Freitag, 26. April 2024

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Das glückliche Alter

Robert Musil zählte die Norwegerin Sigrid Undset zu den "Erzphilistern" in der Literatur, obgleich er ihren Roman "Olaf Audunssohn" bewunderte. "Ich hasse diese Frau", schrieb er 1930, "aber sie hat etwas Homerisches. In der Mühelosigkeit und Plastik ihres Erzählens." Unter dem Titel "Tante Undset erzählt" kritisierte er 1937 das Fehlen des Problematischen, Reflexiven in der riesenhaften Breite und "prächtigen Evidenz" ihres Erzählens.

Marie-Luise Bott | 18.09.1999
    Die russische Dichterin Marina Zwetajewa las Undsets Romantrilogie "Kristin Lavranstochter" 1930 und meinte: "Das Beste, was über das Frauenlos geschrieben wurde. Verglichen mit ihr ist Anna Karenina eine Episode." Von den drei Teilen "Der Kranz", "Die Frau", "Das Kreuz" erbat Zwetajewa sich in der Armut des Pariser Exils von einer Freundin Band 2: "Die Frau." 1934 las sie den Roman zum fünften Mal. Zwetajewa nannte Undset nach einem Rilke-Vers "die Frau, die keine Blume war"; d. h. eine, die nicht blühen, sondern wie die Dichter dunkel sein und sich bemühen wollte. Von anderen Roman Undsets, "Jenny" und "Ida-Elisabeth", war Zwetajewa enttäuscht: "Durchschnittsmenschen", so urteilte sie.

    Bis vor kurzem waren nur drei Bücher Undsets im Handel: "Frau Marta Oulie" (1907), "Jenny" (1911) und "Kristin Lavranstochter" (1920-22). Die Autorin schien fast vergessen. Jetzt entdeckt sie der Suhrkamp Verlag wieder. Oder besser, nicht er, sondern ein Mailänder Verlag veröffentlichte vor einem Jahr ihre frühe Novelle "Das glückliche Alter". Auch Suhrkamp hat sie nun neuübersetzt herausgebracht und dazu das italienische Nachwort übernommen.

    "Das glückliche Alter" handelt von Durchschnittsmenschen. Zwetajewa wäre also enttäuscht. Dabei ist der Titel Ironie: ein Tanten-Wort. Tante Hilda sagt: "Ein glückliches Alter, Kinder, in dem ihr jetzt seid - das ganze Leben, die ganze herrliche Jugend noch vor euch!" Die "Kinder" - das sind 18jährige verwaiste Frauen in einer norwegischen Kleinstadt, die im Büro oder als Gouvernante ihren Lebensunterhalt verdienen und um ihre Berufung als Mensch und ihr Glück als Frau kämpfen. Musil wäre von der Lakonie dieser frühen Erzählung angetan. Doch fehlt auch hier jedes reflexive Element. Es ist ganz unmittelbar bildliches Erzählen, geschrieben 1908 von einer 26jährigen Frau, die früh ihren Vater verlor, seit dem sechzehnten Lebensjahr in einem Ingenieurbüro arbeitete und eben mit ihrem ersten Roman debütiert hatte.

    "Das glückliche Alter" hat - wie ein klassisches Drama - fünf Teile. Kapitel I exponiert die Hauptfigur Uni Hirsch. Sie ist mit Verwandten zu Besuch in der Stadt ihrer Kindheit. Sie ist einsam, ungeduldig und sehnt sich danach, aus der Enge ihrer Verhältnisse herauszukommen. Dagmar, eine Schulkameradin, hat den konventionellen Weg gewählt und sofort geheiratet. Sie prunkt mit eleganter Garderobe und luxuriöser Wohnung. Drei Jahre später wird von ihr schon als einer verblühten Frau die Rede sein. Jetzt bedauert Dagmar die Büroangestellte aus der Provinz und mahnt Uni an ihre Theaterbegabung. Von der Mühe, sich diesen Weg zu bahnen, gibt Uni der leichtlebigen Freundin keine Vorstellung.

    In Kapitel II schürzt sich der Konflikt. Uni lebt in der Kleinstadt - ganz unkonventionell - allein zu Untermiete, arbeitet, nimmt Schauspielunterricht und holt abends ihren Verlobten, Ingenieur Kristian Hjelde, von der Fabrik ab. Unterschiedliche Rollenvorstellungen und Geldnot sorgen für Spannungen. Kristian arbeitet hart. Er will seine künftige Frau gut versorgen können, nimmt aber bei der Stellensuche Rücksicht auf Unis Theaterambitionen, die sie an die Stadt binden. Uni liebt Kristian, hält aber an der Erprobung ihrer künstlerischen Fähigkeiten fest, bevor sie nur sein Leben begleitet. Auf Damen-Tees über "die freie Liebe" fühlt sie sich verloren.

    Unis Freundin Charlotte unterhält mit Büroarbeit das Leben ihrer verwitweten Mutter und der Schwestern und will zugleich der Dichtung leben. Diese Spiegelfigur der Autorin hätte Lust, über diese Stadt mit all den "respektablen Lohnsklaven" und ihren "vielen kleinen, jämmerlichen Sehnsüchten" zu schreiben, über Frauen, die keine Geschichte haben, sondern nur einen kleinen Traum von einem Mann. "Wir haben eine Arbeit, von der wir leben müssen, aber für die wir nicht leben können. Wir setzen nichts aufs Spiel... Nur einen einzigen Augenblick leben, wie es unserem Wesen enspricht." Aber gefangen im Familienkäfig, den zu verlassen sie nicht rücksichtslos genug ist, gelingt Charlotte kaum noch etwas. Müde vom Warten wird sie sich einige Jahre später, kurz nach dem Tod ihrer Mutter, das Leben nehmen. Die Grundsituation, unter der diese jungen Frauen leiden, heißt "Unbewegtheit." Der Grundzustand ihres "glücklichen Alters" ist "nervös und gereizt" oder "verletzt und gereizt." Ein erfolgloses Vorsprechen beim Theaterdirektor hat Uni als demütigend erlebt.

    Kapitel III bringt den Konflikt zum Ausbruch. Dank Charlottes Beziehungen hat Uni die Hauptrolle im Stück eines jungen Autors bekommen. Von Künstler und Stück ist sie enttäuscht, von den Proben desillusioniert; am Theater bleibt sie eine Fremde. Aber sie gesteht es sich nicht ein. Die Premiere läuft gut, die Kritiken sind günstig. Uni wird engagiert und spielt in Operetten. Ihre Rollen hat sie bald gründlich satt. Aber sie badet in Bewunderung. Kristian will wissen, ob Uni am Theater glücklich ist und die Kunst für sie noch immer an erster Stelle steht. Uni übertönt ihre Verzweiflung und hält daran fest, daß die Kunst ihr noch immer das Teuerste ist und ihrer Liebe zu Kristian erst Wert gibt. Bald darauf siegt Uni in einer französischen Farce weniger mit künstlerischen Mitteln, als in gewagter Halbbekleidung. Kristian ist wegen des Geredes in seinem Büro peinlich berührt. Da wirft Uni ihm vor, daß er nie an ihr Talent geglaubt und immer nur gewartet habe, daß sie eines Tages aufgibt und bei ihm unterkriecht. Sie löst ihre Verlobung. Bald einsam, bereut sie ihren Egoismus. Doch Kristian lehnt ein Wiedersehen ab.

    Kapitel IV, die Peripetie, zeigt, worüber Sören Kierkegaard 1843 schrieb: "Die Wiederholung oder Krise im Leben einer Schauspielerin." Unis letzte Rolle war ein Fiasko, die Kritiken sind schlecht. Ein Leben als mittelmäßige Operettenschauspielerin erträgt sie nicht. Die Abhängigkeiten sind größer als im Büro und auch Geldprobleme gibt es. Uni begreift jetzt, daß Kristian sie vordiesem Leben schützen wollte. Sie geht zu ihm beide finden sich wieder und Uni scheint aus ihrer Einsamkeit gerettet.

    In Kapitel V erwartet Uni in sehr dürftigen Verhältnissen zusammen mit Kristian ein Kind. Zur Familie spürt sie ein festes Liebesband. In Gedanken kehrt sie zu ihrem letzten Theatererfolg zurück. Aber sie kann nicht beides zugleich: spielen und für Kristian das sein, was er braucht. Dennoch lebt in ihr immer noch der Drang, aus der Enge auszubrechen, eine Energie, wie sie im Hause Kristians nie gebraucht werden wird. Ihre Tochter nennt sie Nora. Und das ist Programm.

    "Das glückliche Alter" erzählt knapp und leichthin ein unheldisches, durchschnittliches Frauendrama mit offenem Ende. Daß Undset die Ambivalenz der Rollenwahrnehmung für ihre Hauptfigur bis zuletzt offenhält und nicht löst, gibt der Novelle eine ganz unfeministische Modernität. Die Ambivalenz in der Selbstwahrnehmung der Frau bleibt bei Undset bis zu ihrer großen Romantrilogie der 20er Jahre, "Kristin Lavranstochter", ungelöst. Hier beginnt die geistige Selbstwerdung der Frau erst mit Trennung und Weggang von der Familie.