Donnerstag, 02. Mai 2024

Archiv

Chanson des Monats März
Europa

Wohin steuert das Schiff Europa, fragt sich Thomas Pigor im Chanson des Monats März. Wer lenkt es durch die aufziehende Schlechtwetterfront? Und hat Europa überhaupt ein Steuer?

Von Thomas Pigor | 03.03.2016
    Thomas Pigor in stürmischen Zeiten
    Thomas Pigor in stürmischen Zeiten (Deutschlandradio / Thomas Pigor)
    Thomas Pigor ist ein deutscher Kabarettist, Liedermacher, Buchautor und Komponist. Pigor ist seit Ende der 1970er-Jahre als Musikkabarettist mit verschiedenen Bühnenprogrammen unterwegs.
    Europa
    Text und Musik: Thomas Pigor
    Wir stachen in See vor mehr als sechzig Jahrn
    Anfangs warn wir nur sechs in unserem Kahn
    Im Laderaum hatten wir Kohle und Stahl
    Und einen Sack voller Träume als Startkapital
    Langsam wurden wir mehr, es ging auf und davon
    Über Rom, Maastricht und Lissabon

    Nein, die meiste Zeit fuhrn wir mit halber Kraft
    Lissabon, weiter haben wirs nicht geschafft
    Und das Schiff heisst Europa, das Meer ist die Zeit
    Wir steuern durch die Wellen der Unwägbarkeit
    Und der Wind bläst von vorn
    Uns umnebelt die Gischt
    Während ein Brecher nach dem anderen auf die Planken drischt
    Der Laderaum ist jetzt zum Bersten voll
    Mit Immobilien, Autos und Alkohol
    In der ersten Klasse steht ein Riesenbuffet
    Wo Typen, die aussehn wie Gérard Dépardieu

    Die Reste verteilen, doch achten sie scharf
    Darauf wer und wer nicht davron essen darf
    Damit nicht alles aufs Oberdeck drängt
    Überlegen sie, wie man am Besten die Treppen verengt
    Und das Schiff heisst Europa und es fährt durch die Zeit
    An Bord sind Kraftmeierei und Kurzsichtigkeit
    Und uns´re ewigen Macchiavelli – Adepten
    Die starken Männer mit den alten Patentrezepten
    Erklären schon bei der kleinsten Gefahr:
    "Genug jetzt, ich mache mein Rettungboot klar!"
    Dabei zeigt sich schon lange am Horizont
    Mehr als eine Schlechtwetterfront
    Statt in den Maschinenraum renn´n die Idioten
    Zu den vermeintlich sicheren Rettungsbooten
    Und Schiffbrüchige treiben wortwörtlich im Meer
    Von der Reling aus droht man ihnen mit dem Gewehr
    Manche schaffens an Bord, doch von der tapferen Crew
    Schließt einer nach dem andern seine Kabine zu
    Und auf der Brücke stehn 28 souveräne
    Demokratisch gewählte Kapitäne
    Und stelln sich bis nachts um Fünf Ultimaten
    Und streiten sich um die Zielkoordinaten
    Wo steuert es hin unser schönes Projekt
    Die Kompromissmaschine ist defekt
    Und das Schiff heisst Europa und es fährt durch die Zeit
    Unsre Stärke wär eigentlich unsre Konsensfähigkeit
    Der Interessensausgleich, Demokratie
    Theoretisch. Vielleicht sogar sowas wie Empathie
    Anstatt dass jetzt die Intellektuellen
    Europas über die Bordsprechanlage die Frage stellen
    "Wie organisiern wir jetzt unsre Seetüchtigkeit?"
    Signalisiern sie vor allem Müdigkeit
    Und von den Nachbarschiffen, von hinten von vorn
    Tutet es SOS mit dem Nebelhorn
    Alles so schrecklich, blutrünstig und obszön
    Dass dem Songschreiber glatt die Metaphern ausgehn ...