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"Alle Macht in der Volksrepublik China gehört dem Volk"

Mao Zedong eröffnet den 1. Nationalen Volkskongress der Volksrepublik China im September 1954. Vor 50 Jahren, am 20. September 1954, verabschiedete das formal höchste Organ der Staatsmacht die erste chinesische Verfassung.

Von Otto Langels |
    Fünf Jahre zuvor, am 1. Oktober 1949, hatte Mao Zedong als Führer der kommunistischen Partei in Peking auf dem Platz des Himmlischen Friedens verkündet: Die Volksrepublik China ist gegründet.

    Wenige Tage zuvor hatten die kommunistische Partei und mit ihr sympathisierende Kräfte verschiedene Gesetze verabschiedet, die als vorläufige Verfassung der Volksrepublik dienten. Die Bürger erhielten das aktive und passive Wahlrecht. Die Gesetze garantierten die Freiheit der Person, des Denkens, des Glaubens, der Rede, der Wohnung, der Freizügigkeit, der Presse, der Versammlung, der Vereinsbildung und der Veranstaltung von Demonstrationen.

    In den Diskussionen um die Staatsordnung setzte die kommunistische Partei einen Zentralstaat durch mit begrenzten Rechten für nationale Minderheiten. Der Staat wurde nach den Prinzipien des demokratischen Zentralismus konzipiert, nicht als Verfassungsstaat mit Gewaltenteilung, Machtbeschränkungen und demokratischer Kontrolle.

    Im September 1954 trat dann der Nationale Volkskongress zum ersten Mal zusammen. Die 1226 Delegierten waren von der gesamten Bevölkerung indirekt gewählt worden. Die Mehrzahl gehörte der kommunistischen Partei an. Der Volkskongress wählte Mao Zedong zum Staatspräsidenten. Damit waren Partei-, Staats- und Armeeführung in einer Person vereint.

    Am 20. September verabschiedeten die Abgeordneten die erste Verfassung der Volksrepublik China. Sie folgte in Kernelementen den Gesetzen von 1949 sowie dem sowjetischen Vorbild, insbesondere der unter Stalin erlassenen Verfassung der Sowjetunion von 1936. Die Verfassung bestand aus 106 Artikeln.

    Artikel 1: Die Volksrepublik China ist ein sozialistischer Staat der demokratischen Diktatur des Volkes unter Führung der Arbeiterklasse und auf der Grundlage des Bündnisses zwischen den Arbeitern und Bauern.
    Artikel 2: Alle Macht in der Volksrepublik China gehört dem Volk.


    In der Verfassungsrealität hieß dies, dass die nach leninistischen Prinzipien organisierte kommunistische Kaderpartei die politische Führung beanspruchte. Die Macht konzentrierte sich in einer Hand.

    Die Grundrechte und –pflichten garantierten allen Bürgern die Gleichheit vor dem Gesetz. Zugestanden wurden außerdem ein Recht auf Arbeit, Erholung und materielle Unterstützung im Alter. Den Bauern und sogar den Kapitalisten billigte die Verfassung das Recht auf Grundbesitz und Produktionsmittel zu. Allerdings wurden individuelle Rechte kollektiven Interessen untergeordnet.

    Artikel 6: Die Grundlage des sozialistischen Wirtschaftssystems der Volksrepublik China ist das sozialistische Gemeineigentum an Produktionsmitteln, das heißt das Volkseigentum und das Kollektiveigentum der Werktätigen. Mit dem System des sozialistischen Gemeineigentums wird das System der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen abgelöst; es wird das Prinzip, "jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung" angewandt.
    In den folgenden Jahrzehnten verabschiedete der Nationale Volkskongress drei weitere Verfassungen: 1975, 1978 und 1982. Die Texte spiegeln die unterschiedlichen politischen Ziele der kommunistischen Führung. Während die Präambeln der 70er Jahre die Bedeutung des Klassenkampfs betonten, hebt die aktuelle Verfassung von 1982 – mit Modifizierungen in den 90er Jahren – die Bemühungen um eine sozialistische Modernisierung des Wirtschaftslebens und die Stabilisierung der staatlichen Institutionen hervor.

    Unabhängig von allen rechtlichen Grundsätzen stand und steht die kommunistische Partei de facto über der Verfassung. Die Partei, nicht das Volk ist der Souverän im Staat. Bis heute ist sie die unumschränkte Entscheidungs- und Kontrollinstanz in der Volksrepublik China.