Ein polnischer Ingenieur über die Sorgen seines Unternehmens:
"Leider war es nicht abzusehen, dass so viele und begabte Leute unser Land verlassen würden, und jetzt stehen wir vor dem Problem: Wie finden wir Fachkräfte? Weil die Mehrheit der Facharbeiter aus der Baubranche, aber auch Informatiker oder Ärzte Polen verlassen haben."
Und eine Großmutter, der es keine Probleme bereitet, sich um ihre Enkelinnen zu kümmern:
"Ich war sogar dafür, dass meine Schwiegertochter auch nach Holland fährt. Ich wollte, dass die jungen Leute etwas erreichen. Als mein Sohn in Polen gearbeitet hat, da waren wir sehr arm. Und jetzt sehe ich, dass sie anständig Urlaub machen können. Also ich habe nie gedacht, dass ich es nicht schaffe mit den Enkeln. Noch heute würde ich das schaffen."
Gesichter Europas: Auf und davon - Polen und die Folgen der Abwanderung. Mit Reportagen von Anja Schrum und Wojtek Mroz. Am Mikrophon begrüßt Sie Brigitte Helfer
Am 1. Mai 2004 trat Polen der Europäischen Union bei - ein Datum, das quasi der Startschuss für eine neue Wanderbewegung wurde: die Arbeitsmigration Richtung Westen, vorzugsweise nach England und Irland. Der Grund: Beide Länder trachteten nach der ersten Runde der EU-Osterweiterung nicht danach, ihre Arbeitsmärkte vor Menschen aus den neuen Mitgliedsländern abzuschotten. Und so zieht es seitdem vor allem jüngere Polen zu Hunderttausenden dorthin - Schätzungen des Warschauer Arbeitsministeriums sprechen von knapp zwei Millionen, andere sogar von fast vier Millionen, die jenseits der Grenze ihren Lebensunterhalt verdienen. Das wären immerhin fast zehn Prozent der gesamten Bevölkerung.
Viele dieser polnischen Gastarbeiter kommen nur noch zu Kurzbesuchen in die Heimat. Und so trifft man vor allem an den Wochenenden auf die Karawane der Arbeitsmigranten - sei es auf Flughäfen, Busbahnhöfen oder Raststätten.
Die A2/E30, die Hauptverkehrsstrecke von Polen gen Westen, führt von Warschau über Poznan (auf deutsch Posen) nach Frankfurt/Oder. Etwa 70 Kilometer vor der Grenze nach Deutschland liegt die Raststätte Nevada, für etliche Reisende der letzte Stopp in Polen.
DIE KARAWANE GEN WESTEN - AN DER RASTSTÄTTE NEVADA
Freitagabend, 20 Uhr. "Bitte die 95zig abholen" schallt es aus einem Lautsprecher über den Rastplatz. Dicht an dicht stehen die PKW und Kleinbusse. Eine Frau drückt schnell ihre Zigarette aus, eilt in das flache Gebäude. An dem steht in roten Leuchtbuchstaben: "Nevada - 24 Stunden - Restaurant - Supermarkt".
Ein junger Mann schiebt einen Einkaufswagen neben sein Auto. Hievt ein großes Glas eingelegte Paprika in den Kofferraum. Robert ist auf dem Weg zur Arbeit. Ins gut 900 Kilometer entfernte Belgien.
Zwei Wochen sitzt der 32jährige dort hinter dem Lenkrad eines belgischen LKW. Danach hat er eine Woche frei.
"Seit 2002 arbeite ich im Ausland. Ich habe in Belgien angefangen, dann war ich in Holland und Norwegen und jetzt bin ich wieder zurück in Belgien."
Robert legt ein Zehnerpaket Eier in den Kofferraum. Dazu drei Brote. Günstige Verpflegung für die gut bezahlte Arbeit im Westen.
Im Minutentakt rollen Reisebusse, Transporter oder PKW auf den Parkplatz. Manche der Wagen haben niederländische oder britische Nummernschilder. "Linienverkehr nach Holland" steht in der Frontscheibe eines Busses. Die Reisenden eilen in Richtung Rasthaus. Um kurze Zeit später wieder aufzutauchen, mit Plastiktüten voller Lebensmittel und Zigaretten.
Die Männer lachen. Auch sie fahren arbeiten:
"Do Luxemburga. Do Francia. Do Hollandia"
Ein silberner Transporter mit verspiegelten Scheiben schiebt sich in die Parklücke. "Trans Voyager" steht an der Hecktür. "Polen - Deutschland - England". Fünf junge Frauen und Männer steigen aus, eilen in Richtung der Toiletten. Ein Grauhaariger vertritt sich die Beine. Heute morgen um sieben ist der Mini-Bus in Lublin, im Osten Polens, gestartet, erzählt Krzistof. Am nächsten Mittag wird er in London eintreffen:
"Pracuje - ich arbeite"
Arbeiten - in einem Supermarkt, sagt Krzistof. Zwei, drei Mal pro Jahr fährt er nach Hause, zu Frau und Kindern. Umgerechnet 100 Euro kostet eine Strecke mit dem Minibus.
"Duze Polakow..."Viele Polen fahren nach Holland, nach Deutschland oder nach England, um zu arbeiten", sagt er. "Die Bezahlung dort ist einfach besser." Dann macht auch er sich Richtung Rasthaus auf. Polnischen Proviant kaufen für die lange Reise zur Arbeit.
Auch Waldemar aus Warschau will in den Westen und lässt sich - ahnungslos wie er ist - Tipps von einem heruntergekommenen aber westerfahrenen Nachbarn geben. 'Herrn Kukas Empfehlungen' - so der Titel des Romans von Radek Knapp - führen ihn für acht aufregende Wochen nach Wien. Doch erst einmal gilt es, Herrn Kukas wichtigste Lektionen zu lernen.
"Dann hör jetzt mal gut zu, denn was du jetzt erfährst, steht weder in einem Reiseführer geschrieben noch sonst wo. Das muss erst geschrieben werden. Bevor unser Elektriker den Kommunismus kurzgeschlossen hat, waren die Deutschen sehr gut zu uns. Vielleicht hatten sie noch Gewissensbisse wegen des zweiten Weltkriegs, ich weiß es nicht. Jedenfalls griffen sie dir gleich unter die Arme, wenn sie hörten, dass du aus Polen kommst. Das war im ganzen Westen so. Aber dann kam die Wende, und plötzlich wurden die Dörfler aus ganz Polen über Nacht Europäer. Sie fuhren hinüber und begannen zu klauen, was nur ging. Die Westler kamen mit dem Schauen nicht nach, und die Deutschen führten sogar ein Visum ein, weil sie sonst ihren Mercedes auf die Liste der vom Aussterben bedrohten Arten hätten setzen müssen. Von da an wusste im Westen jeder, dass wir alles sind, nur keine Europäer. Deshalb darfst du niemals zugeben, woher du wirklich kommst. Sogar wenn sie dich foltern, sag, du bist aus England oder meinetwegen China. Beim Wort Polen kannst du gleich wieder nach Hause gehen."
Es waren nicht nur die Ungelernten und Geringverdiener, die eine Zeit lang der Heimat den Rücken kehrten, um sich im Ausland als Spargelstecher oder Erdbeerpflücker zu verdingen.
Zunehmend trieben schlechte Verdienstmöglichkeiten und Perspektivlosigkeit auch Akademiker und Facharbeiter in die Fremde. Mit der Folge, dass überall Fachkräfte fehlen. Eine Studie der polnischen Nationalbank stellt fest, dass inzwischen die Hälfte aller Unternehmen im Land sich schwer damit tut, qualifiziertes Personal zu finden. Der polnische Arbeitgeberverband schlug bereits im vergangenen Jahr Alarm wegen Mangels an Spezialisten.
In den Handwerksberufen und besonders auf dem Bau sind Arbeitskräfte so knapp geworden, dass auch Polen die Regelungen für Gastarbeiter lockern musste - so zum Beispiel für Russen, Weißrussen und Ukrainer. Und jetzt auch erwägt, unter bestimmten Bedingungen Chinesen zu beschäftigen.
Denn mittlerweile hat sich das Blatt gewendet: Polens Wirtschaft erholte sich, die Arbeitslosenquote sinkt seit Jahren rapide, der Konjunkturmotor brummt.
Wie zum Beispiel bei "Diehl Controls Polska" in Namyslow, einer 17.000-Einwohner-Stadt circa anderthalb Autostunden
von Wroclaw - auf deutsch Breslau - entfernt. Neben dem alten Industriegebäude am Stadtrand parkt ein LKW; früher wurden hier Anlasser und Lichtmaschinen für die polnische Autoindustrie produziert. Seit 2004 gehört das Unternehmen einem deutschen Konzern:
FACHKRÄFTE VERZWEIFELT GESUCHT - DIE FIRMA 'DIEHL
CONTROLS POLSKA' IN NAMYSLOW
"My jemy... Okay? "
"Wir gehen?" sagt Roy Heynlein auf Polnisch. Marek Wozniak nickt. Die beiden Geschäftsführer von "Diehl Controls Polska" ziehen sich ihre weiße Kittel über und machen sich auf den Weg in die Fertigungshalle.
Es geht eine Treppe hinab, in den schlichten Eingangsbereich des Unternehmens. Vorbei an einer einzelnen Glasvitrine. In der liegen die kleinen Elektronikkomponenten, die das Werk produziert. Steuerungen für Waschmaschinen, Trockner oder Geschirrspüler.
Am Eingang zur Produktionshalle stellt sich Marek Wozniak auf eine glänzende Metallplatte. Drückt mit dem Daumen auf einen Metallknopf.
"Pan Heynlein.. wszystko ist okay... Dobra..."
Es piept, eine Lampe leuchtet grün. Das bedeutet: Keine gefährliche elektrostatische Aufladung. Wozniak und Heynlein nicken zufrieden. Sie dürfen weitergehen.
Eine riesige, helle Halle voller hochmoderner Maschinen. Neben den Automaten stehen junge Frauen in Kitteln und Hauben, füllen Leiterplatten nach. Die Platten werden mit Elektronikbauteilen bestückt. Vollautomatisch. Das Werk produziert rund um die Uhr. Die Auftragsbücher sind gut gefüllt. Trotzdem kann sich Geschäftsführer Wozniak nicht entspannt zurücklehnen.
In der Region sind keine Fachkräfte mehr aufzutreiben. Null, resümiert der Ingenieur mit dem grauen Schnautzer.
"Das Problem in Namyslow ist, dass auch andere Firmen hier sitzen. Die Firma Velux zum Beispiel. Oder Nestlé - die Firma hat als erste hier bei uns investiert. Die lokalen und die ausländischen Firmen haben den örtlichen Fachkräftemarkt leergefegt."
"Diehl Controls Polska" schaltet Annoncen, wirbt in Internet-Portalen, beauftragt sogar Headhunter. Um IT-Spezialisten oder Vertriebslogistiker hierher, in die ländliche Kleinstadt zu locken. Doch bislang nur mit mäßigem Erfolg. Denn in ganz Polen gibt es derzeit einfach zu wenige Fachkräfte, sagt Marek Wozniak.
"Leider war es nicht abzusehen, dass so viele junge und begabte Leute unser Land verlassen würden und jetzt wir stehen vor dem Problem: Wie finden wir Fachkräfte? Weil die Mehrheit der Facharbeiter aus der Baubranche, aber auch Informatiker oder Ärzte Polen verlassen haben."
Noch vor wenigen Jahren war das undenkbar, so Wozniak. Die 90er Jahre waren sehr, sehr schwer, erinnert sich der Ingenieur. Damals musste er hunderte Angestellte entlassen. Dann aber kam Polens Beitritt zur EU, die Übernahme des Unternehmens durch eine deutsche Firma. Der Wirtschaftsboom. Innerhalb von fünf Jahren hat sich die Zahl der Angestellten vervierfacht. Von 220 auf jetzt 827 Mitarbeiter.
Wozniak und Heynlein bleiben vor einem großen, grauen Automaten stehen. Unter einer Glasabdeckung surren Leiterplatten hin und her. Roy Heynlein:
"Das ist mein ganzer Stolz diese Maschine, das ist ein Siemens-Bestücker. Wie diese Maschine arbeitet, das begeistert mich."
Heynlein nickt kurz der jungen Frau hinter dem Bestücker zu. Noch hat das Unternehmen keine Schwierigkeiten, Arbeitskräfte für die Fertigung zu finden. Weil es vor allem junge Frauen beschäftigt, die Familie haben und deshalb relativ standorttreu sind. In Boomregionen wie Wroclaw, zu deutsch: Breslau, aber sind auch einfache Arbeitskräfte Mangelware, sagt der kaufmännische Geschäftsführer:
"Aufgrund der Tatsache, dass natürlich Angebote von Wettbewerbern, die auch Leute suchen, keine 300 Meter entfernt verfügbar sind und damit natürlich die Arbeitskräfte, wenn sie ein entsprechendes Angebot bekommen, 50 Zloty mehr zu verdienen, sehr schnell entschlossen sind, den Arbeitsplatz aufzugeben und in die Firma nebenan zu wechseln."
Wie rasant sich die Nachfrage nach Arbeitskräften entwickelt hat, zeigen auch die Arbeitslosenzahlen, sagt Marek Wozniak und geht weiter:
"Ich kann Beispiel geben - Polnisch weiter: Vor zwei bis drei Jahren lag hier in Namyslow und Umgebung die Arbeitslosigkeit bei ca. 20 Prozent. Jetzt beträgt sie in ganz Polen zehn Prozent. Bei uns hier auch. Deshalb müssen wir Arbeitskräfte herlocken, die 40, 50 Jahre alt sind, weil nur solche Arbeitskräfte überhaupt noch verfügbar sind auf unserem Arbeitsmarkt."
Roy Heynlein nickt heftig:
"Locken, locken...!"
Locken - mit guten Löhnen natürlich. Doch Gehälter wie in Deutschland oder Großbritannien kann das Unternehmen nicht zahlen. Dann würde ja der Wettbewerbsvorteil als Niedriglohn-Standort verloren gehen. Deshalb wirbt man mit einem guten Betriebsklima, Weiterbildungsangeboten und Aufstiegschancen. So ist es auch gelungen einen jungen Logistikspezialisten aus Breslau zu gewinnen.
"Wo finden wir …"
Marek Wozniak überlegt kurz, dann steuert er die Büroräume gleich links neben der Produktion an. Hinter einer der großen Glasscheiben erblickt er den neuen Mitarbeiter, winkt ihn heraus. Tomasz Mroz ist gerade auf dem Weg zu einer Telefonkonferenz:
"Diese Firma ist international bekannt, wir kooperieren mit verschiedenen internationalen Partnern. Man schwimmt nicht immer in der eigenen Soße. Ich kann hier die Entstehung des Produkts von der Materiallieferung über die Herstellung bis zum Versand des fertigen Produkts begleiten."
Marek Wozniak blickt zufrieden auf den jungen Mann. Nickt. Was weder er noch sein Kollege Heynlein zu diesem Zeitpunkt ahnen: Drei Tage später wird der junge Logistikspezialist, den das Unternehmen so händeringend gesucht hat, kündigen. Er hat ein besseres Angebot erhalten. Von einer Firma aus Breslau.
Die erfreulichen Auswirkungen der Arbeitswanderung auf die polnische Wirtschaft sind beträchtlich: Neben steigenden Löhnen stärkt sie auch mit ihren milliardenschweren Überweisungen die heimische Währung. Soweit das Ökonomische.
Aber es gibt eben auch Belastendes, das zahllose Familien strapaziert: Ehepaare leben - unterbrochen von kurzen Stippvisiten - jahrelang getrennt voneinander, Kinder wachsen mit nur einem Elternteil auf, werden von Großmüttern und älteren Geschwistern erzogen und manchmal sogar ins Heim abgeschoben. Lehrer behaupten, die betroffenen Kinder seien häufig schwierig und verhaltensauffällig.
Ein Besuch im orangefarbenen Plattenbau eines kleinen Dorfes, wo die Familie Kuzma wohnt. Vater Benedikt, der in Holland arbeitet, kommt normalerweise nur am Wochenende, hat aber jetzt Urlaub:
FAMILIENLEBEN AUF DISTANZ - ZUHAUSE BEI DEN KUZMAS
Durch ein graues Treppenhaus geht es hinauf in den ersten Stock. Links steht die Wohnungstür offen. Gibt den Blick frei auf einen breiten Flur mit hell glänzenden Fliesen. Bitte, kommt herein, sagt Benedikt Kuzma. Der breitschultrige 43-Jährige mit dem modischen Ziegenbärtchen macht eine einladende Handbewegung in Richtung Küche.
In der geräumigen Einbauküche mit den hellen Holzschränken setzt Ehefrau Beata gerade Wasser für den Kaffee auf. Oma Francsizka lehnt an einem Regal aus Chrom und Glas, auf dem drei Handys liegen.
"Drei Söhne und das ist die Frau... "
"Ich habe drei Söhne" erzählt die 66-Jährige im orange-geblümten T-Shirt. "Alle arbeiten im Ausland, in Holland." Francsizka Kuzma erzählt das ganz selbstverständlich. Ohne eine Anflug von Bedauern in der Stimme:
"Wir haben hier damals zusammen gewohnt, mit diesem Sohn und mit seinen beiden Töchtern. Der zweite Sohn hat im Block nebenan gewohnt. Keiner hatte Arbeit, meine Schwiegertochter hatte auch keine Arbeit. Und ich bin Witwe, wir hatten nur meine Rente. Und sie wissen, als Mutter möchte man den Kindern helfen, aber mit diesen paar Groszy war nichts zu machen. Dann habe ich entschlossen gesagt: Ich bleibe gerne mit euren Kindern hier. Und so ist es passiert: Die kleine ist bei der Tante geblieben und die ältere bei mir. "
Kinga, die ältere, war sechs Jahre alt. Ihre Schwester Claudia vier. Jetzt sitzen die beiden nebenan, in einem Zimmer voller Spielzeug und einem Computer. Kramen aus einer Plastiktüte Barbie-Puppen hervor.
"Wenn Mama gefahren ist, hat sie angerufen und Bescheid gesagt, dass die Geschenke im Schrank sind", erzählt die elfjährige Claudia. - "Das war ein Trick, um die Kinder ein wenig abzulenken", sagt Beata und fügt hinzu: "Sie hat eine große Puppen-Sammlung".
Beata, 36, bittet auf dem modernen, vanillefarbenen Loungesofa im Wohnzimmer Platz zu nehmen. Sie stellt die Kaffee-Tassen auf einen japanisch anmutenden Holztisch. Über den Flachbildschirm an der Wand läuft eine Kinderserie. Fünf Jahre lang hat die zierliche Frau in demselben holländischen Schlachtbetrieb gearbeitet, indem ihr Mann noch heute als Vorarbeiter beschäftigt ist.
"Als ich das erste Mal gefahren bin - hätte es einen Bus gegeben, ich hätte mich auf der Stelle hineingesetzt und wäre zurückgefahren. Unter der Trennung hat am meisten die Kleine gelitten. Wenn wir weggefahren sind, hatte sie immer Tränen in den Augen."
"Meine Enkelinnen haben sich mit der Situation abgefunden", sagt Oma Franciszka bestimmt. Dass sie unter der Trennung gelitten haben, glaubt sie nicht. Sorge hatte sie vor allem um Sohn und Schwiegertochter. Die jedes Wochenende mit 180 Sachen über die Autobahnen rasten. Die resolute 66-Jährige muss die Tränen unterdrücken. Sie schluckt:
"Das ist doch klar, ich bin nie eingeschlafen bevor sie nach Hause gekommen sind. Manchmal haben sie mich angerufen, dass sie schon in der Nähe sind und wenn es dann lange dauerte, habe ich immer nervös gelauscht, ob ich das Auto hören kann. Die Kinder waren im Bett und ich habe immer gehorcht, ob sie kommen."
Oma Franciszka wischt sich eine Träne aus dem Auge. Dann gewinnt der Pragmatismus wieder die Oberhand. Anders, sagt die 66-Jährige, wären wir nicht zurecht gekommen.
"Ich war sogar dafür, dass meine Schwiegertochter auch nach Holland fährt. Ich wollte, dass die jungen Leute etwas erreichen. Als mein Sohn in Polen gearbeitet hat, da waren wir sehr arm. Und jetzt sehe ich, dass sie anständig Urlaub machen können. Also ich habe nie gedacht, dass ich es nicht schaffe mit den Enkeln. Noch heute würde ich das schaffen."
Schwiegertochter Beata blickt skeptisch hinter dem modischen Brillengestell, schiebt eine blonde Strähne hinters Ohr. Sagt aber nichts. Nimmt lieber noch einen Schluck Kaffe. Sie ist froh wieder zu Hause zu sein:
"Als wir am Wochenende hier waren, haben die Kinder über ernste Themen mit mir gesprochen. Sie haben mir über Schwierigkeiten in der Schule berichtet. Dann hatte ich Probleme mit meiner Jüngsten. Als ich aus Holland gekommen bin, hat sie zu mir "Tante" gesagt und sich dann verbessert und "Mama" gesagt. Weil sie die ganze Woche "Tante", "Tante" sagt."
Beata lacht jetzt darüber. Aber man ahnt: Das hat ihr weh getan. So weh, dass sie beschlossen hat zu Hause, in Polen, zu bleiben. Ihr Mann aber arbeitet weiterhin in Holland. Ihr Beziehung hält das aus, da ist sich Beata sicher. Obwohl sie viele anderen Beispiele kennt:
"Viele Frauen sind dageblieben und haben die Partner gewechselt. Und es gibt Frauen, die die Kinder verlassen haben, sie haben sie einfach bei dem Vater oder der Oma in Polen zurückgelassen. Den Mann kann ja verlassen, aber nicht die Kinder... "
Vater Benedikt lacht. "Was sagst du? Den Mann kann man verlassen?" Der 43-Jährige pendelt weiterhin. Jedes Wochenende 1.600 Kilometer.
"Herr Kuka hatte Recht. Uns Ostler faszinieren Dinge, die nicht in den Reiseführern stehen. Als unser Bus zwei Stunden später in Wien einfuhr, stach mir als erstes die Sauberkeit ins Auge. Dabei bin ich kein Sauberkeitsfanatiker wie meine Mutter, die jedem neuen Besen einen menschlichen Namen gibt, aber auf der Straße lag nichts, nicht einmal ein zufällig fallen gelassenes Papiertaschentuch. Als wäre gerade vor einem Moment ein riesiger Staubsauger vorbeigefahren und hätte alles, was nicht niet- und nagelfest war, in sich aufgesaugt.
Als nächstes fielen mir die Bäume auf, die entlang der Straße wuchsen. Sie waren gerade wie Laternen, und um jeden Baum herum war im Asphalt fein säuberlich ein Quadrat ausgeschnitten, in dem Erde und Dünger lagen, damit sich der Baum fühlte, als sei er im Wald. Dass aber diese Bäume nie einen Wald gesehen hatten, merkte man allein an ihren Ästen. Sie standen im rechten Winkel vom Stamm, was so ungefähr jedem Naturgesetz widersprach. Dafür aber fügten sie sich ideal in die allgemeine Symmetrie der Häuser, Schilder und Litfaßsäulen."
Polens Wirtschaft boomt vor allem in den Regionen rund um die großen Städte, wo sich internationale Konzerne mittlerweile um Grundstücke reißen. Als ganz heißer Standort-Tipp gilt zum Beispiel Breslau, mit nur noch vier Prozent Arbeitslosen. Autobauer wie Volvo oder Toyota und Hersteller von Elektronik- und Haushaltsgeräten haben sich hier niedergelassen, so auch das koreanische Unternehmen LG, das in einem riesigen Werk Fernseher und Kühlschränke produziert.
Boomtown Breslau - und das erklärt gewiss auch ihre Attraktivität für Weltkonzerne - ist eine auffallend junge Stadt mit 130.000 Studenten an 22 Hochschulen.
AUFBRUCHSTIMMUNG IN POLEN - JAKUB OBARZANEK, SELBSTÄNDIGER
Die schwarze Laptop-Tasche über der Schulter eilt Jakub Obarzanek durch die quirlige Innenstadt von Wroclaw, zu deutsch: Breslau. Vorbei an Banken und Reisebüros. An eingerüsteten Altbauten. Und jungen Frauen, die Reklamezettel verteilen. Für berufsbildende Schulen.
"Die meiste Zeit arbeite ich im Zentrum, hier ist alles innerhalb von fünf bis zehn Minuten zu Fuß zu erreichen", sagt der 27-jährige Jakub. Und blickt auf die Uhr. Eine dreiviertel Stunde hat er Zeit. Dann wartet der nächste Termin:
"Ein Restaurant-Manager hier aus Wroclaw, er möchte gerne bei uns werben. In unserem Wroclaw-Führer. Wir wollen die Konditionen besprechen. Und ich hoffe, dass wir einen Vertrag abschließen können."
Zu dem Meeting aber will er lieber allein gehen. Der Kunde ist noch neu.
Wieder blickt Jakub auf die Uhr - überlegt kurz. Steuert dann zielstrebig den Eingang eines internationalen Hotels an.
Jakub Obarzanek setzt sich in einen der schwarzen Ledersessel in der Hotel-Lobby.
Er stellt die Laptop-Tasche neben sich und ordert ein stilles Wasser mit Zitrone. Der studierte Kulturwissenschaftler trägt eine dunkle Tuchhose, schwarzes Hemd und hochglanzpolierte Lederschuhe - ganz jung-dynamischer Geschäftsmann:
"Bei mir war alles ein bisschen schwierig. Wegen meines Studiums. In Polen war es sehr schwer als Kulturwissenschaftler eine Arbeit zu finden. Deshalb habe ich gedacht: Gut, dann muss ich mir eben selbst etwas organisieren."
Jakub lacht und errötet. Sein jungenhaftes Äußeres steht im Kontrast zu seiner pointierten, konzentrierten Sprechweise. Früher, in den Semesterferien hat er in England gejobbt. Nach dem Studium nutzte er seine Kontakte. Gründete mit einer polnischen und zwei englischen Freunden "Workaffairs". Eine Online-Arbeitsvermittlung, die sich darauf spezialisiert gut bezahlte Jobs in England zu vermitteln. In der Gastronomie etwa oder in der Landwirtschaft. Und nicht nur für Studenten.
"Als wir mit der Arbeitsvermittlung begannen, hatten wir 200 Bewerber auf jede Stelle, die wir ausschrieben. Uns fällt aber zunehmend auf, dass die Zahl der Bewerber immer kleiner wird. Statt 200 Bewerber wie früher, haben wir jetzt pro Stelle 20 oder 30. Was zeigt, wie sich die Situation geändert hat."
Die Vermittlung läuft nicht mehr so reibungslos. Das Geschäft wird zunehmend schwieriger, sagt Jakub.
"Ich muss sagen, Großbritannien ist bei den Polen nicht mehr so beliebt wie früher. Ein Grund ist der starke Zloty. Er wird immer stärker und stärker. Die Gehälter in Großbritannien dagegen sind weitgehend gleich geblieben wie vor ein, zwei Jahren. Deshalb versuchen viele polnische Studenten jetzt woanders Geld zu verdienen."
Außerdem zieht die Wirtschaft an. Die polnischen Unternehmen bieten - wegen des Arbeitskräftemangels - deutlich höhere Löhne als noch vor zwei, drei Jahren. Jakub Obarzank nimmt noch einen Schluck Mineralwasser. Dann rechnet er vor:
"Nehmen wir einfache Arbeiten, zum Beispiel ein Restaurant-Besitzer, der einen Kellner sucht. Vor drei oder vier Jahren musste man einem Kellner fünf oder sechs Zloty pro Stunde bezahlen. Jetzt muss man mehr als zehn Zloty zahlen. Sonst findet man niemanden."
Wenn aber immer mehr zu Hause, in Polen bleiben, um dort zu arbeiten, dann schrumpfen auch Jakubs Chancen mit seiner Arbeitsvermittlung Geld zu verdienen.
"Früher oder später musste ich mich nach etwas anderem umsehen"
Der junge Mann springt auf, zieht aus einem Ständer gleich neben dem Rezeptionstresen einen lilafarbenen Faltplan. "Guide" ist darauf zu lesen.
"Mit einer britischen Werbefirma zusammen entwickeln wir einen Internet-Führer für alle Ausländer, die nach Wroclaw kommen", sagt Jakub. Das Internetportal und der Flyer zeigen angesagte Bars, schicke Läden, internationale Restaurants.
"Mehr und mehr ausländische Besucher kommen jetzt nach Polen. Aus Deutschland, Großbritannien oder aus Irland und natürlich auch von außerhalb Europas. Ich glaube, es ist jetzt besser, in Wroclaw zu bleiben weil sich hier jetzt viel Geld verdienen lässt. Da macht es einfach keinen Sinn, ins Ausland zu gehen."
Das ist der neue Plan, sagt Jakub. Der Englisch genauso schnell und fließend spricht wie Polnisch, außerdem noch ein wenig Deutsch. Aber auch seinen anderen Job, die Arbeitsvermittlung, hat er noch nicht ganz abgeschrieben. 2012 soll in Polen und in der Ukraine die Fußball-Europameisterschaft ausgetragen werden. Gleichzeitig finden in London die Olympischen Spiele statt. England wird versuchen die polnischen Bauarbeiter im Land zu halten, sagt Jakub. Mit höheren Löhnen vermutlich. Polen wird sich woanders nach Arbeitskräften umschauen müssen, glaubt er und lächelt:
"Wir werden wahrscheinlich Chinesen einstellen müssen. Ich habe schon eine ganze Menge Anzeigen gesehen, einige chinesische Firmen bieten sehr erfahrene Bauarbeiter an. Die müssen wir uns früher oder später holen... "
In Wien wohnt Waldemar aus Warschau mit Lothar und Bolek in einer Wohnung, die Frau Simacek vermietet, eine ebenso geldgierige wie vernaschte Person:
"Frau Simacek mampfte das Kipferl unter großem Appetit auf und sprach endlich das aus, worauf wir ungeduldig warteten. "Von mir aus können Sie bleiben, Waldi. Nur zahlen müssen Sie gleich heute." Sie nahm einen Schluck Kaffee und wischte sich die Hände ab. "Na ja, ist ja wahr. Ich hab nichts gegen Ausländer. Im Gegenteil, ich find, die Wiener sollten richtig froh sein, dass die Ausländer zu uns kommen und uns die schwersten Hacken abnehmen. Klo putzen, Straßen kehren und Zeitungen verkaufen, das ist nichts für uns, weil wir ja so feine Leute sind. Und trotzdem haben wir die Ausländer nicht besonders gern. Es liegt daran, dass viele Schlawiner zu uns kommen und euch, den guten Ausländern, den Ruf verderben. Die arbeiten hier ein bisschen, päppeln drüben in Rumänien mit unseren Kinderbeihilfen ihre Geschroppen auf, damit die schnell groß werden und unseren Julius Meinl ausräumen können. Aber ich weiß, dass es auch brave wie euch gibt. Bolek ist Diplomingenieur und wird immer kräftiger, und der Lothar geht auf die Uni und spricht schon so gut Deutsch. Und wegen euch wähl ich die FPÖ Damit nicht noch mehr Neger ins Land kommen und euch die Arbeit wegnehmen. Denn ohne Arbeit gibt es kein Geld, und ohne Geld habt ihr nichts zum Beißen, könnt ihr keine Miete zahlen und müsst am Ende an der Kärntnerstraße Blockflöte spielen."
Bei aller Euphorie über den wachsenden Wohlstand kritisieren Ökonomen jedoch, dass die Milliarden, die die Arbeitsmigranten pro Jahr im Ausland verdienen, meistens in den privaten Konsum gesteckt, aber nicht in die Zukunft investiert werden. Bislang gebe es zu wenig Wagemutige, die zielstrebig sparten, um sich später einmal zu Hause selbständig zu machen. Auch seien die Folgen der Arbeitsmigration für die regionale Entwicklung noch kaum wissenschaftlich untersucht: Was bedeutet es zum Beispiel, wenn auf den Dörfern hauptsächlich Alte und ganz Junge zurückbleiben?
Studzieniec ist eines der Straßendörfer, wie es sie in Westpolen zu Tausenden gibt. Ein Ort, durch den die PKWs und Laster brettern, weil die Fahrer den Fuß nicht vom Gaspedal nehmen:
KEIN FORTSCHRITT - IM DORF STUDZIENIEC
Handy in der einen, Handtasche in der anderen Hand - so stehen Beata und Sandra am Straßenrand. Und warten auf den Bus. Hier, in Studzieniec? Tote Hose, sagen die beiden. Und verdrehen die Augen. Nicht einmal eine richtige Bushaltestelle gibt es. Nur plattgetretenes Gras vor einem verfallenden Backsteingehöft. Viele sind im Ausland.
"Meine Mutter arbeitet gerade in Deutschland. Und ich fahre auch nächsten Sonntag dahin, um zu arbeiten", sagt Sandra. Dann rückt sie die riesige dunkle Sonnenbrille zurecht, dreht mit ihren langen, lackierten Fingernägeln an den nachgemachten Chanel-Ohrringen. Ihre Freundin Beata nickt: Auch ihr Bruder ist weg. Geldverdienen für die Familie. Denn hier, in Studzieniec gibt es keine Arbeit. Oder nur schlecht bezahlte."
Der Bus stoppt vor den beiden Mädchen. Sie klettern in das betagte Gefährt, das sie in die nächstgelegene Kleinstadt bringen wird.
Hundert Meter von der Bushaltestelle entfernt sitzt Wacek auf einem verblichenen Plastikstuhl vor einem grauen Flachbau aus bröselndem Beton - dem Dorfladen. Der Gemeindearbeiter schiebt sich eine Zigarette in den zahnlosen Mund. Hustet und flucht:
"Natürlich, natürlich sieht man, dass die jungen Männer fehlen. Wenn Tanz ist, dann sehe ich: Der fehlt, der fehlt, der fehlt..."
Er kennt allein 15, 20 Leute aus dem kleinen Dorf, die gerade im Ausland arbeiten. Wacek beugt sich ein wenig nach vorn:
"Aber darüber spricht man nicht. Sie erzählen nichts darüber. Na ja, sie wissen schon, der eine arbeitet legal, der andere schwarz. Und dann das Finanzamt... sie wissen schon..."
Viele sind offiziell arbeitslos gemeldet. Oder haben Angst vor dem Finanzamt, glaubt Wacek.
"Wenn ich eine Chance hätte, ich würde hier sofort alles hinschmeißen. Hier verdiene ich zwischen 800 und 900 Zloty, umgerechnet etwa 250 Euro. Pro Monat. Und im Ausland hatte ich 350 Euro wöchentlich. Aber dafür musste ich 10 bis 12 Stunden arbeiten, das ist klar."
Sieben Jahre lang hat er jede Sommersaison in Deutschland gearbeitet. Dann hat sein deutscher Chef gesagt: Er bräuchte nicht wiederzukommen. Er sei zu alt:
"Der Deutsche möchte junge, starke und dumme. Das ist die Wahrheit, wir müssen nicht lügen."
Ich werde dem Deutschen nicht die Hände küssen, damit er mich behält, murmelt Wacek. Und wischt sich mit dem Ärmel des staubig-schwarzen T-Shirts über das wettergegerbte Gesicht. Klar, sagt er, gibt es Neid, zwischen denen, die fahren und denen die bleiben:
"Gibt's, gibt's, gibt's. Wenn jemand kommt und ein paar Euro mitbringt, dann steckt er es sofort in die Wohnung, in das Haus, wechselt die Möbel. Und dann gibt es sofort Gerede: Oh, der ist für ein, zwei Monate hingefahren und hat etwas für sich gekauft. Und den nächsten trifft schon der Schlag."
Wacek steckt die Zigarette in den zahnlosen Mund, hustet und nickt kurz in Richtung eines kleinen, leicht gebückt gehenden Mannes, der sich mit schnellem Schritt nähert. Es ist Stanislaw Malinowski, der Bürgermeister von Studzieniec.
"Ich würde sagen, neidisch ist eigentlich jeder Pole. Da rührt jemand keinen Finger, aber wenn er sieht, dass ein anderer mehr hat, ist er sofort neidisch. Und so ist es auch in Studzieniec."
Etwa 75 Dorfbewohner arbeiten mehr oder weniger regelmäßig im Ausland, glaubt Malinowski. 750 Einwohner zählt das Dorf, vom Kind bis zum Greis.
"Wir kürzen hier ab", sagt der Bürgermeister und schreitet einen Trampelpfad voran. An rostigen Metallzäunen entlang, hinter denen niedrige Häuschen stehen. Früher, erzählt Malinowski, gab es hier eine landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft. In den 90er Jahren ging alles den Bach runter. Damals fuhren die ersten gen Westen.
Malinowski blickt nach links und rechts. Von Reichtum ist auch heute nichts zu sehen. Ein wenig neuer Putz hier, ein kleiner Anbau dort - das im Ausland verdiente Geld fließt - an der Steuer vorbei - in den privaten Konsum:
"Aber dass sie etwas im Westen gelernt haben und etwas Neues in unserem Dorf einführen - das sieht man nicht."
Das Dorf als Ganzes profitiert kaum von der Arbeitsmigration. Bislang hat noch keiner ein Geschäft eröffnet oder einen kleinen Betrieb gegründet. Bürgermeister Malinowski schüttelt traurig den Kopf:
"Also gerade in Studzieniec sieht man nicht, dass jemand mit Geld gekommen ist und investiert hat. Wir bedauern, dass wir keine kleinen Betrieben haben, auch keine Ein-Mann-Firmen. Außer einer Transportfirma und dem Hähnchenmast-Betrieb haben wir hier gar nichts. Das ist alles, was uns geblieben ist."
Was ist dran an der in Polen so gern beschworenen Rückkehrerwelle? Die Britisch-Polnische Handelskammer schätzt, dass allein im zweiten Halbjahr 2007 etwa 10 000 Polen den Weg zurück in ihre Heimat angetreten haben. Andere halten diese Zahl für übertrieben, räumen aber ein, dass der Trend sich umzukehren beginne: Demnächst gäbe es mehr Heimkehrer als Auswanderer. Die Regierung Tusk tut das Ihrige dazu und lockt die Auslandspolen mit Anreizen wie Steueramnestie und Unterstützung bei Firmengründungen. Doch 'Geld ist nicht alles' argumentieren viele, die sich an den frischen Wind in einem offenen, liberalen System gewöhnt haben und mit der Rückkehr in das enge Milieu Polens zögern.
Zielona Gora, zu deutsch Grünberg, im polnischen Westen, 120 000 Einwohner. An einer vielbefahrenen Ausfallstraße liegt die Bar 'Centrala'.
ZWISCHEN HEIMWEH UND ZUKUNFTSANGST - DARIA WAPINSKA,
HOCHSCHULABSOLVENTIN
Daria Wapinska legt das Handy beiseite und lächelt:
"Ich habe kurz mit meinen Freunden in Liverpool telefoniert,"
sagt die 29-Jährige. Greift ihr Glas und trägt es hinaus in den Biergarten.
Drei ihrer Freunde, hier aus Zielona Gora, leben heute in Liverpool, vier in London, wie sie selbst, erzählt Daria. Während sie nach einem freien Platz Ausschau hält.
"Sechs oder sieben wohnen in Hastings, am Meer. Also ich kenne ziemlich viele Leute aus der Gegend hier, die jetzt dort leben. Aber ich habe in England auch viele andere Polen getroffen: Aus Breslau, aus Posen oder Bydgoszcz, aus ganz verschiedenen Städten."
Daria setzt sich unter einen großen Sonnenschirm mit polnischer Bier-Reklame.
Früher, sagt sie, habe sie hier gekellnert. Um sich ihr Studium zu finanzieren.
Die junge Frau zündet sich eine Zigarette an. Und dreht versonnen an dem kleinen, silbernen Stecker unter ihrer Lippe:
"Das macht das verrückte Heimweh. Ich hatte einfach Heimweh und dachte mir, vielleicht - wenn mir meine Haut ein wenig weh tut, dann schmerzt mein Herz nicht mehr so sehr. Ich habe einfach meine Familie so sehr vermisst. Und der kleine Stecker bleibt nun und erinnert mich daran."
Heimweh nach ihren Eltern und ihren drei Geschwistern. Sie kneift die braunen Augen mit dem roten Liedschatten ein wenig zusammen. Zupft an einer Strähne ihres fransigen Kurzhaarschnittes.
"Leise: Yes, it is like that. Ooh I am crying sometimes horrible... Because I am here now and I am happy."
Manchmal muss ich schrecklich weinen. Aber jetzt geht es mir gut, weil ich Urlaub habe und zu Hause in Polen bin, sagt Daria. Und zieht an ihrer Zigarette. Vor vier Jahren kehrte die damals arbeitslose Hochschulabsolventin ihrer Heimat den Rücken. Und stieg in ein Flugzeug nach London. Um Englisch zu lernen und neue Leute zu treffen:
"Meine Freunde waren schon dort. Deshalb dachte ich: Das ist vielleicht eine Chance, ein Jahr dort zu bleiben, ein paar Sprachkurse zu absolvieren und dann zurückzukehren. Aber leider - ich bin nicht zurückgekehrt."
Daria arbeitet zunächst als Kindermädchen, findet dann einen Job als Unterrichts- -Assistentin an einer Ganztagsschule. Eine Arbeit, die ihr Spaß macht. Viel mehr Spaß als ihr Studium des "Öffentlichen Rechts und der Verwaltung" in Polen.
"Ich mag eine ganze Menge an England. Besonders das Multikulturelle. Man trifft viele Leute mit ganz verschiedener Herkunft. Da kann man eine Menge lernen."
Einerseits. Andererseits: "Es ist der gleiche Überlebenskampf wie hier, in Polen", sagt sie:
"Ich verdiene 290 Britisch Pfund in der Woche. Und ich arbeite zusätzlich abends. Meine Wohnung kostet mich 165 Pfund in der Woche. Plus Nebenkosten. Plus die anderen Ausgaben, das sind noch einmal 100, 120 Pfund pro Woche. Man kann in der Woche vielleicht 20 Pfund sparen. Na ja, ich spare 50 Pfund pro Woche."
Umgerechnet etwa 60 Euro kann Daria pro Woche zurücklegen. Finanziell lohnt sich das nicht wirklich. Aber Daria möchte noch in London studieren, um später in Polen als Englisch-Lehrerin arbeiten zu können. Und dann ist da noch Majo. Ihr Freund. Ein gebürtiger Rumäne, der sei elf Jahren in London lebt und eigentlich nicht weg will. Dabei wären gerade jetzt die Bedingungen günstig. Für einen Neustart in Polen. Denn Majo ist Handwerker.
"Ich glaube, er würde hier problemlos eine Arbeit finden. Es wäre einfach für ihn, weil viele Handwerker nach Großbritannien gegangen sind. Ich denke, es wäre eine gute Zeit, um zurückzukommen. Ich glaube, ich muss die Gelegenheit am Schopf packen... "
Daria ist hin- und hergerissen. So wie fast alle ihre polnischen Freunde in England:
"Jede Woche ist es anders in deinem Kopf. Ich gehe zurück - ach, nee, ich gehe nicht zurück, ich bleibe lieber noch. Wenn ich wieder in London bin, beginnt nach drei, vier Tagen die Routine. Alles ist okay. Aber drei Monate später möchte ich wieder nach Hause."
Sie hat Angst, den Absprung zu verpassen. Jetzt, wo die wirtschaftliche Situation in Polen günstig ist. Andererseits - zurück aus dem bunten, multikulturellen London in ihre graue, polnische Heimatstadt?
"Im Grunde habe ich natürlich auch Angst zurückzukommen. Weil ich nicht weiß, ob ich das Leben hier aushalte. Ob ich nicht England vermissen werden. Meinen Lebensstandard dort und alles..."
Daria zuckt ratlos mit den Schultern. Fest steht nur eins: In zwei Tagen ist ihr Urlaub zu Ende, dann wird sie zurück nach London fliegen. Und während des Fluges ab und an an dem kleinen silbernen Heimweh-Stecker unter ihrer Lippe drehen.
Gesichter Europas: Auf und davon - Polen und die Folgen der
Abwanderung. Die Autoren der Reportagen waren Anja Schrum und Wojtek Mroz. Babette Michel suchte die Musik aus. Die Literaturauszüge stammten aus dem Roman 'Herrn Kukas Empfehlungen' von Radek Knapp, erschienen im Piper Verlag, München 1999. Gesprochen wurden sie von Philipp Schepmann. Am Mikrophon war Brigitte Helfer
"Leider war es nicht abzusehen, dass so viele und begabte Leute unser Land verlassen würden, und jetzt stehen wir vor dem Problem: Wie finden wir Fachkräfte? Weil die Mehrheit der Facharbeiter aus der Baubranche, aber auch Informatiker oder Ärzte Polen verlassen haben."
Und eine Großmutter, der es keine Probleme bereitet, sich um ihre Enkelinnen zu kümmern:
"Ich war sogar dafür, dass meine Schwiegertochter auch nach Holland fährt. Ich wollte, dass die jungen Leute etwas erreichen. Als mein Sohn in Polen gearbeitet hat, da waren wir sehr arm. Und jetzt sehe ich, dass sie anständig Urlaub machen können. Also ich habe nie gedacht, dass ich es nicht schaffe mit den Enkeln. Noch heute würde ich das schaffen."
Gesichter Europas: Auf und davon - Polen und die Folgen der Abwanderung. Mit Reportagen von Anja Schrum und Wojtek Mroz. Am Mikrophon begrüßt Sie Brigitte Helfer
Am 1. Mai 2004 trat Polen der Europäischen Union bei - ein Datum, das quasi der Startschuss für eine neue Wanderbewegung wurde: die Arbeitsmigration Richtung Westen, vorzugsweise nach England und Irland. Der Grund: Beide Länder trachteten nach der ersten Runde der EU-Osterweiterung nicht danach, ihre Arbeitsmärkte vor Menschen aus den neuen Mitgliedsländern abzuschotten. Und so zieht es seitdem vor allem jüngere Polen zu Hunderttausenden dorthin - Schätzungen des Warschauer Arbeitsministeriums sprechen von knapp zwei Millionen, andere sogar von fast vier Millionen, die jenseits der Grenze ihren Lebensunterhalt verdienen. Das wären immerhin fast zehn Prozent der gesamten Bevölkerung.
Viele dieser polnischen Gastarbeiter kommen nur noch zu Kurzbesuchen in die Heimat. Und so trifft man vor allem an den Wochenenden auf die Karawane der Arbeitsmigranten - sei es auf Flughäfen, Busbahnhöfen oder Raststätten.
Die A2/E30, die Hauptverkehrsstrecke von Polen gen Westen, führt von Warschau über Poznan (auf deutsch Posen) nach Frankfurt/Oder. Etwa 70 Kilometer vor der Grenze nach Deutschland liegt die Raststätte Nevada, für etliche Reisende der letzte Stopp in Polen.
DIE KARAWANE GEN WESTEN - AN DER RASTSTÄTTE NEVADA
Freitagabend, 20 Uhr. "Bitte die 95zig abholen" schallt es aus einem Lautsprecher über den Rastplatz. Dicht an dicht stehen die PKW und Kleinbusse. Eine Frau drückt schnell ihre Zigarette aus, eilt in das flache Gebäude. An dem steht in roten Leuchtbuchstaben: "Nevada - 24 Stunden - Restaurant - Supermarkt".
Ein junger Mann schiebt einen Einkaufswagen neben sein Auto. Hievt ein großes Glas eingelegte Paprika in den Kofferraum. Robert ist auf dem Weg zur Arbeit. Ins gut 900 Kilometer entfernte Belgien.
Zwei Wochen sitzt der 32jährige dort hinter dem Lenkrad eines belgischen LKW. Danach hat er eine Woche frei.
"Seit 2002 arbeite ich im Ausland. Ich habe in Belgien angefangen, dann war ich in Holland und Norwegen und jetzt bin ich wieder zurück in Belgien."
Robert legt ein Zehnerpaket Eier in den Kofferraum. Dazu drei Brote. Günstige Verpflegung für die gut bezahlte Arbeit im Westen.
Im Minutentakt rollen Reisebusse, Transporter oder PKW auf den Parkplatz. Manche der Wagen haben niederländische oder britische Nummernschilder. "Linienverkehr nach Holland" steht in der Frontscheibe eines Busses. Die Reisenden eilen in Richtung Rasthaus. Um kurze Zeit später wieder aufzutauchen, mit Plastiktüten voller Lebensmittel und Zigaretten.
Die Männer lachen. Auch sie fahren arbeiten:
"Do Luxemburga. Do Francia. Do Hollandia"
Ein silberner Transporter mit verspiegelten Scheiben schiebt sich in die Parklücke. "Trans Voyager" steht an der Hecktür. "Polen - Deutschland - England". Fünf junge Frauen und Männer steigen aus, eilen in Richtung der Toiletten. Ein Grauhaariger vertritt sich die Beine. Heute morgen um sieben ist der Mini-Bus in Lublin, im Osten Polens, gestartet, erzählt Krzistof. Am nächsten Mittag wird er in London eintreffen:
"Pracuje - ich arbeite"
Arbeiten - in einem Supermarkt, sagt Krzistof. Zwei, drei Mal pro Jahr fährt er nach Hause, zu Frau und Kindern. Umgerechnet 100 Euro kostet eine Strecke mit dem Minibus.
"Duze Polakow..."Viele Polen fahren nach Holland, nach Deutschland oder nach England, um zu arbeiten", sagt er. "Die Bezahlung dort ist einfach besser." Dann macht auch er sich Richtung Rasthaus auf. Polnischen Proviant kaufen für die lange Reise zur Arbeit.
Auch Waldemar aus Warschau will in den Westen und lässt sich - ahnungslos wie er ist - Tipps von einem heruntergekommenen aber westerfahrenen Nachbarn geben. 'Herrn Kukas Empfehlungen' - so der Titel des Romans von Radek Knapp - führen ihn für acht aufregende Wochen nach Wien. Doch erst einmal gilt es, Herrn Kukas wichtigste Lektionen zu lernen.
"Dann hör jetzt mal gut zu, denn was du jetzt erfährst, steht weder in einem Reiseführer geschrieben noch sonst wo. Das muss erst geschrieben werden. Bevor unser Elektriker den Kommunismus kurzgeschlossen hat, waren die Deutschen sehr gut zu uns. Vielleicht hatten sie noch Gewissensbisse wegen des zweiten Weltkriegs, ich weiß es nicht. Jedenfalls griffen sie dir gleich unter die Arme, wenn sie hörten, dass du aus Polen kommst. Das war im ganzen Westen so. Aber dann kam die Wende, und plötzlich wurden die Dörfler aus ganz Polen über Nacht Europäer. Sie fuhren hinüber und begannen zu klauen, was nur ging. Die Westler kamen mit dem Schauen nicht nach, und die Deutschen führten sogar ein Visum ein, weil sie sonst ihren Mercedes auf die Liste der vom Aussterben bedrohten Arten hätten setzen müssen. Von da an wusste im Westen jeder, dass wir alles sind, nur keine Europäer. Deshalb darfst du niemals zugeben, woher du wirklich kommst. Sogar wenn sie dich foltern, sag, du bist aus England oder meinetwegen China. Beim Wort Polen kannst du gleich wieder nach Hause gehen."
Es waren nicht nur die Ungelernten und Geringverdiener, die eine Zeit lang der Heimat den Rücken kehrten, um sich im Ausland als Spargelstecher oder Erdbeerpflücker zu verdingen.
Zunehmend trieben schlechte Verdienstmöglichkeiten und Perspektivlosigkeit auch Akademiker und Facharbeiter in die Fremde. Mit der Folge, dass überall Fachkräfte fehlen. Eine Studie der polnischen Nationalbank stellt fest, dass inzwischen die Hälfte aller Unternehmen im Land sich schwer damit tut, qualifiziertes Personal zu finden. Der polnische Arbeitgeberverband schlug bereits im vergangenen Jahr Alarm wegen Mangels an Spezialisten.
In den Handwerksberufen und besonders auf dem Bau sind Arbeitskräfte so knapp geworden, dass auch Polen die Regelungen für Gastarbeiter lockern musste - so zum Beispiel für Russen, Weißrussen und Ukrainer. Und jetzt auch erwägt, unter bestimmten Bedingungen Chinesen zu beschäftigen.
Denn mittlerweile hat sich das Blatt gewendet: Polens Wirtschaft erholte sich, die Arbeitslosenquote sinkt seit Jahren rapide, der Konjunkturmotor brummt.
Wie zum Beispiel bei "Diehl Controls Polska" in Namyslow, einer 17.000-Einwohner-Stadt circa anderthalb Autostunden
von Wroclaw - auf deutsch Breslau - entfernt. Neben dem alten Industriegebäude am Stadtrand parkt ein LKW; früher wurden hier Anlasser und Lichtmaschinen für die polnische Autoindustrie produziert. Seit 2004 gehört das Unternehmen einem deutschen Konzern:
FACHKRÄFTE VERZWEIFELT GESUCHT - DIE FIRMA 'DIEHL
CONTROLS POLSKA' IN NAMYSLOW
"My jemy... Okay? "
"Wir gehen?" sagt Roy Heynlein auf Polnisch. Marek Wozniak nickt. Die beiden Geschäftsführer von "Diehl Controls Polska" ziehen sich ihre weiße Kittel über und machen sich auf den Weg in die Fertigungshalle.
Es geht eine Treppe hinab, in den schlichten Eingangsbereich des Unternehmens. Vorbei an einer einzelnen Glasvitrine. In der liegen die kleinen Elektronikkomponenten, die das Werk produziert. Steuerungen für Waschmaschinen, Trockner oder Geschirrspüler.
Am Eingang zur Produktionshalle stellt sich Marek Wozniak auf eine glänzende Metallplatte. Drückt mit dem Daumen auf einen Metallknopf.
"Pan Heynlein.. wszystko ist okay... Dobra..."
Es piept, eine Lampe leuchtet grün. Das bedeutet: Keine gefährliche elektrostatische Aufladung. Wozniak und Heynlein nicken zufrieden. Sie dürfen weitergehen.
Eine riesige, helle Halle voller hochmoderner Maschinen. Neben den Automaten stehen junge Frauen in Kitteln und Hauben, füllen Leiterplatten nach. Die Platten werden mit Elektronikbauteilen bestückt. Vollautomatisch. Das Werk produziert rund um die Uhr. Die Auftragsbücher sind gut gefüllt. Trotzdem kann sich Geschäftsführer Wozniak nicht entspannt zurücklehnen.
In der Region sind keine Fachkräfte mehr aufzutreiben. Null, resümiert der Ingenieur mit dem grauen Schnautzer.
"Das Problem in Namyslow ist, dass auch andere Firmen hier sitzen. Die Firma Velux zum Beispiel. Oder Nestlé - die Firma hat als erste hier bei uns investiert. Die lokalen und die ausländischen Firmen haben den örtlichen Fachkräftemarkt leergefegt."
"Diehl Controls Polska" schaltet Annoncen, wirbt in Internet-Portalen, beauftragt sogar Headhunter. Um IT-Spezialisten oder Vertriebslogistiker hierher, in die ländliche Kleinstadt zu locken. Doch bislang nur mit mäßigem Erfolg. Denn in ganz Polen gibt es derzeit einfach zu wenige Fachkräfte, sagt Marek Wozniak.
"Leider war es nicht abzusehen, dass so viele junge und begabte Leute unser Land verlassen würden und jetzt wir stehen vor dem Problem: Wie finden wir Fachkräfte? Weil die Mehrheit der Facharbeiter aus der Baubranche, aber auch Informatiker oder Ärzte Polen verlassen haben."
Noch vor wenigen Jahren war das undenkbar, so Wozniak. Die 90er Jahre waren sehr, sehr schwer, erinnert sich der Ingenieur. Damals musste er hunderte Angestellte entlassen. Dann aber kam Polens Beitritt zur EU, die Übernahme des Unternehmens durch eine deutsche Firma. Der Wirtschaftsboom. Innerhalb von fünf Jahren hat sich die Zahl der Angestellten vervierfacht. Von 220 auf jetzt 827 Mitarbeiter.
Wozniak und Heynlein bleiben vor einem großen, grauen Automaten stehen. Unter einer Glasabdeckung surren Leiterplatten hin und her. Roy Heynlein:
"Das ist mein ganzer Stolz diese Maschine, das ist ein Siemens-Bestücker. Wie diese Maschine arbeitet, das begeistert mich."
Heynlein nickt kurz der jungen Frau hinter dem Bestücker zu. Noch hat das Unternehmen keine Schwierigkeiten, Arbeitskräfte für die Fertigung zu finden. Weil es vor allem junge Frauen beschäftigt, die Familie haben und deshalb relativ standorttreu sind. In Boomregionen wie Wroclaw, zu deutsch: Breslau, aber sind auch einfache Arbeitskräfte Mangelware, sagt der kaufmännische Geschäftsführer:
"Aufgrund der Tatsache, dass natürlich Angebote von Wettbewerbern, die auch Leute suchen, keine 300 Meter entfernt verfügbar sind und damit natürlich die Arbeitskräfte, wenn sie ein entsprechendes Angebot bekommen, 50 Zloty mehr zu verdienen, sehr schnell entschlossen sind, den Arbeitsplatz aufzugeben und in die Firma nebenan zu wechseln."
Wie rasant sich die Nachfrage nach Arbeitskräften entwickelt hat, zeigen auch die Arbeitslosenzahlen, sagt Marek Wozniak und geht weiter:
"Ich kann Beispiel geben - Polnisch weiter: Vor zwei bis drei Jahren lag hier in Namyslow und Umgebung die Arbeitslosigkeit bei ca. 20 Prozent. Jetzt beträgt sie in ganz Polen zehn Prozent. Bei uns hier auch. Deshalb müssen wir Arbeitskräfte herlocken, die 40, 50 Jahre alt sind, weil nur solche Arbeitskräfte überhaupt noch verfügbar sind auf unserem Arbeitsmarkt."
Roy Heynlein nickt heftig:
"Locken, locken...!"
Locken - mit guten Löhnen natürlich. Doch Gehälter wie in Deutschland oder Großbritannien kann das Unternehmen nicht zahlen. Dann würde ja der Wettbewerbsvorteil als Niedriglohn-Standort verloren gehen. Deshalb wirbt man mit einem guten Betriebsklima, Weiterbildungsangeboten und Aufstiegschancen. So ist es auch gelungen einen jungen Logistikspezialisten aus Breslau zu gewinnen.
"Wo finden wir …"
Marek Wozniak überlegt kurz, dann steuert er die Büroräume gleich links neben der Produktion an. Hinter einer der großen Glasscheiben erblickt er den neuen Mitarbeiter, winkt ihn heraus. Tomasz Mroz ist gerade auf dem Weg zu einer Telefonkonferenz:
"Diese Firma ist international bekannt, wir kooperieren mit verschiedenen internationalen Partnern. Man schwimmt nicht immer in der eigenen Soße. Ich kann hier die Entstehung des Produkts von der Materiallieferung über die Herstellung bis zum Versand des fertigen Produkts begleiten."
Marek Wozniak blickt zufrieden auf den jungen Mann. Nickt. Was weder er noch sein Kollege Heynlein zu diesem Zeitpunkt ahnen: Drei Tage später wird der junge Logistikspezialist, den das Unternehmen so händeringend gesucht hat, kündigen. Er hat ein besseres Angebot erhalten. Von einer Firma aus Breslau.
Die erfreulichen Auswirkungen der Arbeitswanderung auf die polnische Wirtschaft sind beträchtlich: Neben steigenden Löhnen stärkt sie auch mit ihren milliardenschweren Überweisungen die heimische Währung. Soweit das Ökonomische.
Aber es gibt eben auch Belastendes, das zahllose Familien strapaziert: Ehepaare leben - unterbrochen von kurzen Stippvisiten - jahrelang getrennt voneinander, Kinder wachsen mit nur einem Elternteil auf, werden von Großmüttern und älteren Geschwistern erzogen und manchmal sogar ins Heim abgeschoben. Lehrer behaupten, die betroffenen Kinder seien häufig schwierig und verhaltensauffällig.
Ein Besuch im orangefarbenen Plattenbau eines kleinen Dorfes, wo die Familie Kuzma wohnt. Vater Benedikt, der in Holland arbeitet, kommt normalerweise nur am Wochenende, hat aber jetzt Urlaub:
FAMILIENLEBEN AUF DISTANZ - ZUHAUSE BEI DEN KUZMAS
Durch ein graues Treppenhaus geht es hinauf in den ersten Stock. Links steht die Wohnungstür offen. Gibt den Blick frei auf einen breiten Flur mit hell glänzenden Fliesen. Bitte, kommt herein, sagt Benedikt Kuzma. Der breitschultrige 43-Jährige mit dem modischen Ziegenbärtchen macht eine einladende Handbewegung in Richtung Küche.
In der geräumigen Einbauküche mit den hellen Holzschränken setzt Ehefrau Beata gerade Wasser für den Kaffee auf. Oma Francsizka lehnt an einem Regal aus Chrom und Glas, auf dem drei Handys liegen.
"Drei Söhne und das ist die Frau... "
"Ich habe drei Söhne" erzählt die 66-Jährige im orange-geblümten T-Shirt. "Alle arbeiten im Ausland, in Holland." Francsizka Kuzma erzählt das ganz selbstverständlich. Ohne eine Anflug von Bedauern in der Stimme:
"Wir haben hier damals zusammen gewohnt, mit diesem Sohn und mit seinen beiden Töchtern. Der zweite Sohn hat im Block nebenan gewohnt. Keiner hatte Arbeit, meine Schwiegertochter hatte auch keine Arbeit. Und ich bin Witwe, wir hatten nur meine Rente. Und sie wissen, als Mutter möchte man den Kindern helfen, aber mit diesen paar Groszy war nichts zu machen. Dann habe ich entschlossen gesagt: Ich bleibe gerne mit euren Kindern hier. Und so ist es passiert: Die kleine ist bei der Tante geblieben und die ältere bei mir. "
Kinga, die ältere, war sechs Jahre alt. Ihre Schwester Claudia vier. Jetzt sitzen die beiden nebenan, in einem Zimmer voller Spielzeug und einem Computer. Kramen aus einer Plastiktüte Barbie-Puppen hervor.
"Wenn Mama gefahren ist, hat sie angerufen und Bescheid gesagt, dass die Geschenke im Schrank sind", erzählt die elfjährige Claudia. - "Das war ein Trick, um die Kinder ein wenig abzulenken", sagt Beata und fügt hinzu: "Sie hat eine große Puppen-Sammlung".
Beata, 36, bittet auf dem modernen, vanillefarbenen Loungesofa im Wohnzimmer Platz zu nehmen. Sie stellt die Kaffee-Tassen auf einen japanisch anmutenden Holztisch. Über den Flachbildschirm an der Wand läuft eine Kinderserie. Fünf Jahre lang hat die zierliche Frau in demselben holländischen Schlachtbetrieb gearbeitet, indem ihr Mann noch heute als Vorarbeiter beschäftigt ist.
"Als ich das erste Mal gefahren bin - hätte es einen Bus gegeben, ich hätte mich auf der Stelle hineingesetzt und wäre zurückgefahren. Unter der Trennung hat am meisten die Kleine gelitten. Wenn wir weggefahren sind, hatte sie immer Tränen in den Augen."
"Meine Enkelinnen haben sich mit der Situation abgefunden", sagt Oma Franciszka bestimmt. Dass sie unter der Trennung gelitten haben, glaubt sie nicht. Sorge hatte sie vor allem um Sohn und Schwiegertochter. Die jedes Wochenende mit 180 Sachen über die Autobahnen rasten. Die resolute 66-Jährige muss die Tränen unterdrücken. Sie schluckt:
"Das ist doch klar, ich bin nie eingeschlafen bevor sie nach Hause gekommen sind. Manchmal haben sie mich angerufen, dass sie schon in der Nähe sind und wenn es dann lange dauerte, habe ich immer nervös gelauscht, ob ich das Auto hören kann. Die Kinder waren im Bett und ich habe immer gehorcht, ob sie kommen."
Oma Franciszka wischt sich eine Träne aus dem Auge. Dann gewinnt der Pragmatismus wieder die Oberhand. Anders, sagt die 66-Jährige, wären wir nicht zurecht gekommen.
"Ich war sogar dafür, dass meine Schwiegertochter auch nach Holland fährt. Ich wollte, dass die jungen Leute etwas erreichen. Als mein Sohn in Polen gearbeitet hat, da waren wir sehr arm. Und jetzt sehe ich, dass sie anständig Urlaub machen können. Also ich habe nie gedacht, dass ich es nicht schaffe mit den Enkeln. Noch heute würde ich das schaffen."
Schwiegertochter Beata blickt skeptisch hinter dem modischen Brillengestell, schiebt eine blonde Strähne hinters Ohr. Sagt aber nichts. Nimmt lieber noch einen Schluck Kaffe. Sie ist froh wieder zu Hause zu sein:
"Als wir am Wochenende hier waren, haben die Kinder über ernste Themen mit mir gesprochen. Sie haben mir über Schwierigkeiten in der Schule berichtet. Dann hatte ich Probleme mit meiner Jüngsten. Als ich aus Holland gekommen bin, hat sie zu mir "Tante" gesagt und sich dann verbessert und "Mama" gesagt. Weil sie die ganze Woche "Tante", "Tante" sagt."
Beata lacht jetzt darüber. Aber man ahnt: Das hat ihr weh getan. So weh, dass sie beschlossen hat zu Hause, in Polen, zu bleiben. Ihr Mann aber arbeitet weiterhin in Holland. Ihr Beziehung hält das aus, da ist sich Beata sicher. Obwohl sie viele anderen Beispiele kennt:
"Viele Frauen sind dageblieben und haben die Partner gewechselt. Und es gibt Frauen, die die Kinder verlassen haben, sie haben sie einfach bei dem Vater oder der Oma in Polen zurückgelassen. Den Mann kann ja verlassen, aber nicht die Kinder... "
Vater Benedikt lacht. "Was sagst du? Den Mann kann man verlassen?" Der 43-Jährige pendelt weiterhin. Jedes Wochenende 1.600 Kilometer.
"Herr Kuka hatte Recht. Uns Ostler faszinieren Dinge, die nicht in den Reiseführern stehen. Als unser Bus zwei Stunden später in Wien einfuhr, stach mir als erstes die Sauberkeit ins Auge. Dabei bin ich kein Sauberkeitsfanatiker wie meine Mutter, die jedem neuen Besen einen menschlichen Namen gibt, aber auf der Straße lag nichts, nicht einmal ein zufällig fallen gelassenes Papiertaschentuch. Als wäre gerade vor einem Moment ein riesiger Staubsauger vorbeigefahren und hätte alles, was nicht niet- und nagelfest war, in sich aufgesaugt.
Als nächstes fielen mir die Bäume auf, die entlang der Straße wuchsen. Sie waren gerade wie Laternen, und um jeden Baum herum war im Asphalt fein säuberlich ein Quadrat ausgeschnitten, in dem Erde und Dünger lagen, damit sich der Baum fühlte, als sei er im Wald. Dass aber diese Bäume nie einen Wald gesehen hatten, merkte man allein an ihren Ästen. Sie standen im rechten Winkel vom Stamm, was so ungefähr jedem Naturgesetz widersprach. Dafür aber fügten sie sich ideal in die allgemeine Symmetrie der Häuser, Schilder und Litfaßsäulen."
Polens Wirtschaft boomt vor allem in den Regionen rund um die großen Städte, wo sich internationale Konzerne mittlerweile um Grundstücke reißen. Als ganz heißer Standort-Tipp gilt zum Beispiel Breslau, mit nur noch vier Prozent Arbeitslosen. Autobauer wie Volvo oder Toyota und Hersteller von Elektronik- und Haushaltsgeräten haben sich hier niedergelassen, so auch das koreanische Unternehmen LG, das in einem riesigen Werk Fernseher und Kühlschränke produziert.
Boomtown Breslau - und das erklärt gewiss auch ihre Attraktivität für Weltkonzerne - ist eine auffallend junge Stadt mit 130.000 Studenten an 22 Hochschulen.
AUFBRUCHSTIMMUNG IN POLEN - JAKUB OBARZANEK, SELBSTÄNDIGER
Die schwarze Laptop-Tasche über der Schulter eilt Jakub Obarzanek durch die quirlige Innenstadt von Wroclaw, zu deutsch: Breslau. Vorbei an Banken und Reisebüros. An eingerüsteten Altbauten. Und jungen Frauen, die Reklamezettel verteilen. Für berufsbildende Schulen.
"Die meiste Zeit arbeite ich im Zentrum, hier ist alles innerhalb von fünf bis zehn Minuten zu Fuß zu erreichen", sagt der 27-jährige Jakub. Und blickt auf die Uhr. Eine dreiviertel Stunde hat er Zeit. Dann wartet der nächste Termin:
"Ein Restaurant-Manager hier aus Wroclaw, er möchte gerne bei uns werben. In unserem Wroclaw-Führer. Wir wollen die Konditionen besprechen. Und ich hoffe, dass wir einen Vertrag abschließen können."
Zu dem Meeting aber will er lieber allein gehen. Der Kunde ist noch neu.
Wieder blickt Jakub auf die Uhr - überlegt kurz. Steuert dann zielstrebig den Eingang eines internationalen Hotels an.
Jakub Obarzanek setzt sich in einen der schwarzen Ledersessel in der Hotel-Lobby.
Er stellt die Laptop-Tasche neben sich und ordert ein stilles Wasser mit Zitrone. Der studierte Kulturwissenschaftler trägt eine dunkle Tuchhose, schwarzes Hemd und hochglanzpolierte Lederschuhe - ganz jung-dynamischer Geschäftsmann:
"Bei mir war alles ein bisschen schwierig. Wegen meines Studiums. In Polen war es sehr schwer als Kulturwissenschaftler eine Arbeit zu finden. Deshalb habe ich gedacht: Gut, dann muss ich mir eben selbst etwas organisieren."
Jakub lacht und errötet. Sein jungenhaftes Äußeres steht im Kontrast zu seiner pointierten, konzentrierten Sprechweise. Früher, in den Semesterferien hat er in England gejobbt. Nach dem Studium nutzte er seine Kontakte. Gründete mit einer polnischen und zwei englischen Freunden "Workaffairs". Eine Online-Arbeitsvermittlung, die sich darauf spezialisiert gut bezahlte Jobs in England zu vermitteln. In der Gastronomie etwa oder in der Landwirtschaft. Und nicht nur für Studenten.
"Als wir mit der Arbeitsvermittlung begannen, hatten wir 200 Bewerber auf jede Stelle, die wir ausschrieben. Uns fällt aber zunehmend auf, dass die Zahl der Bewerber immer kleiner wird. Statt 200 Bewerber wie früher, haben wir jetzt pro Stelle 20 oder 30. Was zeigt, wie sich die Situation geändert hat."
Die Vermittlung läuft nicht mehr so reibungslos. Das Geschäft wird zunehmend schwieriger, sagt Jakub.
"Ich muss sagen, Großbritannien ist bei den Polen nicht mehr so beliebt wie früher. Ein Grund ist der starke Zloty. Er wird immer stärker und stärker. Die Gehälter in Großbritannien dagegen sind weitgehend gleich geblieben wie vor ein, zwei Jahren. Deshalb versuchen viele polnische Studenten jetzt woanders Geld zu verdienen."
Außerdem zieht die Wirtschaft an. Die polnischen Unternehmen bieten - wegen des Arbeitskräftemangels - deutlich höhere Löhne als noch vor zwei, drei Jahren. Jakub Obarzank nimmt noch einen Schluck Mineralwasser. Dann rechnet er vor:
"Nehmen wir einfache Arbeiten, zum Beispiel ein Restaurant-Besitzer, der einen Kellner sucht. Vor drei oder vier Jahren musste man einem Kellner fünf oder sechs Zloty pro Stunde bezahlen. Jetzt muss man mehr als zehn Zloty zahlen. Sonst findet man niemanden."
Wenn aber immer mehr zu Hause, in Polen bleiben, um dort zu arbeiten, dann schrumpfen auch Jakubs Chancen mit seiner Arbeitsvermittlung Geld zu verdienen.
"Früher oder später musste ich mich nach etwas anderem umsehen"
Der junge Mann springt auf, zieht aus einem Ständer gleich neben dem Rezeptionstresen einen lilafarbenen Faltplan. "Guide" ist darauf zu lesen.
"Mit einer britischen Werbefirma zusammen entwickeln wir einen Internet-Führer für alle Ausländer, die nach Wroclaw kommen", sagt Jakub. Das Internetportal und der Flyer zeigen angesagte Bars, schicke Läden, internationale Restaurants.
"Mehr und mehr ausländische Besucher kommen jetzt nach Polen. Aus Deutschland, Großbritannien oder aus Irland und natürlich auch von außerhalb Europas. Ich glaube, es ist jetzt besser, in Wroclaw zu bleiben weil sich hier jetzt viel Geld verdienen lässt. Da macht es einfach keinen Sinn, ins Ausland zu gehen."
Das ist der neue Plan, sagt Jakub. Der Englisch genauso schnell und fließend spricht wie Polnisch, außerdem noch ein wenig Deutsch. Aber auch seinen anderen Job, die Arbeitsvermittlung, hat er noch nicht ganz abgeschrieben. 2012 soll in Polen und in der Ukraine die Fußball-Europameisterschaft ausgetragen werden. Gleichzeitig finden in London die Olympischen Spiele statt. England wird versuchen die polnischen Bauarbeiter im Land zu halten, sagt Jakub. Mit höheren Löhnen vermutlich. Polen wird sich woanders nach Arbeitskräften umschauen müssen, glaubt er und lächelt:
"Wir werden wahrscheinlich Chinesen einstellen müssen. Ich habe schon eine ganze Menge Anzeigen gesehen, einige chinesische Firmen bieten sehr erfahrene Bauarbeiter an. Die müssen wir uns früher oder später holen... "
In Wien wohnt Waldemar aus Warschau mit Lothar und Bolek in einer Wohnung, die Frau Simacek vermietet, eine ebenso geldgierige wie vernaschte Person:
"Frau Simacek mampfte das Kipferl unter großem Appetit auf und sprach endlich das aus, worauf wir ungeduldig warteten. "Von mir aus können Sie bleiben, Waldi. Nur zahlen müssen Sie gleich heute." Sie nahm einen Schluck Kaffee und wischte sich die Hände ab. "Na ja, ist ja wahr. Ich hab nichts gegen Ausländer. Im Gegenteil, ich find, die Wiener sollten richtig froh sein, dass die Ausländer zu uns kommen und uns die schwersten Hacken abnehmen. Klo putzen, Straßen kehren und Zeitungen verkaufen, das ist nichts für uns, weil wir ja so feine Leute sind. Und trotzdem haben wir die Ausländer nicht besonders gern. Es liegt daran, dass viele Schlawiner zu uns kommen und euch, den guten Ausländern, den Ruf verderben. Die arbeiten hier ein bisschen, päppeln drüben in Rumänien mit unseren Kinderbeihilfen ihre Geschroppen auf, damit die schnell groß werden und unseren Julius Meinl ausräumen können. Aber ich weiß, dass es auch brave wie euch gibt. Bolek ist Diplomingenieur und wird immer kräftiger, und der Lothar geht auf die Uni und spricht schon so gut Deutsch. Und wegen euch wähl ich die FPÖ Damit nicht noch mehr Neger ins Land kommen und euch die Arbeit wegnehmen. Denn ohne Arbeit gibt es kein Geld, und ohne Geld habt ihr nichts zum Beißen, könnt ihr keine Miete zahlen und müsst am Ende an der Kärntnerstraße Blockflöte spielen."
Bei aller Euphorie über den wachsenden Wohlstand kritisieren Ökonomen jedoch, dass die Milliarden, die die Arbeitsmigranten pro Jahr im Ausland verdienen, meistens in den privaten Konsum gesteckt, aber nicht in die Zukunft investiert werden. Bislang gebe es zu wenig Wagemutige, die zielstrebig sparten, um sich später einmal zu Hause selbständig zu machen. Auch seien die Folgen der Arbeitsmigration für die regionale Entwicklung noch kaum wissenschaftlich untersucht: Was bedeutet es zum Beispiel, wenn auf den Dörfern hauptsächlich Alte und ganz Junge zurückbleiben?
Studzieniec ist eines der Straßendörfer, wie es sie in Westpolen zu Tausenden gibt. Ein Ort, durch den die PKWs und Laster brettern, weil die Fahrer den Fuß nicht vom Gaspedal nehmen:
KEIN FORTSCHRITT - IM DORF STUDZIENIEC
Handy in der einen, Handtasche in der anderen Hand - so stehen Beata und Sandra am Straßenrand. Und warten auf den Bus. Hier, in Studzieniec? Tote Hose, sagen die beiden. Und verdrehen die Augen. Nicht einmal eine richtige Bushaltestelle gibt es. Nur plattgetretenes Gras vor einem verfallenden Backsteingehöft. Viele sind im Ausland.
"Meine Mutter arbeitet gerade in Deutschland. Und ich fahre auch nächsten Sonntag dahin, um zu arbeiten", sagt Sandra. Dann rückt sie die riesige dunkle Sonnenbrille zurecht, dreht mit ihren langen, lackierten Fingernägeln an den nachgemachten Chanel-Ohrringen. Ihre Freundin Beata nickt: Auch ihr Bruder ist weg. Geldverdienen für die Familie. Denn hier, in Studzieniec gibt es keine Arbeit. Oder nur schlecht bezahlte."
Der Bus stoppt vor den beiden Mädchen. Sie klettern in das betagte Gefährt, das sie in die nächstgelegene Kleinstadt bringen wird.
Hundert Meter von der Bushaltestelle entfernt sitzt Wacek auf einem verblichenen Plastikstuhl vor einem grauen Flachbau aus bröselndem Beton - dem Dorfladen. Der Gemeindearbeiter schiebt sich eine Zigarette in den zahnlosen Mund. Hustet und flucht:
"Natürlich, natürlich sieht man, dass die jungen Männer fehlen. Wenn Tanz ist, dann sehe ich: Der fehlt, der fehlt, der fehlt..."
Er kennt allein 15, 20 Leute aus dem kleinen Dorf, die gerade im Ausland arbeiten. Wacek beugt sich ein wenig nach vorn:
"Aber darüber spricht man nicht. Sie erzählen nichts darüber. Na ja, sie wissen schon, der eine arbeitet legal, der andere schwarz. Und dann das Finanzamt... sie wissen schon..."
Viele sind offiziell arbeitslos gemeldet. Oder haben Angst vor dem Finanzamt, glaubt Wacek.
"Wenn ich eine Chance hätte, ich würde hier sofort alles hinschmeißen. Hier verdiene ich zwischen 800 und 900 Zloty, umgerechnet etwa 250 Euro. Pro Monat. Und im Ausland hatte ich 350 Euro wöchentlich. Aber dafür musste ich 10 bis 12 Stunden arbeiten, das ist klar."
Sieben Jahre lang hat er jede Sommersaison in Deutschland gearbeitet. Dann hat sein deutscher Chef gesagt: Er bräuchte nicht wiederzukommen. Er sei zu alt:
"Der Deutsche möchte junge, starke und dumme. Das ist die Wahrheit, wir müssen nicht lügen."
Ich werde dem Deutschen nicht die Hände küssen, damit er mich behält, murmelt Wacek. Und wischt sich mit dem Ärmel des staubig-schwarzen T-Shirts über das wettergegerbte Gesicht. Klar, sagt er, gibt es Neid, zwischen denen, die fahren und denen die bleiben:
"Gibt's, gibt's, gibt's. Wenn jemand kommt und ein paar Euro mitbringt, dann steckt er es sofort in die Wohnung, in das Haus, wechselt die Möbel. Und dann gibt es sofort Gerede: Oh, der ist für ein, zwei Monate hingefahren und hat etwas für sich gekauft. Und den nächsten trifft schon der Schlag."
Wacek steckt die Zigarette in den zahnlosen Mund, hustet und nickt kurz in Richtung eines kleinen, leicht gebückt gehenden Mannes, der sich mit schnellem Schritt nähert. Es ist Stanislaw Malinowski, der Bürgermeister von Studzieniec.
"Ich würde sagen, neidisch ist eigentlich jeder Pole. Da rührt jemand keinen Finger, aber wenn er sieht, dass ein anderer mehr hat, ist er sofort neidisch. Und so ist es auch in Studzieniec."
Etwa 75 Dorfbewohner arbeiten mehr oder weniger regelmäßig im Ausland, glaubt Malinowski. 750 Einwohner zählt das Dorf, vom Kind bis zum Greis.
"Wir kürzen hier ab", sagt der Bürgermeister und schreitet einen Trampelpfad voran. An rostigen Metallzäunen entlang, hinter denen niedrige Häuschen stehen. Früher, erzählt Malinowski, gab es hier eine landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft. In den 90er Jahren ging alles den Bach runter. Damals fuhren die ersten gen Westen.
Malinowski blickt nach links und rechts. Von Reichtum ist auch heute nichts zu sehen. Ein wenig neuer Putz hier, ein kleiner Anbau dort - das im Ausland verdiente Geld fließt - an der Steuer vorbei - in den privaten Konsum:
"Aber dass sie etwas im Westen gelernt haben und etwas Neues in unserem Dorf einführen - das sieht man nicht."
Das Dorf als Ganzes profitiert kaum von der Arbeitsmigration. Bislang hat noch keiner ein Geschäft eröffnet oder einen kleinen Betrieb gegründet. Bürgermeister Malinowski schüttelt traurig den Kopf:
"Also gerade in Studzieniec sieht man nicht, dass jemand mit Geld gekommen ist und investiert hat. Wir bedauern, dass wir keine kleinen Betrieben haben, auch keine Ein-Mann-Firmen. Außer einer Transportfirma und dem Hähnchenmast-Betrieb haben wir hier gar nichts. Das ist alles, was uns geblieben ist."
Was ist dran an der in Polen so gern beschworenen Rückkehrerwelle? Die Britisch-Polnische Handelskammer schätzt, dass allein im zweiten Halbjahr 2007 etwa 10 000 Polen den Weg zurück in ihre Heimat angetreten haben. Andere halten diese Zahl für übertrieben, räumen aber ein, dass der Trend sich umzukehren beginne: Demnächst gäbe es mehr Heimkehrer als Auswanderer. Die Regierung Tusk tut das Ihrige dazu und lockt die Auslandspolen mit Anreizen wie Steueramnestie und Unterstützung bei Firmengründungen. Doch 'Geld ist nicht alles' argumentieren viele, die sich an den frischen Wind in einem offenen, liberalen System gewöhnt haben und mit der Rückkehr in das enge Milieu Polens zögern.
Zielona Gora, zu deutsch Grünberg, im polnischen Westen, 120 000 Einwohner. An einer vielbefahrenen Ausfallstraße liegt die Bar 'Centrala'.
ZWISCHEN HEIMWEH UND ZUKUNFTSANGST - DARIA WAPINSKA,
HOCHSCHULABSOLVENTIN
Daria Wapinska legt das Handy beiseite und lächelt:
"Ich habe kurz mit meinen Freunden in Liverpool telefoniert,"
sagt die 29-Jährige. Greift ihr Glas und trägt es hinaus in den Biergarten.
Drei ihrer Freunde, hier aus Zielona Gora, leben heute in Liverpool, vier in London, wie sie selbst, erzählt Daria. Während sie nach einem freien Platz Ausschau hält.
"Sechs oder sieben wohnen in Hastings, am Meer. Also ich kenne ziemlich viele Leute aus der Gegend hier, die jetzt dort leben. Aber ich habe in England auch viele andere Polen getroffen: Aus Breslau, aus Posen oder Bydgoszcz, aus ganz verschiedenen Städten."
Daria setzt sich unter einen großen Sonnenschirm mit polnischer Bier-Reklame.
Früher, sagt sie, habe sie hier gekellnert. Um sich ihr Studium zu finanzieren.
Die junge Frau zündet sich eine Zigarette an. Und dreht versonnen an dem kleinen, silbernen Stecker unter ihrer Lippe:
"Das macht das verrückte Heimweh. Ich hatte einfach Heimweh und dachte mir, vielleicht - wenn mir meine Haut ein wenig weh tut, dann schmerzt mein Herz nicht mehr so sehr. Ich habe einfach meine Familie so sehr vermisst. Und der kleine Stecker bleibt nun und erinnert mich daran."
Heimweh nach ihren Eltern und ihren drei Geschwistern. Sie kneift die braunen Augen mit dem roten Liedschatten ein wenig zusammen. Zupft an einer Strähne ihres fransigen Kurzhaarschnittes.
"Leise: Yes, it is like that. Ooh I am crying sometimes horrible... Because I am here now and I am happy."
Manchmal muss ich schrecklich weinen. Aber jetzt geht es mir gut, weil ich Urlaub habe und zu Hause in Polen bin, sagt Daria. Und zieht an ihrer Zigarette. Vor vier Jahren kehrte die damals arbeitslose Hochschulabsolventin ihrer Heimat den Rücken. Und stieg in ein Flugzeug nach London. Um Englisch zu lernen und neue Leute zu treffen:
"Meine Freunde waren schon dort. Deshalb dachte ich: Das ist vielleicht eine Chance, ein Jahr dort zu bleiben, ein paar Sprachkurse zu absolvieren und dann zurückzukehren. Aber leider - ich bin nicht zurückgekehrt."
Daria arbeitet zunächst als Kindermädchen, findet dann einen Job als Unterrichts- -Assistentin an einer Ganztagsschule. Eine Arbeit, die ihr Spaß macht. Viel mehr Spaß als ihr Studium des "Öffentlichen Rechts und der Verwaltung" in Polen.
"Ich mag eine ganze Menge an England. Besonders das Multikulturelle. Man trifft viele Leute mit ganz verschiedener Herkunft. Da kann man eine Menge lernen."
Einerseits. Andererseits: "Es ist der gleiche Überlebenskampf wie hier, in Polen", sagt sie:
"Ich verdiene 290 Britisch Pfund in der Woche. Und ich arbeite zusätzlich abends. Meine Wohnung kostet mich 165 Pfund in der Woche. Plus Nebenkosten. Plus die anderen Ausgaben, das sind noch einmal 100, 120 Pfund pro Woche. Man kann in der Woche vielleicht 20 Pfund sparen. Na ja, ich spare 50 Pfund pro Woche."
Umgerechnet etwa 60 Euro kann Daria pro Woche zurücklegen. Finanziell lohnt sich das nicht wirklich. Aber Daria möchte noch in London studieren, um später in Polen als Englisch-Lehrerin arbeiten zu können. Und dann ist da noch Majo. Ihr Freund. Ein gebürtiger Rumäne, der sei elf Jahren in London lebt und eigentlich nicht weg will. Dabei wären gerade jetzt die Bedingungen günstig. Für einen Neustart in Polen. Denn Majo ist Handwerker.
"Ich glaube, er würde hier problemlos eine Arbeit finden. Es wäre einfach für ihn, weil viele Handwerker nach Großbritannien gegangen sind. Ich denke, es wäre eine gute Zeit, um zurückzukommen. Ich glaube, ich muss die Gelegenheit am Schopf packen... "
Daria ist hin- und hergerissen. So wie fast alle ihre polnischen Freunde in England:
"Jede Woche ist es anders in deinem Kopf. Ich gehe zurück - ach, nee, ich gehe nicht zurück, ich bleibe lieber noch. Wenn ich wieder in London bin, beginnt nach drei, vier Tagen die Routine. Alles ist okay. Aber drei Monate später möchte ich wieder nach Hause."
Sie hat Angst, den Absprung zu verpassen. Jetzt, wo die wirtschaftliche Situation in Polen günstig ist. Andererseits - zurück aus dem bunten, multikulturellen London in ihre graue, polnische Heimatstadt?
"Im Grunde habe ich natürlich auch Angst zurückzukommen. Weil ich nicht weiß, ob ich das Leben hier aushalte. Ob ich nicht England vermissen werden. Meinen Lebensstandard dort und alles..."
Daria zuckt ratlos mit den Schultern. Fest steht nur eins: In zwei Tagen ist ihr Urlaub zu Ende, dann wird sie zurück nach London fliegen. Und während des Fluges ab und an an dem kleinen silbernen Heimweh-Stecker unter ihrer Lippe drehen.
Gesichter Europas: Auf und davon - Polen und die Folgen der
Abwanderung. Die Autoren der Reportagen waren Anja Schrum und Wojtek Mroz. Babette Michel suchte die Musik aus. Die Literaturauszüge stammten aus dem Roman 'Herrn Kukas Empfehlungen' von Radek Knapp, erschienen im Piper Verlag, München 1999. Gesprochen wurden sie von Philipp Schepmann. Am Mikrophon war Brigitte Helfer