorher nicht gegeben hatte. Also, da war jetzt wirklich ein "Tearjerker", ein "Tränenzieher", der dafür gesorgt hat, dass man sich ernsthaft mit staatlichem Geld darum kümmert.
    Willi Winkler, geboren 1957, war Redakteur der "Zeit", Kulturchef beim "Spiegel" und schreibt heute für die "Süddeutsche Zeitung". Er ist Autor zahlreicher Bücher. 1998 erhielt Willi Winkler den Ben-Witter-Preis, 2010 den Otto-Brenner-Preis für kritischen Journalismus, 2013 den Michael-Althen-Preis.
    Sterz: Jetzt reden wir ja über einen Film der gestern gelaufen ist und der Teil einer Film- und Seriengeschichte ist, die seit ein paar Jahren im deutschen Fernsehen zu sehen ist. Ich habe "Weißensee" schon erwähnt. Oder der ZDF-Dreiteiler "Honigfrauen" ist so ein Beispiel, aus der alten Bundesrepublik wäre das "Ku'damm 56". Oder "Deutschland 83", das ja in der alten DDR und BRD spielt, die RTL-Serie. Oder noch früher in den 20er- und 30er-Jahren wie bei "Babylon-Berlin". Warum gibt es eigentlich zur Zeit so viel Zeitgeschichte?
    Winkler: Ich habe jetzt eine seltsame Hypothese: Die Lebenserwartung steigt. Also ist das Spektrum, über das man in der Erinnerung verfügt, größer. Die Zuschauer, also mit Verlauf, von ARD und ZDF sind im Durchschnitt so um die 60. Das heißt, es ist ohnehin für ein älteres Publikum, das gerne ein bisschen in Erinnerungen schwelgt.
    Sterz: Herr Winkler, das ist schon eine steile These, weil ja "Babylon Berlin" zum Beispiel nicht direkt füpr 60-Jährige gemacht ist.
    Winkler: Aber das ist doch ganz amüsant: Wäre doch schön, wenn wir dabei gewesen wäre. Das vergoldet ja auch eine Jugend, die vielleicht ja gar nicht golden war, nachträglich. Nochmals: Es gab ja über die RAF Dokumentationen, es gab den deutschen Herbst. Aber wenn es knallt, wenn man das dann so dramatisiert, das ist doch eindeutig interessanter. Dann kommen die Zuschauer.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.