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Afghanistan
Erzwungene Rückkehr in den Krieg

Nach dem Einmarsch der Sowjetunion 1979 flohen viele Afghanen ins Nachbarland Pakistan. Nachdem sich die politischen Beziehungen beider Länder aber immer mehr verschlechtern, will Pakistan nun die afghanischen Flüchtlinge loswerden. Sie werden gezwungen, ihre neue Heimat zu verlassen und in ein Land zurückzukehren, in dem noch immer Krieg herrscht.

Von Jürgen Webermann | 01.10.2016
    In langen Reihen stehen die Lastwagen mit dem Hab und Gut der Rückkehrer aus Pakistan auf einem freien Gelände vor dem UN-Registrierungszentrum. Rund 7.000 Menschen kommen derzeit laut UNHCR täglich in Afghanistan an.
    In langen Reihen stehen die Lastwagen mit dem Hab und Gut der Rückkehrer aus Pakistan vor dem UN-Registrierungszentrum. (Jürgen Webermann / ARD New Delhi)
    Als Nasir Khan aus Afghanistan floh, was er gerade mal sechs Jahre alt. 1988 eskalierten die Kämpfe zwischen Afghanen und der sowjetischen Roten Armee in seiner Heimat Kundus. Seitdem lebte Nasir Khan in Pakistan. Er fand Freunde. Er hatte ein Zuhause und einen kleinen Lebensmittel-Laden. "Aber seit einigen Monaten kam ständig die Polizei vorbei und erpresste Geld von mir. Immer mit der Begründung, dass unsere Papiere nicht mehr gültig seien."
    Auch Fazil Haq bekam Besuch von der Polizei in Pakistan, sogar nachts, sagt er. "Sie sagten einfach nur: Geht zurück in Euer Land. Und auf den Straßen, jedes Mal, wenn wir einen Kontrollpunkt erreichten, wollten sie Geld sehen. Wir durften nicht mal mehr eine SIM-Karte fürs Handy kaufen."
    Fazil Haq ist 25 Jahre alt, seine Familie war auch in den 80er-Jahren geflohen. Fazil ist in Pakistan geboren. Jetzt hocken er und Nazir Khan im Staub, vor bunt bemalten Lastwagen, aus denen die Habseligkeiten ihrer Familien heraus lugen. Sie sind müde. Sechs Tage sind sie bereits unterwegs. Ein paar Meter weiter sucht Fahid Rahim mit seiner Familie hinter ihrem Lastwagen etwas Schatten. Fahid hat den Lkw für 1.500 Dollar samt Fahrer mieten müssen. Damit ist der Großteil seiner Ersparnisse verbraucht. Fahid und die 17 anderen Familienmitglieder haben einen Teppich auf dem Boden ausgebreitet. Fahid lebte 35 Jahre lang in Pakistan.
    "Für die Rückkehrer wird es schwierig, hier Fuß zu fassen"
    "Probleme mit den Pakistanern gab es schon immer. Aber in den vergangenen Tagen wurde es richtig schlimm. Sie wollten Visa von uns sehen. Die haben wir natürlich nicht. Sie fragten nach unseren Ausweisen. Meine Neffen steckten sie ins Gefängnis. Einige wurden dort verprügelt. Wir mussten sie freikaufen."
    Fazil Haq ist in Pakistan geboren. Er glaubt, dass er in Afghanistan keinen sicheren Ort finden wird. Um Geld zu verdienen, will er bei der Armee anheuern.
    Fazil Haq ist in Pakistan geboren. Auch er wurde zur Ausreise nach Afghanistan gezwungen. (Jürgen Webermann / ARD New Delhi)
    Pakistan will seine afghanischen Flüchtlinge loswerden, seit die Beziehungen zwischen beiden Ländern immer neue Tiefpunkte erreichen. Afghanistan wirft Pakistan vor, die Taliban zu unterstützen. Pakistan behauptet, unter den afghanischen Flüchtlingen seien reihenweise Terroristen. Dass Afghanistan und Pakistans Erzfeind Indien derzeit näher zusammenrücken, hilft den geschätzt drei Millionen Afghanen in Pakistan auch nicht gerade. Für diejenigen, die jetzt gehen, ist ein Registrierungszentrum der Vereinten Nationen außerhalb der Hauptstadt Kabul die erste Anlaufstelle. Maya Ameratunga ist die Repräsentantin des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR in Afghanistan. Die kleine, resolute Frau steht zwischen weißen Zelten, in denen ihre Mitarbeiter den Rückkehrern 400 Dollar an Nothilfe auszahlen. Sie schaut fassungslos auf die andere Seite des Zauns, auf die staubige Fläche, auf der die bunten Lastwagen stehen. In langen Reihen. Sie alle sind in der Nacht angekommen.
    "Es sind wirklich viele Menschen heute. Allein heute dürften 7.000 Menschen in Afghanistan ankommen. Das hat so niemand vorhergesehen. Wir machen uns wirklich Sorgen. Für die Rückkehrer wird es schwierig, hier Fuß zu fassen."
    Die Vereinten Nationen haben bereits Alarm geschlagen: 150 Millionen Dollar seien nötig, um eine humanitäre Katastrophe abzuwenden, heißt es in einem Not-Appell von Anfang September. Maya Ameratunga muss Geld von anderen Flüchtlingsprojekten abziehen, um den Rückkehrern wenigstens Geld für die ersten Wochen mit auf den Weg zu geben.
    Wie Afghanistan mit den Problemem umgehen soll, weiß niemand
    Bevor sie das Geld erhalten, kommen die Menschen am Stand von Sheraf vorbei. Vor sich auf dem Tisch hat er Minen aufgebaut, daneben ein kleines Sandfeld, aus dem ebenfalls Minen heraus schauen. Der ältere, zurückhaltende Mann gibt den Rückkehrern kleine Einführung in die Kriegsgeräte: "Die Leute wissen ja nichts über die Minen. Aber sie werden in den Provinzen, in die sie gehen werden, ganz sicher mit Minen zu tun haben. Wir wollen ihnen zeigen, wie sie mit dieser Gefahr umgehen können."
    Sayed Sheraf weist die Rückkehrer in die Gefahren von Minen ein. Die Afghanen kehren zurück in das Land mit der wohl höchsten Minendichte weltweit.
    Sayed Sheraf weist die Rückkehrer auf die Gefahren von Minen hin. (Jürgen Webermann / ARD New Delhi)
    Denn die Afghanen kehren zurück in einen Krieg, der derzeit rapide eskaliert. In den meisten Provinzen des Landes wird gekämpft. Die Vereinten Nationen erwarten, dass 400.000 Menschen in diesem Jahr aus ihren Dörfern und Städten vertrieben werden. Dazu kommen jetzt noch die Rückkehrer aus Pakistan – vorsichtige UN-Schätzungen gehen von 600.000 Menschen bis Jahresende aus. Wie Afghanistan mit dem Problem umgehen soll, weiß niemand. Nasir Khan will in Kabul bleiben und sich wieder einen Laden aufbauen. In seiner ursprünglichen Heimat Kundus wird derzeit heftig gekämpft.
    Fahid Rahim und seine achtzehnköpfige Familien wollen nach Baghlan in Nordafghanistan. Als sie über die Grenze gefahren sind, hätten die Kinder erst einmal Fotos von ihrer neuen Heimat gemacht, sagt der Familienälteste: "Wir müssten dort oben noch ein Stück Land haben. Wir müssen uns dort für den Winter notdürftig einrichten. Danach bauen wir vielleicht eine vernünftige Bleibe. Aber wir haben Angst. Da, wo wir hingehen, wird gekämpft. Das müssen wir sehr ernstnehmen."
    Sechs Tage haben sie auf der Ladefläche des gemieteten Lastwagens verbracht. Sobald sie von den Vereinten Nationen registriert sind und ihre 400 Dollar erhalten haben, werden sie wieder auf den Lkw klettern. Ob sie ihr Stück Land wirklich wieder bekommen werden, ist ungewiss. So wie ihre gesamte Zukunft in Afghanistan.