Noch immer schaufeln Bagger und Bauarbeiter den Schlamm weg. Riesige, rotbraune Erdmassen, inzwischen getrocknet, an manchen Stellen gar mit Gras bewachsen, rundherum Wald und sanfte Hügel. Wenn Carmen Sandra Barbosa de Paula auf die Szene blickt, sieht sie eine klaffende Wunde, die nicht aufhört zu schmerzen
"Kriegsszenen. Das sind die Bilder, die ich mit diesem Tag verbinde. So viele verzweifelte Personen zu sehen, Hubschrauber, die Leichen transportierten, so viele Krankenwagen. Es waren Tage wie im Krieg."
Carmen Sandra und ihr Mann Clenilson sind Überlebende. Überlebende jenes 25. Januar 2019 als hier, in Córrego do Feijão nahe der brasilianischen Kleinstadt Brumadinho, der Damm des Rückhaltebeckens einer Eisenerzmine brach. Dreißig Millionen Tonnen giftiger Schlamm wälzten über die Kantine und die Büros des Minenbetreibers Vale hinweg, rissen Bäume, Brücken und Häuser mit sich, verseuchten den Fluss, zerstörten Existenzen. Und raubte den Barbosas einen Neffen, fünf Cousins sowie Dutzende Freunde und Arbeitskollegen, die gerade in der Mittagspause waren. Insgesamt mehr als 270 Menschen starben. Es war die größte Bergbaukatastrophe Brasiliens.
Dammbruch als Folge von Korruption?
Was bleibt sind Fotos, Trauer und Wut. Es war kein Unfall, sagt Carmen Sandra, es war ein Verbrechen. Verantwortlich dafür sei nicht nur der Minenbetreiber, Brasiliens größter Bergbaukonzern Vale, sondern auch eines der angesehensten deutschen Unternehmen: der Münchner Prüfkonzern TÜV Süd.
"Ich bin empört, wie es sich diese Unternehmen erlauben konnte, die Stabilität des Dammes zu bescheinigen, obwohl sie wussten, dass er Probleme hatte. Mit diesem Risiko ein Zertifikat auszustellen, war ein Todesurteil."
Das brasilianische Tochterunternehmen von TÜV Süd hatte den Damm nur vier Monate vor dem Bruch geprüft und als sicher befunden – ohne dieses Stabilitätszertifikat hätte der Betrieb in der Mine eingestellt werden müssen. Doch es wurde wider besseren Wissens ausgestellt, davon ist William Coelho überzeugt. Er ist Staatsanwalt des Bundesstaates Minas Gerais, in dem sich die Mine befindet. Aus internen Mails gehe sowohl hervor, dass die Ingenieure von TÜV Süd in Brasilien wussten, dass der Damm die Stabilitätswerte nicht erfüllte, dass sie im engen Austausch mit einem TÜV-Manager aus Deutschland standen – und, dass sie Konsequenzen des mächtigen Auftraggebers Vale fürchteten, sollte der Damm nicht zertifiziert werden. Der Staatsanwalt spricht nicht nur von Fahrlässigkeit, sondern von Korruption
"Tatsächlich wurde nach dem Stabilitäts-Gutachten des Staudamms ein Vertrag über damals mehr als zwei Millionen Euro abgeschlossen, für strukturelle Projekte. Wir sehen diesen Vertrag als eine Belohnung für das rechtswidrige Gutachten. Dazu kommt, der TÜV Süd erbrachte damals noch weitere Dienstleistungen für Vale, es gab offenkundig Interessenskonflikte."
TÜV Süd sieht sich zu Unrecht beschuldigt
Schwere Anschuldigungen gegenüber einem Unternehmen, das in der ganzen Welt für Unabhängigkeit, Integrität und deutsche Gründlichkeit steht. Der TÜV Süd sieht sich zu Unrecht angeklagt, der Betreiber Vale habe seine Haftung anerkannt und auch bereits Entschädigung gezahlt. In einer schriftlichen Stellungnahme an die ARD heißt es:
"Unsere Gedanken sind bei den Opfern und ihren Familien. Wir sind jedoch überzeugt, dass TÜV SÜD keine rechtliche Verantwortung für den Dammbruch trägt."
Die Prüfung des Dammes sei ordnungsgemäß erfolgt, die Stabilitätsanalysen hätten den geltenden brasilianischen Regelungen und technischen Standards entsprochen. Darüber soll nun das Landgericht in München entscheiden. Die Stadt Brumadinho, die seit dem Dammbruch wirtschaftlich nicht mehr auf die Beine kam, und Angehörige klagen auf Entschädigung und Schmerzensgeld. Bürgermeister Alvimar de Melo Barcelos wird beim Auftakt am kommenden Dienstag im Gerichtssaal sitzen:
"Ein Urteil in Deutschland würde endlich die Gerechtigkeit bringen, die die Menschen in Brumadinho wollen. Eine gerechte Entschädigung für all die Schäden und das vergossene Blut."
Hoffen auf die deutsche Justiz
Es wäre ein Präzedenzfall, sagt der deutsche Anwalt Jan Erik Spangenberg, der die Angehörigen gemeinsam mit der Kanzlei PGMBM vertritt
"Das ist in mehrfacher Hinsicht ein wichtiger Präzedenzfall, es gibt ja seit einiger Zeit eine politische und rechtspolitische Diskussion, ob Unternehmen auch für ihr Verhalten im Ausland verantwortlich gemacht werden können, an ihrem Unternehmenssitz in Deutschland und diese Verantwortlichkeit, die gibt es eben schon, auch außerhalb des Lieferkettengesetzes."
Vor dem Landgericht dürfte es allerdings zunächst um Verfahrensfragen gehen.
Wenn jemand etwas bewegen kann, dann die Justiz in Deutschland, sagen Carmen Sandra Barbosa und Clenilson de Paula in ihrem Garten in Córrego do Feijão. Hier bauen sie Bananen an, Kürbis, Avocado und Beeren. Das hilft gegen die traumatischen Bilder im Kopf, die Angstattacken und Depressionen, die immer wieder kommen, sagt Clenilson
"Der einzige Ort, an dem ich auf andere Gedanken komme, ist mein Garten. Ich bin überzeugt, dass der Umgang mit Pflanzen besser für mich ist als der mit Menschen. Pflanzen sind Leben. Menschen zerstören aus Profitgier. Unsere Gemeinde hier hat alles verloren."
Als eine der wenigen Familien sind sie in dem kleinen Ort nahe Brumadinho geblieben, versuchen weiterzumachen, irgendwie.