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"Das neue System soll ein demokratisches System sein"

Nach 42 Jahren Diktatur finden in Libyen erstmals freie Parlamentswahlen statt. Anfang des Jahres hob der Übergangsrat das 1972 von Gaddafi verhängte Verbot von politischen Parteien auf. Seitdem sind rund drei Dutzend Parteien quasi über Nacht entstanden.

Von Marc Thörner | 07.07.2012
    "Das neue System soll ein demokratisches System sein, nicht mehr so wie bei Gaddafi. Dass das ganze Volk auswählen kann, wer der Präsident ist, dass es ein Parlament gibt, dass man frei wählen kann, dass jeder von uns seine Rechte hat und dass es ein demokratisches Land wird, so wie Europa, wie Amerika."

    Atique ist eine von mehreren Studentinnen, die im Zentrum von Bengasi eine der häufigen Demonstrationen beobachtet. Sie hat lange in der Schweiz gelebt, erzählt sie. Ob sich Libyen zukünftig am deutschen, französischen, am Schweizer Demokratiemodell orientiert oder ein neues Modell mit islamischen Elementen umsetzt, das ist ihr völlig egal – Hauptsache: Freiheit, Wahlen, Selbstbestimmung. Ein Teil ihres Traumes könnte an diesem Wochenende in Erfüllung gehen. Libyen wählt ein 200 Sitze umfassendes Parlament.

    Anfang des Jahres hob der Übergangsrat das 1972 von Gaddafi verhängte Verbot von politischen Parteien auf. Seitdem sind rund drei Dutzend davon quasi über Nacht entstanden, Gruppen mit Namen wie Neues Libyen, Demokratische Libysche Partei, Partei für Reform und Entwicklung, Libysche Verfassungsunion oder Nationale Einheitspartei Libyens.

    Aly el Kothany, libyscher Botschafter in Deutschland, zeigt sich skeptisch. Parteien seien eher politische Importprodukte und wenig geeignet für ein dünn besiedeltes Land, in dem nur wenige Menschen in den großen Städten mit Ideologien etwas anfangen könnten:
    "Viele Leute wollen Parteien, aber das Land ist nicht einheitlich, zum Beispiel: Die meisten sind konzentriert in Tripolitanien, in Tripolis und in anderen Gebieten sind wenig. Die fühlen sich in der Peripherie nicht so richtig vertreten. Auf der anderen Seite werden Leute Interessengemeinschaften bilden, Initiativen, die irgendwo die Interessen der Leute vertreten. Zum Beispiel Greenpeace, Attac, solche Organisationen mit sozialen und politischen Interessen. Das kann sich auch so entwickeln."

    Nicht so sehr politikbegleitende Organisationen wie Greenpeace oder Attac, sondern Stämme und Milizen sind es, die jetzt auf ihre Interessen pochen. In den ersten Julitagen ließen sie in Bengasi das Büro der zentralen Wahlkommission stürmen und dort Stimmzettel verbrennen. Grund: Ostlibyen soll im zukünftigen Parlament nur 60 Parlamentssitze erhalten, Westlibyen aber 102.

    Egal ob Miliz, Organisation, unabhängiger Kandidat oder Partei – bereits jetzt kann man zwei große Strömungen ausmachen: die säkulare und die religiöse. Wer sich durchsetzt, dürfte ein entscheidendes Wort bei der Gestaltung der zukünftigen Gesetze mitzureden haben. Denn das neue Parlament ist zugleich eine verfassunggebende Versammlung. Tonangebend in den ersten Tagen der Revolution waren säkulare Kräfte. Sie sind im Übergangsrat noch immer sehr stark vertreten. Zum Beispiel durch den stellvertretenden Vorsitzenden, Abdelhafid Ghoga. Der Anwalt machte sich dadurch einen Namen, dass er unter dem alten Regime. Gaddafi-Gegner verteidigte:

    "In Libyen soll es einen Säkularstaat geben. Selbstverständlich ist dies ein islamisches Land, aber Staat und Religion sind unterschiedliche Aspekte, beide sollten klar voneinander getrennt sein. Religion sollte eine Privatsache sein, im Rahmen weltlicher Gesetze."

    Nicht zuletzt bei den Freitagspredigten auf Bengasis großem Platz kann man aber erkennen, dass sich in den letzten Monaten starke islamistische Strömungen breitgemacht haben, unterstützt von Golfstaaten wie Katar. Staaten, die Demokratie unter der eigenen Bevölkerung nur in Spurenelementen zulassen. Sie verfolgen offensichtlich ihre eigene Agenda: Mithilfe der Arabellion möchten sie ihre eigene Hegemonie ausbauen und die gesamte arabische Welt in den Hort eines erzkonservativen Sunnitentums verwandeln – als einheitlichen Block gegenüber dem schiitischen Iran.

    Die Partei für Gerechtigkeit und Aufbau bringen politische Analytiker mit den ägyptischen Muslimbrüdern und den tunesischen Islamisten der an-Nahda in Verbindung. Sie setzt sich, nach den Worten ihres Vorsitzendes Mohammed Swoane, für die Stärkung der islamischen Identität ein. Als Radikaler gilt der ehemalige islamistische Rebellenkommandeur Abdelhaqim Belhaj. Der Mitbegründer der al Watan-Partei hat schon in den 1980er-Jahren mit den Mudschaheddin in Afghanistan gekämpft und macht sich offen auch für Libyen für ein islamisches System stark.

    Belhaj soll, laut Beobachtern, Verbindungen zur Herrscherfamilie von Katar unterhalten. Dessen Emir, so heißt es, habe einen PR-Fachmann damit beauftragt, den alten Kämpen von seinem Gotteskrieger-Image wegzubringen und aus ihm einen klassischen Politiker zu formen.

    Den Erfolg Belhajs und anderer Islamisten zu verhindern sucht ein Bündnis von mehr als 60 politischen Parteien und über 100 Nichtregierungsorganisationen. Die Galionsfigur dieses Lagers ist der ehemalige Übergangspremier Mahmud Jibril.

    "Auch wir sind Muslime, wir stammen nicht von einem anderen Planeten. Aber wir haben das Ohr am Puls der Bevölkerung, wir sind selber eine Erscheinungsform innerhalb der Bevölkerung. Grenzen aufzubauen, zu sagen: Ihr seid die Liberalen, ihr seid die Muslime, ihr seid die Sozialdemokraten, dafür ist nicht die richtige Zeit. Wir brauchen Pragmatiker, die ein Programm anbieten, mit dem man dieses Land aufbauen kann","

    sagte Jibril dem Nachrichtensender Al-Jazeera English. Ähnlich wie in Ägypten und Tunesien leiden die säkularen Parteien darunter, dass ihre politisch-technokratische Agenda nicht so einfach zu vermitteln ist, wie alles, was sich mit dem Begriff Islam verbindet. Andererseits sind viele Libyer noch immer abgeschreckt von Gaddafis religiös-politischer Ideologie. Die säkular orientierte Anwältin Salwa Boughaigis, die im Übergangsrat die Stadt Bengasi vertritt, hält den Sieg religiös orientierter Kräfte für nicht unwahrscheinlich. Doch davor Angst haben, meint sie, müsse niemand:

    ""Hier steht die Mehrheit der Menschen religiös gesehen in der Mitte, wir sind stolz Muslime zu sein, aber das bedeutet nicht, dass sie irgendwelche Sympathien für Terrorismus hätten. Ich versichere Ihnen: Hier in Libyen können Sie die echten Extremisten an den Fingern einer Hand abzählen, sie sind ein verschwindender Teil innerhalb der Mehrheit. Deshalb fürchten wir uns vor der Zukunft nicht."