Freitag, 19. April 2024

Archiv

Belgien
Uneins über Sterbehilfe für Minderjährige

Sterbehilfe ist in Belgien seit elf Jahren erlaubt, allerdings nicht für minderjährige Kinder. Einige Kinderärzte fordern dies in einem offenen Brief. Doch das Parlament ist in der Frage ebenso zerstritten wie die belgische Gesellschaft.

Von Simela Limbou | 03.12.2013
    Seit zehn Jahren arbeitet Dr. Joris Verlooy auf der Kinderkrebsstation im belgischen Gent. Täglich hat er mit schwerkranken Kindern zu tun. Aber das Schicksal eines Mädchens hat ihn besonders berührt:
    "Dieses Mädchen litt so sehr. Es konnte kaum noch atmen. Am Ende konnte es nicht mehr aus ihrem Bett aufstehen und dieser Zustand dauerte Monate an."
    Seit Jahren hatte er die junge Patientin wegen Leukämie behandelt. Im Alter von 16 Jahren schlugen die Medikamente dann nicht mehr an. Sie habe unter unerträglichen Schmerzen gelitten und sich nichts sehnlicher gewünscht, als von diesem Leid erlöst zu werden, erzählt Dr. Verlooy.
    "Es war ein sehr bewegendes Wochenende, am Freitag haben wir die Entscheidung getroffen, zusammen mit ihr und ihren Eltern. Wir beschlossen, dass sie all ihre Freunde an diesem Wochenende noch einmal sehen konnte. Und am Sonntag wollte sie ihr Leben beenden."
    Und Dr. Joris Verlooy half dem Mädchen dabei. Doch Sterbehilfe zu leisten, war nur deshalb legal, weil das Mädchen außerhalb Belgiens lebte, kurz hinter der Grenze, in den Niederlanden. Das soll sich ändern, fordert der Onkologe und hat jetzt einen offenen Brief an das belgische Parlament mit unterzeichnet. 16 Kinderärzte fordern darin, dass das belgische Gesetz geändert wird. Das erlaubt Sterbehilfe zwar bereits seit elf Jahren, aber nur bei Erwachsenen. Und nur dann, wenn sie unheilbar krank, aber mental in der Lage sind, die Entscheidung selbst zu treffen. Die Kinderärzte fordern nun das gleiche Recht für Minderjährige. Auch Kinder und Jugendliche seien durchaus in der Lage, eine solche Entscheidung zu treffen. Denn angesichts des nahenden Todes, so argumentieren die Kinderärzte aus ihrer langjährigen Erfahrung, entwickelten auch junge Patienten eine große Reife. Doch vielen in Belgien geht das entschieden zu weit:
    "Ich fürchte, dass mit diesem neuen Gesetz eine Grauzone entstehen kann, man kann Schritt für Schritt in eine Situation abgleiten, in der die schwächeren Personen möglicherweise Opfer werden."
    Pastor Steven Fuite ist Präsident der protestantischen Kirche in Belgien. Er hat seinerseits ein Communiqué unterschrieben, gegen die Sterbehilfe für Minderjährige. Gemeinsam mit den führenden Köpfen der anderen christlichen Kirchen und Glaubensgemeinschaften. Sie warnen vor einer "wachsenden Banalisierung der Frage von Leben und Tod", wie es in ihrem Appell heißt. Dr. Joris Verlooy hält dagegen. Es müsse eben dafür gesorgt werden, dass Entscheidungen über Sterbehilfe bei Kindern besonders verantwortungsvoll getroffen würden.
    "Wir sollten dabei die Entscheidung der Eltern berücksichtigen, aber auch die Meinung des Betreuungsteams. Und ich sage nicht des Ärzteteams, sondern des Betreuungsteams. Ärzte, Krankenschwestern, Psychologen und Sterbebegleiter für Kinder - all diese Leute sollten darüber zusammen entscheiden."
    Für Kritiker, wie Pastor Steven Fuite, bleibt dennoch eine Gefahr.
    "Also, ich fürchte, dass dieses neue Gesetz eine Tür öffnen könnte, um bestimmte Therapien, die sehr viel kosten, zu beenden."
    Dr. Joris Verlooy weist das zurück. Das Gesetz in Belgien schreibt zwar Ärzten vor, Kinder mit allen medizinischen Mitteln am Leben zu halten.
    Der Onkologe weiß aber aus der Praxis, dass auch die Apparatemedizin ihre Grenzen hat. Und dann wollen die Kinderärzte das Leiden auch junger Patienten beenden können.
    "Ich denke, am Ende ist es einfach ein Akt von Mitgefühl. Wir müssen mit dem Patienten mitfühlen. Und wenn das die einzige Möglichkeit ist, dann muss man einfach Mitgefühl haben."
    Wann eine endgültige Entscheidung über das Sterbehilfegesetz für Minderjährige ansteht, ist derzeit nicht abzusehen, denn das belgische Parlament ist in dieser Frage ebenso entzweit wie Arzt und Pastor.