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Bombay aus allen Blickwinkeln

Eddie und Ravan erleben in der indischen Großstadt Bombay inmitten eines turbulenten Geschehens ihre eigene Rolle als Statisten der Gesellschaft. Autor Kiran Nagarkar begleitet dies mit spöttischem Witz.

Von Shirin Sojitrawalla | 09.09.2012
    Diese Stadt eine Großstadt nennen, heißt, sie kleinzureden: Bombay, heute offiziell Mumbai: Megacity und Moloch. Monströs und mörderisch in all ihrer überbordenden Vitalität, ihrem Dreck, ihrem Wahnsinn und ihrer Unvernunft. Um die 20 Millionen Menschen drängeln sich auf diesem vergleichsweise winzigen Stückchen Erde am Arabischen Meer.

    Bombay ist laut, stinkt, belastet und bereichert die Sinne. Dabei bietet die Stadt ihren Bewohnern und Besuchern die Gelegenheit, ihr Lebendigsein in all seinen heillosen Facetten auszuleben. Und so ist es auch kein bisschen verwunderlich, dass wohl alle indischen Schriftsteller, die diese Stadt hervorgebracht oder angezogen hat, sie literarisch zu würdigen wissen. Angefangen natürlich bei Salman Rushdie – im Jahr der Unabhängigkeit, 1947, geboren, wie der Held seiner "Mitternachtskinder" – der schönste Momente seiner Romane dort ansiedelte. Die Autoren Vikram Chandra und Rohinton Mistry verschrieben sich ihren Geheimnissen und Realitäten, Suketu Mehta recherchierte ihrem Irrsinn in "Bombay Maximum City" grandios hinterher, Aravind Adiga verbeugte sich erst kürzlich in seinem Roman "Letzter Mann im Turm" vor ihr.

    Und Kiran Nagarkar, in Bombay geboren und geblieben, stellte seine Stadt schon in seinem 2004 veröffentlichten Roman "Ravan und Eddie" in den Mittelpunkt. "Die Statisten" führen die Geschichte um die zwei ungleichen Söhne der Stadt nun kraftvoll fort. Ravan, der einfältige Hindujunge und Eddie, das aufgeweckte katholische Bürschchen. Beide wohnen sie im gleichen Mietshaus in Bombay und das Schicksal kettet sie früh aneinander.

    Ein Sündenfall, Eddies Vater musste sterben, weil Ravan als Baby vom Balkon auf ihn herab fiel, bildet schon im ersten Roman den Auftakt. "Die Statisten" beginnen mit dem beinahe wortgleichen Kapitel, machen dann einen Schnitt und steigen erst nach einer Pause von 18 Jahren wieder ein. Während im ersten Roman die Teenagerjahre der beiden im Zentrum des wie immer bei Nagarkar turbulenten Geschehens standen, begleitet er sie diesmal beim Erwachsenwerden oder vielmehr bei dem, was sie dafür halten. Mit der Schule sind die beiden so weit fertig, Ravan träumt von nun an von einer Karriere als Filmstar und Eddie möchte so etwas wie ein zweiter Elvis werden. Beide bereiten ihren qualvoll mütterlichen Müttern größten Kummer. Eddies Mutter Violet, die aus Goas besseren Kreisen stammt, ist zudem von Standesdünkel geradezu besessen. Kiran Nagarkar beschreibt und belächelt das mit ironisch grundierter Erzählkunst:

    Eddie mochte bis dahin ein Nichtsnutz gewesen sein, aber er war ihr Sohn. Violet hoffte, dass er mit Gottes Hilfe in sich gehen und sich bessern würde. Vielleicht würde er jetzt, wo er eine richtige Arbeit gefunden hatte, zu einem neuen Menschen werden. Irgendwann würde er gelernter Mechaniker sein, dann konnte er Werkstattleiter werden und es am Ende vielleicht zum Eigentümer des ganzen Betriebes bringen. Das war nicht so weit hergeholt, wie manche meinen mochten. Violets katholische Nachbarinnen, insbesondere die Mütter von Söhnen, die Chefsteward bei Indian Airlines, Kellner oder Koch im Taj Mahal Hotel waren, oder Mrs. D'Silva, deren Sohn einen Bürojob bei Hindustan Lever besaß, hatten angedeutet, dass Eddie, anders als ihre Musterknaben, ein Bummler, Gammler und ein Tagedieb war. Denen hatte sie klipp und klar gesagt, dass ihr Eddie nicht den Ehrgeiz habe, ein gewöhnlicher Arbeitsesel und Mietsklave zu werden. Er sei für Besseres geschaffen. Er sei begabt. Er sei ein Künstler. Sie hatten hämisch gekichert; nicht offen, aber sie wusste, was sie dachten.
    Jeder konnte sehen, dass er aus einer höheren Kaste, einer Land besitzenden katholischen Familie kam, die in früheren Zeiten den portugiesischen Gouverneuren nahegestanden hatte. Ein Blick auf ihn genügte und man sah den Unterschied. Abstammung und Gene ließen sich nun einmal nicht verleugnen."


    Doch statt seiner Mutter zu Stolz und Ehre zu gereichen, verdingt sich Eddie in einer Hochzeitsband und schlägt sich ansonsten in einer sogenannten Flüsterkneipe die Nächte um die jungen Ohren. Einer Kneipe also, in der trotz Prohibition der Alkohol in Strömen in die Gläser fließt. Es sind die 60-er-Jahre, in denen Bombay noch längst nicht globalisierte Metropole war, sondern ein vollkommen eigenständig indisches Gewächs. Eine Stadt, die sich wirtschaftlich vom Rest der Welt abkapselte, ohne Coca-Cola auskam und sich mit ihren strengen Sitten arrangierte. Der Blick nach Westen war freilich damals genau so sehnsuchtsvoll wie heute. Auch Ravan und Eddie richten ihre Augen nach Hollywood und in andere ferne Welten, träumen sich in ein fremdes Dasein, wobei die beiden es fertigbringen, im selben Augenblick vor Fernweh zu sterben und vor Heimweh umzukommen. Über die Dauer des gesamten, immerhin mehr als 600 Seiten währenden, Romans, bringen sie es nicht weiter als einmal kurz nach Mauritius, einer Insel im indischen Ozean, auf der sich so viele Inder tummeln, dass sie von Indien aus gesehen nicht als Ausland gelten kann.

    Während Eddie sich hinterm Tresen sein Geld verdient, kurvt Ravan als Taxifahrer durch die Straßen Bombays. Man kann die beiden als Pechvögel bezeichnen, denen die eine oder andere Glückssträhne widerfährt.
    Ein allwissender Erzähler, bei dem es sich gut und gerne um den lieben Gott persönlich handeln könnte, beäugt die beiden Jungs abwechselnd nach Art einer Parallelmontage und verzögert den Moment ihres Aufeinandertreffens, indem er ihre Leben immer enger führt, bis sie nicht mehr anders können, als Seite an Seite ihren Mann zu stehen.

    Schicksalsgenossen, die beruflich hoch hinaus wollen und in Herzensdingen beide Romeo-und-Julia-Liebesdebakel durchleben: Eddie ist mit der anglo-indischen Belle befreundet, deren Eltern keinen waschechten Inder für die Tochter vorgesehen haben. Und Ravan ist dummerweise in Eddies so gar nicht muttergottesgleiche Schwester Pieta vernarrt. Die Religion und das liebe Geld und vieles sonstiges mehr verunmöglichen diese Beziehungen. Dabei fallen beide schon mal in die Hände von ausgefuchsten Nymphomaninnen, was dem Spaßvogel Nagarkar die Gelegenheit gibt, aus dem Humor-Vollen zu schöpfen. Dabei erweist er sich wieder einmal als Meister des Komischen, der filmreife Szenen für seine Schützlinge erschafft. Etwa, wenn er Ravan in das Zimmer einer fremden Braut geleitet, die genau weiß, was er in ihrer Hochzeitsnacht will:

    Knöpfe hinten? Die Leibchen seiner Mutter hatten immer vorne Knöpfe. Wie knöpfte man Knöpfe aus Knopflöchern, die man nicht sehen konnte? Seine Finger haspelten unkoordiniert und seine Ungeduld gewann die Oberhand. Zwei bekam er irgendwie auf, dann riss er einfach. 'Nicht so wild', sagte sie scharf, aber mittlerweile war er jenseits von Hören und Gehorchen. Er wand sich unter ihr hervor. Sein einziger Gedanke war, die Tauben aus ihren Käfigen zu befreien. Er würde erst den linken, dann den rechten Träger ihres 'BHs' über die Schulter streifen. Die Körbchen würden herabsinken, und die zwei Täubchen würden sich in seine offenen Hände schmiegen. Doch es lief nicht ganz so, wie es sollte. Die Haken hatten einen eigenen Kopf und widerstanden jedem Überzeugungsversuch. Sie waren fest in den Löchern des Elastikbandes verankert und weigerten sich loszulassen. Seine Finger zitterten und zerrten, er wurde immer hektischer und versuchte, das Band zu zerreißen. Sitas Hände griffen nach hinten und öffneten mühelos die zwei Haken. Die Brüste purzelten heraus, und er schnappte sie sich.
    Sein Fleisch spannte sich, seine Haare sträubten sich, sein Blick trübte sich, und er versuchte, Sita zu Boden zu drücken. Sie leistete Widerstand. 'Nicht hier.'
    'Wo dann?'
    'Auf dem Bett?'
    Ravan sah sich zum ersten Mal um. 'Wo ist dein Mann?'
    Sie deutete auf das Bett. Auf der Matratze lag diagonal ausgestreckt ein Mann. Er hatte weder seinen Hochzeitsanzug noch seinen Schlips ausgezogen. Das Hemd hing ihm aus der Hose, und sein Kugelbauch lag bloß. Er stank nach Bier und Whisky und von Zeit zu Zeit griff er nach unten und kratzte sich im Schritt.
    'Vor ihm?' Ravan prallte entsetzt zurück. Das ist doch wohl nicht dein Ernst!"
    Sie lachte. 'Ach, der ist die nächsten acht bis zehn Stunden weg. Und wenn er irgendwann aufwacht, wird er solche Kopfschmerzen haben, dass er am liebsten sterben möchte.'
    Da befielen Ravan die einzigen Gewissenbisse dieses Abends. 'Wird es ihm denn nichts ausmachen?'
    'Darüber würde ich mir nicht den Kopf zerbrechen. Er hat ein ganzes Leben mit mir vor sich.'
    'Und was, wenn er aufwacht?'
    'Dann darf er mitmachen.'
    Ravan fiel die Kinnlade runter. War das ihr Ernst? Sita lächelte unschuldig. 'Bist du mit deinen Fragen durch?'


    Der Witz dieser Szene wächst, wenn man bedenkt, dass Sita in der indischen Mythologie als Sinnbild weiblicher Tugendhaftigkeit leuchtet. Der indischen Mythologie und ihrer herrschaftlichen Verführungskünste widmete sich Nagarkar schon ausführlich in seinem Roman "Krishnas Schatten", 2002 erschienen. Ein umwerfendes Buch voll üppiger Sinnlichkeit, für das Nagarkar einen der höchsten indischen Literaturpreise erhielt und mit dem er sich auch hierzulande einen Namen machte. Schon damals übersetzten Giovanni und Ditte Bandini aus dem Englischen ins Deutsche. Die beiden übertrugen auch "Ravan und Eddie" sowie "Gottes kleiner Krieger", das pünktlich zum Buchmessenschwerpunkt Indien im Jahr 2006 erschien. Auch bei "Die Statisten", die im Original "The Extras" heißen, waren die beiden am Werk und wieder hat man das angenehme Gefühl, hier seien Übersetzer zugange, deren Sätze nicht nur von ihrer Sprachgewandtheit zeugen, sondern auch von ihrer Vertrautheit mit den kulturellen Gepflogenheiten Indiens.

    Dabei finden sie im Deutschen die richtigen Worte, um den ungeheuren Witz und Schalk dieses spottlustigen Autors zum Ausdruck zu bringen. So richtig ernst nimmt Nagarkar diesmal gar nichts, wobei die satirische Raffinesse seines Schreibens gerade darin besteht, alles und jedem in einem verächtlichen Satz seine Liebe zu erklären. Sei es der Stadt Bombay, deren Widerwärtigkeiten und Schönheit er in- und auswendig kennt oder sei es dem Genre des Hindi-Films, über das sich Nagarkar lustig macht, ohne seine Faszination verheimlichen zu können.

    Ravan und Eddie stranden in den Filmstudios Bollywoods, um sich dort als Statisten zu verdingen, was obendrein eine schöne Metapher für ihren Status im eigenen Leben ist, das ihnen eine Hauptrolle hartnäckig verwehrt.

    Nagarkar gibt Einblick in die größte Filmindustrie der Welt samt ihrer mafiatauglichen Strukturen und unbarmherzigen Standards. Wie er überhaupt diesmal das Gangsterpotenzial der Stadt genüsslich auslotet. Dabei unterbricht er beziehungsweise sein alleswissender Erzähler seinen Redefluss immer mal wieder mit beinahe lexikalischen Einschüben, wie er das auch schon im Vorgängerroman machte: Versuche über dies und das, wie etwa eine ebenso hinreißende wie treffende Grübelei über das Bombayer Taxi und seine skurrilen Fahrer:

    Das Erste, was einem – abgesehen von der charakteristischen gelb-schwarzen Lackierung – an einem Bombayer Taxi auffällt, ist der Taxifahrer. Es gibt niemanden, absolut niemanden auf der Welt wie ihn. Schräg über seinen Rumpf verläuft eine diagonale Falte, sodass die eine Hälfte von ihm in einem pythagoreischen Winkel zur anderen Steht. Seine rechte Hüfte und Schulter haben die Fahrertür teilweise ausgebeult. Und seine linke Arschbacke ist der einzige Teil seiner Person, der mit dem Sitz in Berührung kommt. Anders als Taxifahrer in anderen Weltgegenden, die direkt hinter dem Lenkrad sitzen, sitzt er in der Ecke zwischen der rechten Tür und dem Fahrersitz. Dies hat einen guten Grund. Taxifahrer anderer Landstriche haben ein Gesichtsfeld von bestenfalls hundertachtzig Grad. Und das auch nur, wenn man das periphere Sehen einbezieht. Der Bombayer Taxifahrer kann sich von seinem Aussichtspunkt in der Ecke zwei 90 oder sogar 300 Grad des Universums optisch einverleiben.
    Der überragende Vorteil dieser zusätzlichen hundertundsoundsoviel Grad erschließt sich dem Fahrgast erst, wenn ein Lastwagen- oder Busfahrer mit der unerschütterlichen Entschlossenheit eines rachsüchtigen Gottes und der festen Absicht, ihn und das Taxi mit dem Straßenbelag zu assimilieren oder ihn zumindest fürs Leben zu verkrüppeln, auf den Wagen zudonnert.

    Andere Exkurse führen in die Niederungen der Prohibition, zu den auf indischen Hochzeiten obligatorisch aufspielenden Kapellen oder ins elitär verschachtelte Schulsystem der Stadt. Nötig sind diese externen Ausführungen auch deswegen, weil der Autor sie den beiden Hauptdarstellern nicht in den Mund legen kann. Insbesondere Ravan erweist sich nämlich als ziemlicher Dorftrottel in der Millionenmetropole. Er ist von grundgütiger Einfalt, entpuppt sich aber im Gegensatz zu Eddie als vorbildlich liebenswerter Mensch, der anderen hilft, wo er kann. Die Dünkel der katholischen Familie Eddies gegenüber Ravans hinduistischem Haushalt sind ungleich größer als umgekehrt. Doch das religiöse Getöse Bombays aus Hindus, Muslimen, Christen, Parsen, Jains und anderen taugt diesmal nur als Rauschen am Rande. Dasselbe gilt für das Mietshaus, in dem Ravan und Eddie hausen, ein sogenannter Chawl, nicht die beste, aber auch nicht die schlechteste Adresse in Bombay.

    Die Stadt lernt man in diesem Roman aus allen Richtungen kennen, von ihren Schokoladenseiten wie Marine Drive und Malabar Hill über ihre Schmuddelecken wie die Falkland Road bis hin zu ihren touristischen Sehenswürdigkeiten wie den Dhobi Ghats, wo die Stadt öffentlich ihre dreckige Wäsche wäscht. Bis in die Vororte erstreckt sich die Handlung und Kiran Nagarkar kann seine Liebe zu dieser Stadt, die seinen Bewohnern so viel abverlangt, nicht verhehlen. In einem Essay verglich er Bombay einmal mit einer Droge, für die man lieber sein Leben aufs Spiel setze, als auf sie zu verzichten.

    Seine beiden Kleindarsteller schickt er in der Megacity herum wie in einem Labyrinth. Dass ein Statist das Gegenteil von einem Star ist, müssen die beiden am eigenen Leib erfahren. Saukomisch begleitet Nagarkar die beiden Jungspunde, wobei er ähnlich wie die beiden immer wieder zur Höchstform aufläuft, sobald die Handlung unter die Gürtellinie gerät.
    Außer den erwähnten Einschüben über dies und das versammelt der Roman auch Briefe, die ein Ravan bekannter Mafiaboss an ihn schreibt, sowie Gedichte und Songtexte, die um dieses und jenes kreisen, vornehmlich um die Liebe, aber auch um Gott, was dem Erzähler die Gelegenheit bietet, herrlich mit den Zuständen der Welt inklusive dem Allmächtigen abzurechnen:

    Was wird nur aus dir werden, Herr?
    Wer wird einen Gedanken noch an dich verschwenden?
    Was beklagst du dich, Herr
    Haben, haben, haben!
    Das ist alles, was sie seit ihrer Kindheit kennen,
    Wie Vogeljunge
    Mit aufgerissenem Schnabel.
    Die armen Knirpse
    Wissen's halt nicht besser.
    Wie dem auch sei, sie werden groß
    Und füttern ihre eigenen Jungen.
    Männer und Frauen,
    Je mehr sie haben,
    Desto mehr wollen sie.
    Und den Schnabel reißen sie noch auf
    Wenn sie sechs Fuß
    Unter dem Rasen liegen.

    Was wird nur aus dir werden, Herr?
    Wer wird einen Gedanken noch an dich verschwenden?
    Deine Chance hast du gehabt,
    Du hattest alle Zeit der Welt.
    Hättest uns schließlich anders machen können.
    Doch du warst zu beschäftigt
    Mit deinem Gottgetue:
    Schenkst uns den freien Willen zum freien Killen,
    Erschaffst das Universum in sechs Tagen
    Und nimmst dir dann den siebten frei.
    Was für ein blöder Quatsch:
    Allmächtig, und braucht 'nen Ruhetag!

    Was wird nur aus dir werden, Herr?
    Wer wird einen Gedanken noch an dich verschwenden?

    Wie steht's mit dir, Herr?
    Wie hälst du's mit dir selber aus?
    Sag: bist auch du denn nach deinem Bilde
    Der Krone deiner Schöpfung konstruiert?
    Und trotzdem scherst du dich einen Dreck um alles?
    Siehst du sie nicht,
    Die verhungernden Kinder?
    Hörst du ihn nicht,
    Den stummen Schrei der Bäume
    Während die Regenwälder
    Zu Wüsten werden?
    Ist dir die Zunge abgefault,
    Dass du nicht einmal piep mehr machst,
    Wenn sie in deinem Namen
    Massen- und Völkermorde inszenieren?
    Deine Schöpfung in den Abgrund treiben?
    Was wird nur aus dir werden, Herr?
    Wer wird einen Gedanken noch an dich verschwenden?


    Diese Anklage, die im Buch weit mehr Verse aufbringt, gehört zum Bissigsten im Roman, der in seiner Gänze weniger bissig daherkommt als seine Vorgänger. Doch auch diesmal entlarvt Nagarkar die doppelmoralischen Standards der indischen Gesellschaft. Dabei spielt er mit Elementen des Schelmen- wie des Künstlerromans, legt einen purzelbaumschlagenden Realitätssinn an den Tag, wobei sein Roman ebenso lebenshungrig wie wirklichkeitsgesättigt daherkommt. Das vorläufige Ende seiner Protagonisten gestaltet Nagarkar in beinahe filmtauglicher Happy-End-Manier. Zu schön, um wahr zu sein, lässt er die Lebensläufe der beiden in die Härten der Realität rasten. Sei's drum: Mit Ravan und Eddie hat er eines der unwiderstehlichsten Paare der indischen Literatur erschaffen. Eine Fortsetzung bietet sich in ihrem Falle geradezu an. Was wird aus ihnen werden? Kommen Sie wirklich ganz groß raus? Finden Sie doch noch den Weg aus Indien hinaus? Bleiben sie in Bombay und senken ihre Blicke weiterhin ins Arabische Meer? Alles scheint möglich. Und es ist durchaus vorstellbar, dass Kiran Nagarkar in einigen Jahren einen weiteren großen satirischen Roman rund um das sagenhafte Duo veröffentlicht, in dem er ihnen womöglich in die Midlife-Crisis mit all ihren Bescherungen folgt. Zu wünschen wäre es ihnen. Und uns.

    Buchinfos:
    Kiran Nagarkar: "Die Statisten". Aus dem Englischen von Giovanni und Ditte Bandini. A1 Verlag. 640 Seiten. 28 Euro