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Blutige Eroberung der Krim

Krimsekt, Villen an den grünen Steilküsten des Schwarzen Meeres, die Schwarzmeerflotte samt Donkosakenchor - solche Bilder haben sich ins kollektive Bewusstsein von der Halbinsel Krim eingeprägt. Es sind Bilder einer kolonialen russischen Romantisierung, die die Geschichte der blutigen Eroberung der Krim durch das russische Zarenreich im 18. Jahrhundert ausblenden.

Von Anselm Weidner | 08.04.2008
    Das christlich-orthodoxe Russland als Drehscheibe zwischen Orient und europäischem Westen, das war die Vision des reformfreudigen Zaren Peter I. Unter seiner Herrschaft dehnte sich das Zarenreich nach Norden aus. Nach 21 Jahren Krieg, dem Nordischen Krieg gegen Schweden, wurde Russland Anfang des 18. Jahrhunderts die Vormacht im Ostseeraum und europäische Großmacht.

    Was Peter I. nicht gelang, nämlich das russische Reich nach Süden bis ans Schwarze Meer auszudehnen, verfolgte Zarin Katharina II. in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts mit ihrer außenpolitischen Vision, dem sogenannten "Griechischen Projekt". Michael G. Müller, Professor für osteuropäische Geschichte an der Martin Luther-Universität Halle:

    "Im Zentrum steht die Idee, dass Russland, flankiert durch das Habsburger Reich, den Balkan militärisch befreien wird: Konstantinopel befreien, um dort ein neues byzantinisches Reich unter einer Secundogenitur ihres eigenen russischen Kaiserhauses zu errichten."

    Sprich: eine dynastische Nebenlinie des Zarenhauses sollte die Hohe Pforte, die osmanische Herrschaft in Konstantinopel, übernehmen. Hochfliegende Pläne, die christlich-missionarisch legitimiert wurden. Deshalb wurde das Osmanische Reich im gesamten Raum der nördlichen Schwarzmeerküste im Gebiet des sogenannten Krimkhanats, an wechselnden Fronten im russisch-türkischen Krieg von 1768 bis 1774 angegriffen. Es umfasste außer der Krim weite Teile der heutigen südlichen Ukraine und des südlichen Russland vom Dnjestr bis an den Fuß des Kaukasus.

    Hinter diesem Krieg standen zu allererst ökonomische Interessen Russlands: die Möglichkeit, den Schwarzmeerhandel zu kontrollieren und auf dem Schwarzen Meer militärisch präsent zu sein.

    "Der zweite Aspekt ist: Solange diese Gebiete nördlich des Krimkhanats unter osmanisch-tartarischer Kontrolle waren, war das ganze fruchtbare südrussische Gebiet wirtschaftlich nicht sehr nutzbar. Vor allem auch in der späten Zeit Katharinas - das ist ein riesiges Expansionsgebiet für die Selbstbereicherung des russischen Adels gewesen, die Aufteilung dieser Gebiet in adligen Grundbesitz."

    1774 endete der Krieg mit einem Sieg Russlands und dem Frieden von Kücük Kaynarca: Das tartarische Krimkhanat wurde formal ein unabhängiger Staat, und Russland erhielt an der Dnjepr- und der Don-Mündung zwei Zugänge zum Schwarzen Meer. Der erste Schritt der Südausdehnung des russischen Imperiums war geschafft.
    Da kamen Aufstände der Tartaren auf der Krim gegen den Khan Sahin Giray, eine Marionette des Zarenhofs, Katharinas Plänen gerade recht, die Krim zu annektieren. Mit einer russischen Interventionsarmee ließ Katharina die Ordnung im Krimkhanat wiederherstellen. Das gelang ohne große Gegenwehr. Petersburg erklärte am 8. April 1783 in einem Manifest: "Von nun an und für alle Zeiten ist die Krim Teil des russischen Reiches."

    "In dem vergangenen Krieg mit der Ottomanischen Pforte, als unsere Kräfte und die Siege unserer Waffen uns volles Recht gegeben haben, uns in den Genuss der Krim zu setzen, die sich in unseren Händen befand, haben wir uns indessen bereit gefunden, auf diese und andere Eroberungen zu verzichten und das Einvernehmen und die Freundschaft mit der Ottomanischen Pforte zu suchen und den tartarischen Völkern ein freies und unabhängiges Gebiet zu gewähren."

    In verklausulierten diplomatischen Formeln wird die Einverleibung der Krim ins russische Reich völkerrechtlich legitimiert. Der Schwerpunkt der russischen Außenpolitik verlagerte sich fortan von Europa auf den osmanischen Orient.

    Solange die russischen Kräfte in der Auseinandersetzung mit dem Osmanischen Reich gebunden waren, konnte das den übrigen europäischen Großmächten nur recht sein. Doch die Krim-Eroberung und der danach folgende zweite, ebenfalls für Russland siegreiche, türkisch-russische Krieg alarmierte die anderen europäischen Großmächte.

    "Wenn die erst mal eine Flotte im Schwarzen Meer haben, dann ist der Weg zur Beherrschung der Meerengen nicht mehr weit. Aus diesem Grund schlägt plötzlich die Stimmung um, sowohl im Habsburger Reich. Vor allem England wird die Führungsmacht einer Eindämmungspolitik gegen Russland, weil Russland damit in die Interessenssphären Großbritanniens eingreift von Persien über das Schwarze Meer bis ins Mittelmeer. Und letztlich ist auch der britisch-russische Krimkrieg im 19. Jahrhundert eine Folge der Krim-Annektion von 1783."

    Außer zur Verschiebung der Machtkonstellation in Europa führte die zaristische Annexion der Krim zur Vertreibung der tartarischen Bevölkerung und zur Russifizierung der Schwarzmeerhalbinsel, die heute zur Ukraine gehört. Als letzter Rest der einst blühenden tartarisch-islamischen Kultur ist dort die noch immer prächtige Anlage des Khan-Palastes von Bachtschissaraj, der ansonsten von russischen Truppen dem Erdboden gleichgemachten Hauptstadt des Krimkhanats, zu bewundern.