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Briefe an Beethoven
"Lieber Ludwig, scheiß Er sie voll!"

Albrecht Selges Roman "Beethovn" ist kürzlich beim Rowohlt-Verlag erschienen. Statt auf Lesereise befindet sich der Schriftsteller wegen Corona derzeit jedoch im Home Office. Eine Situation, die ihn ein wenig an Beethoven erinnert, wie der sich vor den auf Wien vorrückenden Franzosen einst im Keller verschanzte.

Von Albrecht Selge | 30.03.2020
Der Schriftsteller Albrecht Selge (l)
Der Schriftsteller Albrecht Selge (l) im Gespräch mit Jörg Plath auf der Frankfurter Buchmesse 2016. (Deutschlandradio / Jana Demnitz)
Sehr geehrter, nein: höchstverehrter …
… und damit fangen die Probleme ja schon an! Denn eigentlich würde ich gern schreiben: lieber Herr van Beethoven, herzallerliebster Herr van Beethoven. Aber das geht natürlich nicht, das sieht wohl jeder ein.
Und da wären wir schon beim nächsten Problem: Sieze ich Sie oder duze ich Dich? Siezen ist zu distanziert, wenn man wen liebt; Duzen zu kumpelhaft, wenn einer derart fern ist. Ich glaube, ich werde es darum wie Ignaz Schuppanzigh machen, dieser adipöse Geiger, der Ihre-Deine späten Streichquartette uraufführte. Der erzte nämlich alle Menschen, furchtbar altmodisch schon damals. "Scheiß Er sie voll!", war Schuppanzighs schöner Rat zum Umgang mit einem verständnislosen Publikum.
Nach diesem Beispiel will also auch ich Ihn erzen, herzverehrtester Beethoven!
Neulich habe ich mir Ihn, herzverehrtester Beethoven, vorgestellt, wie er da im Frühling 1809 Seinen Kopf unter ein Kissen drückte, weil draußen die Kanonen so laut donnerten. Die Franzosen kamen gerade nach Wien, Er wird sich erinnern. Ob Er mir verraten möchte: Wollte Er damit Sein Restgehör schützen, oder war was Unerträgliches in der Frequenz? Jedenfalls, wie Er da im Keller seines Bruders hockte, Kopf unterm Kissen, daran musste ich im großen Home dieser Tage denken, in unserem Ausnahme-Frühling (der verglichen mit einem Krieg ja noch harmlos ist): Home-Office und Home-Schooling zugleich, dazu Home-Kleinkinderbespaßung und Home-Sich-nicht-die-Köpfe-Einschlagen, alles wegen Corona, und dann soll man irgendwie auch noch Home-Denken und Home-Schöpferisch-Sein, als ein geistiger Mensch.
Musik unterm einsamen Kissen
Bei dem heimischen Geräuschpegel möchte ich auch manchmal wie Er in den Keller und dort den Kopf unters Kissen stecken. Auch wenn ich nur ein Allerweltsgehör hab, ein halbwegs gesundes, anders als Er.
Und da frage ich mich: Welche Musik würde ich, statt auf die einsame Insel, unters einsame Kissen mitnehmen?
Erstaunlich viel Beethoven, das darf ich Ihm verraten, auch wenn es schleimerisch klingen mag.
Ich weiß ja nicht, wie Er, herzverehrtester Beethoven, das alles findet mit unserem Beethoven-Rummel heutzutage und diesen ewig wiederkehrenden Jubiläumsjahren. Viele Leute behaupten ja, Er würde darüber bestimmt den Kopf schütteln. Und, würde Er? Ehrlich gesagt, ich glaube eher, Er fände es durchaus angemessen. Gut, vielleicht nicht jede Beethoven-Tasse und jeden Beethoven-Kugelschreiber.
Alkoholhaltige Beethoven-Kugeln
Apropos, was würde Mozart wohl von den Mozartkugeln halten? Ich würde ja lieber mal Haydn-Kugeln probieren. Beethoven-Kugeln wären mir dagegen vermutlich zu alkoholhaltig. Auch wenn ich Ihm, herzverehrtester Beethoven, alles gönne, was er zum Leben, zum Überleben brauchte.
Also, so im Großen und Ganzen fände Er ihn doch angemessen, unseren Beethoven-Rummel, oder?
Dass Er es richtig fände, dass in unseren heutigen Konzertsälen mehr Beethoven als Frauen – alle Komponistinnen zusammen – gespielt wird, das kann ich mir dagegen nicht vorstellen. War Er doch immer ein fortschrittsfreudiger Geist. Also würde ich zum Beispiel auch das aufregende Streichquartett von Fanny Mendelssohn, verheiratete Hensel einpacken. Wie Er dieses Werk fände, würde mich übrigens mal interessieren. Fanny Hensel jedenfalls stand ja ganz im Bann Seiner späten Quartette.
Und das kann ich wirklich verstehen. Denn Seine fünf letzten Streichquartette würde ich unter jedes einsame Kissen mitnehmen. Der dicke Schuppanzigh meinte ja, zu spielen wärs nicht so schwer, aber der Zusammenhang, der Zusammenhang … So geht’s manch einem mit klassischer Musik überhaupt: anzuhören nicht schwer, aber der Zusammenhang.
Späte Streichquartette als Lebensbegleiter
Seine späten Streichquartette habe ich erst relativ spät kennengelernt. Zu einem Zeitpunkt, da ich die Sinfonien längst über hatte, oder glaubte, sie über zu haben. Als ich zum ersten Mal eins der späten Quartette hörte, die doch als so schwierig und sperrig und komplex gelten: Da wars mir wie ein Aha-Erlebnis. Er verzeihe dieses Schluckauf-Wort, aber "Offenbarung" klingt mir zu verschwiemelt, und es wird überhaupt oft zu verschwiemelt über Ihn gesprochen. Entweder verschwiemelt oder aber banal, "Offenbarung" oder "Kugelschreiber". Da sag ich doch lieber "Aha-Erlebnis". Unmittelbar berührend fand ich diese merkwürdigen Streichquartette, tief bewegend. Kurz gesagt: schön. Und: einfach, im besten Sinne einfach. Und seither sind mir diese Seine fremden späten Streichquartette ein wahrer und immer wieder beglückender Lebensbegleiter. Weil es Musik ist, die vom Leben spricht und singt und weint und tanzt. Die das Leben liebt, das todtraurige und wunderschöne, das zerbrechliche Leben.
Die würde ich auf jeden Fall mitnehmen unters einsame Kissen. Und in unseren Corona-Zeiten vielleicht das a-Moll-Quartett besonders oft hören, mit dem "Heiligen Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit, in der lydischen Tonart".
Das wär’s schon, herzverehrtester Beethoven. Bleib Er, wie er war, nämlich immer anders, und ansonsten … scheiß Er sie voll!
Mit herzlichen Grüßen,
Albrecht Selge