Freitag, 29. März 2024

Archiv

Corso-Gespräch
Sebastien Tellier - der Franzose, der von Brasilien träumt

Sebastien Tellier hat sein neues Album "L'Aventura" mit einem kräftigen Schuss Brasilien gewürzt. Glückliche Fügung oder cleveres Marketing zur WM? Ein Fußballfan ist Tellier auf jeden Fall nicht, sein Vorbild ist der ketterauchende Verführer Serge Gainsbourg.

Sebastien Tellier im Gespräch mit Marcel Anders | 10.07.2014
    Marcel Anders: Monsieur Tellier, ein brasilianisches Album zum Finale der Fußballweltmeisterschaft - cleveres Marketing oder purer Zufall?
    Sebastien Tellier: Ich habe schon vor fünf oder sechs Jahren mit "L'Aventura" angefangen. Und erst Ende 2013 meinte jemand von meiner Plattenfirma: "Ist dir bewusst, dass die WM in Brasilien stattfindet?" Was ich für wunderbar hielt. Denn es ist das erste Mal, dass ich etwas mache, das mit dem Zeitgeist und der Stimmung in der Welt übereinstimmt. Also dass ich nicht mehr der verrückte Künstler bin, der allein auf weiter Flur steht, sondern ich bin im Einklang mit dem, was um mich herum passiert. Wobei ich zugeben muss, dass ich kein großer Fußballfan bin. Und von daher verbirgt sich dahinter auch kein Masterplan.
    Anders: Was fasziniert Sie so an dem Land, dass sie ihm gleich zehn Stücke widmen?
    Tellier: Ich habe Brasilien entdeckt, als ich dort 2008 mit meinem Album "Sexuality" auf Tour war. Da wurde mir bewusst, dass es etwas ganz anderes ist, brasilianische Musik in Brasilien zu hören, als beispielsweise in Frankreich. Sie entwickelt einen völlig anderen Charme, weil sich dein Geschmack dem Ort anpasst, an dem du dich gerade befindest. Im Sinne von: Du bist dieselbe Person, nimmst aber alles ganz anders wahr.
    Und als ich brasilianische Musik in Brasilien gehört habe, hat das bei mir keine banalen Gefühle wie "das klingt aber nett" ausgelöst, sondern es war wie ein Blick in den Spiegel.
    Anders: Inwiefern?
    Tellier: Ich habe mich selbst in der Musik gesehen. Denn sie ist wie ich: Nicht sonderlich intellektuell, meist sehr locker, aber durchaus komplex. Was auch bedeutet, dass sie nicht leicht zu spielen ist und eine Menge Arbeit dahinter steckt.
    Aber ich habe mich darin wieder erkannt - als Künstler, dessen komplizierte Seite sich nie vollends ausschalten lässt, der aber in erster Linie Freude und Spaß vermitteln will. Dafür ist brasilianische Musik perfekt: Sie ist kompliziert zu spielen, aber das Ergebnis klingt herrlich naiv.
    Anders: Demnach mussten Sie die Musik erst einmal studieren, um Ihre eigene Interpretation abliefern zu können?
    Tellier: Ganz genau. Wobei das Komponieren noch das Einfachste war, denn ich habe mir ein perfektes Brasilien vorgestellt - mit allen Klischees, die dazugehören. Und das habe ich in Paris getan. In meinem Keller, der sonst eher an Pink Floyd erinnert, und den ich sechs Monate lang umdekorieren musste, um dort eine entsprechende Stimmung zu erzeugen und wirklich brasilianische Rhythmen hinzukriegen.
    "Ich bin kein Experte für südamerikanische Musik"
    Anders: Also ein paar brasilianische Flaggen, Sandboden, eine Caipirinha-Maschine und ein paar Palmen?
    Tellier: Ja, schließlich ist es das Album eines Franzosen, der von Brasilien träumt. Und ich wollte Spaß dabei haben, es aber gleichzeitig betont französisch halten. Im Sinne von: Es sollte keine Parodie werden, und ich wollte mich auch nicht in die Nesseln setzen. Denn ich bin kein Experte für südamerikanische Musik. Ich spiele nur meine Version davon. Insofern ist das Ganze so, als hätte ich einen Film gedreht, den ich zwar auf Französisch erdacht, aber mit echten Brasilianern umgesetzt habe. Denn selbst wenn das Album ein Traum ist, so braucht es doch etwas Echtes, etwas Reales. Denn wenn alles falsch ist, fühlt sich das nicht richtig an.
    Anders: Dann folgen Sie demselben Ansatz wie Serge Gainsbourg, der in den 80ern mit Sly & Robby gearbeitet hat, um einen Hauch von Jamaika einzufangen?
    Tellier: Richtig. Es geht darum, unterschiedliche Aromen einfließen zu lassen. Was allein deshalb wichtig ist, weil man sich als Mensch ja nicht komplett verändern kann. Also egal, ob man nun Künstler oder ein normaler Arbeiter ist. Aber man kann sein Parfum wechseln. Genau wie seinen Stil.
    Anders: Und das macht sie zum "neuen Serge", wie Sie gerne bezeichnet werden?
    Tellier: Vielleicht. Wobei ich schon versuche, ein bisschen anders zu sein. Das fängt bei meinem Gesang an, der sehr hoch ist - wie bei einem Kind. Und ich lege meine Melodien bewusst anders an als er. Trotzdem haben wir einiges gemeinsam. Was allein deshalb unvermeidlich ist, weil er so einflussreich war und immer noch allgegenwärtig ist. Was für viele französische Musiker ein echtes Problem darstellt. Eben weil es superschwer ist, sein Level zu erreichen und man sich im Grunde nur lächerlich machen kann, wenn man mit ihm konkurriert.
    Deshalb habe ich ewig gebraucht, bis ich mich getraut habe, französische Texte zu schreiben. Das tue ich auf "L'Aventura" zum allerersten Mal. Eben wegen der Angst, mit Serge verglichen zu werden. Denn er stand für wahre Poesie. Doch mittlerweile scheine ich eine Lösung gefunden zu haben. Und genau das ist ja die Aufgabe eines Künstlers. Also Ansätze zu finden, um etwas Neues zu machen.
    Anders: Was soll das sein?
    Tellier: Naive Kunst. Denn Serge war nicht naiv, und er hat auch keine Kunst für Kinder gemacht. Im Gegenteil: Seine Sachen waren extrem erwachsen. Von daher besteht mein Ansatz darin, gute Texte zu schreiben, die von meinem inneren Kind stammen, aber zugleich auch die Erfahrung und die Technik eines Erwachsenen aufweisen. Also mit ganz simplen Worten, ohne da wer weiß was für eine Poesie kreieren zu wollen, und um ganz direkt zu sagen, was mir auf der Seele brennt. Auf diese Weise versuche ich, etwas zu schaffen, ohne Serge dabei übertreffen zu wollen. Was eh unmöglich wäre.
    Zumal ich jeden Tag an ihn denke. Denn er ist so etwas wie mein Meister. Genau wie er gleichzeitig mein schlimmster Feind ist. Für mich ist es unmöglich, Musik zu machen und ihn dabei komplett auszublenden. Er ist immer irgendwo. Und sei es nur in einem Akkord, einer Melodie oder in der Tatsache, dass ich genauso viele Zigaretten rauche wie er. Von daher kann ich ihn nicht völlig verdrängen.
    "Frauen brauchen keine Teddybären"
    Anders: Und das Kind in Ihnen vermisst seinen Teddybären, wie sie es in "Comment Revoir Oursinet" formulieren?
    Tellier: Es ist ein langer, fast 15-minütiger Song darüber, dass Sensibilität und Einfühlungsvermögen viel besser sind als Gier und Macht. Denn für mich als modernen Mann ist es längst nicht wichtig, so stark wie andere Männer zu sein und mich mit ihnen zu messen. Ein cooler Typ ist vielmehr sanft und süß wie ein Teddybär. Er bereitet anderen Vergnügen, selbst wenn sie das nicht erwidern. Und ich für meinen Teil bemühe mich, eine neue, bessere Welt zu schaffen, in der wir alle träumen können. In der die bösen Jungs morgens aufwachen und sich an ihren Teddy erinnern, der so süß und weich war. Dann könnte die Welt ein besserer Ort sein.
    Anders: Wie steht es mit Frauen - brauchen sie ebenfalls einen Teddybären oder wären sie mit einem Teddybär-Typen an ihrer Seite glücklicher?
    Tellier: Nein, Frauen brauchen keine Teddybären. Sie sind perfekt, wie sie sind. Nämlich super-cool, offen und sensibel. Sie schätzen das Leben, spielen keine intellektuellen Spielchen und stehen mit beiden Beinen im Leben. Und sie kommen ohne Macht aus. Sprich: Sie sind ganz anders als diese fiesen Typen, bei denen sich alles darum dreht: "Ich will Macht, um andere Männer zu zerstören."
    Wobei die Entwicklung in Europa und den USA auf dem richtigen Weg scheint. Aber in vielen Teilen der Welt dominiert immer noch diese alte Gangart von wegen: "Wir müssen stark sein, um unsere Machtposition auszubauen." Was so lächerlich und überholt ist. Wenn sie mich fragen, haben diese Typen ihre Teddybären zu früh abgegeben. Deshalb sind sie Monstern geworden.
    Anders: Oder haben bei der jüngsten Europawahl den Front National gewählt?
    Tellier: Richtig! Der Front National braucht dringend ein paar Teddybären. Und das Merkwürdige ist: Wo ich auch bin, ob in Paris oder sonst wo in Frankreich, ich spüre kaum Rassismus. Ich sehe nur glückliche, zufriedene Menschen. Und das gilt für Lyon, Lille, Marseille und all die großen Städte. Da sind die Leute super-cool. Nur: Im Geheimen, also nicht in aller Öffentlichkeit, scheinen sie Araber und Schwarze zu hassen. Was eine Schande ist. Denn Frankreich sollte eigentlich so offen sein, dass jeder seine religiösen und sexuellen Präferenzen ausleben und ein Leben in Luxus und Reichtum genießen kann. Doch der Front National hat überhaupt nichts Glamouröses ...
    Anders: Also wie Frankreich ohne St. Tropez?
    Tellier: Ganz genau! Er ist wie ein hässliches Waffengeschäft mitten in einer idyllischen Einkaufsstraße. Sprich: Er ist zwar legal, passt aber nicht in den Kontext. Und ich finde das Verhalten der Franzosen super-merkwürdig. Mehr noch: Ich bin wahnsinnig enttäuscht davon. Denn sie haben alles: Eine Menge Menschen sind hochintelligent, die Musikszene mit Daft Punk, Air, Justice und mir ist klasse, und wir haben wunderschöne Berge, Strände, Städte und Brücken. Außerdem ist unser nationales Lieblingsgericht Couscous. Aber wenn sie wählen gehen, erinnern sich sie scheinbar nur an diesen Song von The Cure - an "Killing An Arab". Und das ist wahnsinnig traurig.
    Anders: Vielen Dank für dieses Gespräch!