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125. Geburtstag
Zur Aktualität Walter Benjamins

Die Lektüre von Werken des vor 125 Jahren geborenen Philosophen Walter Benjamin zeigt immer wieder, wie aktuell seine Texte gedeutet werden können. Das gilt etwa für das kleine Bändchen "Einbahnstraße", das zu lesen und darüber zu streiten sich lohnt.

Von Jochen Stöckmann | 15.07.2017
    Walter Benjamin
    Walter Benjamin, geboren 1892, nahm sich auf der Flucht vor Gestapo und Nazi-Kollaborateuren 1940 das Leben. (dpa / picture alliance / Heinzelmann)
    Geben wir’s ruhig zu: Solide Kennerschaft kann sich heute kaum noch jemand leisten. Nicht, weil’s zu teuer wäre. Es fehlt schlicht die Zeit. Und so bleibt es auch bei Walter Benjamin bei einschlägigen Zitaten. Aber da ging es den 68ern kaum besser. Zeit hatten sie genug, doch es fehlte an Büchern. Bis auf zwei kryptische Auswahlbände war nichts erschienen von dem damals eben entdeckten Benjamin.
    Seither hat sich viel getan - in der akademischen Welt. Aufsätze, Kongresse, steile Thesen, auch solide Theorien. Schließlich die Kritische Gesamtausgabe. Da hat Benjamins "Einbahnstraße" zehnfach Früchte getragen: Aus etwa 60 Seiten - Rowohlt, 1928 - sind fast 600 geworden - Suhrkamp, 2009.
    Benjamin als Prophet des betreuten Sehens?
    Das schmale Bändchen reicht zum Nachweis von Benjamins brennender Aktualität. Zumal die Fotomontage auf dem Umschlag rot leuchtet wie Lackmuspapier.
    Halten wir also einen Teststreifen in die Zeitgeistdebatte: "Der Ausdruck der Leute, die sich in Gemäldegalerien bewegen, zeigt eine schlecht verhehlte Enttäuschung darüber, daß dort nur Bilder hängen."
    Ja, hat da einer 1928 geahnt, gefordert, dass ins Museum, in ein Berliner Humboldtforum etwa, Multimedia, Entertainment, Massenbespaßung gehören? Selbstverständlich auch Audioguides? Benjamin als Prophet des betreuten Sehens?
    Wohl kaum. Aber ganz gleich, ob nun Warnung, Kulturkritik, Ironie oder gnadenlos sezierende Bestandsaufnahme, Benjamins Sätze lassen niemanden kalt, rufen Reaktionen hervor.
    Und ihm zu Ehren, streiten wir darüber: ernsthaft, spielerisch, listig, pointiert – aber nie verbissen. Denn mit Tunnelblick bloße Geschmacksurteile verfechten oder – sozialmedial – Follower kobern, Daumen rauf, Daumen runter "liken", das wäre eine Beleidigung dieses Denkers. Denn er hat gegen das Aufzwingen von Meinungen den schärfsten Kalauer der Geistesgeschichte formuliert: "Überzeugen ist unfruchtbar."
    "Für Männer" heißt die Überschrift, kleine Eselsbrücke für alle Begriffs-Stutzer. Also für jene, die den Konventionen folgen und mit vorgestanzten Begriffen über den Boulevard der Meinungen stolzieren.
    "Einbahnstraße" führt in unterschiedliche Richtungen
    Das aber bringt niemanden weiter, auch nicht in der aktuellen Gewalt-Debatte über das Hamburger G20-Debakel. Doch darf man dagegen jetzt noch, in einem medial aufgeheizten Klima die Lektüre jenes "destruktiven Charakters" empfehlen, den Benjamin auf nur zwei Seiten bisweilen irritierend frohgemut und optimistisch beschreibt?
    "Sein Bedürfnis nach frischer Luft und freiem Raum ist stärker als jeder Haß."
    Viele werden darin eine "Verharmlosung" sehen. Zumal sich aus Benjamins Text Zitate herausreißen lassen, etwa: "Wo andere auf Mauern stoßen, auch da sieht er einen Weg. Weil er aber überall einen Weg sieht, hat er auch überall aus dem Weg zu räumen. Nicht immer mit roher Gewalt, bisweilen mit veredelter."
    Doch im Zusammenhang gelesen führt diese "Einbahnstraße" in ganz unterschiedliche Richtungen. Da gibt es die an sich banale, aber verstörend formulierte Einsicht: "Wie ungeheuer sich die Welt vereinfacht, wenn sie auf ihre Zerstörungswürdigkeit geprüft wird."
    Und zum Schluss heißt es: "Der destruktive Charakter lebt nicht aus dem Gefühl, das das Leben lebenswert sei, sondern daß der Selbstmord die Mühe nicht lohnt."
    Walter Benjamin, der sich auf der Flucht vor Gestapo und Nazi-Kollaborateuren 1940 das Leben nahm, hätte heute Geburtstag. Ein Anlass, die "Einbahnstraße" zu lesen - und öffentlich darüber zu streiten.