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Das Risiko der Doktorwürde

Annette Schavan ist als Bildungsministerin zurückgetreten. Mit ihr scheitert nun das zweite Kabinettsmitglied an der eigenen Doktorwürde. Lang stand die Kanzlerin ihrer Ministerin, die für Merkel über viele Jahre eine wichtige Ratgeberin und Weggefährtin war, in der Doktoraffäre loyal zur Seite.

Von Armin Himmelrath und Christiane Wirtz | 09.02.2013
    Das Bild ist ein knappes Jahr alt: Die Bundeskanzlerin steht neben ihrer Bundesbildungsministerin auf der Cebit in Hannover. Deutschland debattiert zu jener Zeit über die Doktorarbeit von Karl-Theodor zu Guttenberg. Angela Merkel bekommt eine SMS, zeigt sie ihrer Vertrauten Annette Schavan. Beide lächeln leise. Es gibt nur wenige Menschen, die einen so direkten Zugang zur Kanzlerin haben und doch hat diese vertrauensvolle Zusammenarbeit heute ihr Ende gefunden.

    "Sehr schweren Herzens nur habe ich den Rücktritt angenommen, weil mit Annette Schavan eine der anerkanntesten und profilierteste Bildungs- und Forschungsministerin, im Grunde die anerkannteste und profilierteste Bildungs- und Forschungsministerin die Bundesregierung verlassen wird."

    ""Ich danke zunächst der Bundeskanzlerin, ich danke Dir, liebe Angela für deine Worte und deine Würdigung heute. Und für Vertrauen und Freundschaft über viele Jahre. Freundschaft hängt nicht an Amtszeiten und wirkt über diesen Tag hinaus."

    Für Angela Merkel, die protestantische Politikerin aus dem Osten Deutschlands, war Annette Schavan, die geprägt ist von der Tradition des rheinischen Katholizismus, über viele Jahre eine wichtige Ratgeberin und Weggefährtin. Lange stand die Kanzlerin ihrer Ministerin in der Doktoraffäre loyal zur Seite, sprach ihr noch Mitte vergangener Woche "ihr vollstes Vertrauen" aus. Doch nachdem die Universität Düsseldorf am Dienstagabend entschied, Annette Schavan die Doktorwürde zu nehmen, war es nur noch eine Frage der Zeit, wann die Loyalität der Ministerin über ihren Kampfesgeist siegen würde.

    "Zugleich hatte ich, nicht zuletzt in den Tagen der Delegationsreise in Südafrika Gelegenheit, gründlich über politische Konsequenzen nachzudenken. Wenn eine Forschungsministerin gegen eine Universität klagt, dann ist das mit Belastungen verbunden - für mein Amt, für das Ministerium, die Bundesregierung und auch die CDU. Und genau das möchte ich vermeiden, das Amt darf nicht beschädigt werden."

    Als Annette Schavan vor 33 Jahren ihre Doktorarbeit schrieb, arbeitete sie noch mit Karteikarten und Schreibmaschine. Im Zeitalter des Internets – so jedenfalls legt es die Entscheidung der Universität Düsseldorf nahe – kann ihre Doktorarbeit nicht bestehen. Heute verstauben Plagiate nicht mehr in den Unibibliotheken, sondern werden mithilfe des Internets in Minutenschnelle aufgespürt. Diese Dynamik musste schon Karl-Theodor zu Guttenberg vor zwei Jahren schmerzlich erleben. Auch damals stellte die Kanzlerin sich zunächst hinter ihren Minister, konnte ihn am Ende aber nicht halten.

    "Ich habe keinen wissenschaftlichen Assistenten oder einen Promovierenden oder einen Inhaber einer Doktorarbeit berufen, sondern mir geht es um die Arbeit als Bundesverteidigungsminister und die erfüllt er hervorragend und das ist, was für mich zählt."

    Dieses Mal traf es ausgerechnet die Bundesbildungsministerin. Mit ihr scheitert nun bereits das zweite Kabinettsmitglied an der eigenen Doktorwürde. Dabei hatten Beobachter aus Politik und Wissenschaft Annette Schavan in den vergangenen Wochen immer zugutegehalten, ihre Fehler in der Doktorarbeit seien mit den großflächigen Plagiaten in Guttenbergs Dissertation überhaupt nicht zu vergleichen. Doch bei der Entscheidung über die Rücknahme des Titels durch die Universität Düsseldorf kam es auf den Umfang letztlich nicht an – sondern nur auf die Frage, ob Schavans Buch mit dem Titel "Person und Gewissen" noch als eigenständige wissenschaftliche Leistung durchgehen kann oder nicht. Dabei trage auch das deutsche Promotionssystem an den aktuellen Fällen eine Mitschuld, sagt Martin Gertler. Er ist Professor an der Rheinischen Fachhochschule Köln, arbeitet darüber hinaus aber auch als Gastprofessor an der Humanistischen Universität im niederländischen Utrecht – und betreut dort Doktoranden. Fragwürdigen Forschungsarbeiten mit möglichen Plagiaten hätten dort so gut wie keine Chance, sagt Gertler.

    "Also, der Drang zu karrierefördernden Promotionen scheint in den Niederlanden, das ist so mein Eindruck, doch geringer zu sein als in Deutschland. Denn es gibt dort keine Notenstufen bei der Bewertung von Dissertationen. Man geht dort nicht mit einem cum laude, einem maxima cum laude oder einem summa cum laude hinaus, sondern bekommt im Grunde nur die Bestätigung: Ja, Du kannst forschen – oder man bekommt sie eben halt nicht."

    Martin Gertler hat seine eigene Doktorarbeit ebenfalls in den Niederlanden geschrieben.

    "Eine spannende Herausforderung natürlich für mich – und dann auch zu erleben, dass gar nicht die beiden Betreuer – man musste schon einen inhaltlichen und einen mehr methodischen Betreuer haben bei solchen Vorhaben – dass gar nicht die beiden Betreuer so sehr entscheidend sind, sondern eine Manuskriptkommission am Ende beschlossen hat, ob denn die Arbeit nun zur Promotion berechtigt, eine Prüfschrift sei, wie das dort heißt."

    Die Trennung von Betreuung und Bewertung einer Doktorarbeit, sagt Martin Gertler, trage massiv zur Qualitätssicherung bei und verhindere, dass die betreuenden Professoren betriebsblind werden – anders als in Deutschland, wo Doktorvater oder Doktormutter nach Jahren der Zusammenarbeit auch das Erstgutachten verfassen. Eine Konstellation, wie sie in den Niederlanden undenkbar ist: Hier endet die Aufgabe der Betreuer mit der Abgabe der Arbeit.

    "Ab dann haben die Betreuer aber nur noch eine beratende Funktion. Also: Wir Betreuer entscheiden gar nicht mit, wir sind nicht Doktorvater, wie wir das vielleicht aus Deutschland kennen."

    Und noch eine weitere Besonderheit unterscheidet das niederländische System der Promotion von dem an deutschen Universitäten:

    "In den Niederlanden sieht man die Dinge etwas anders. Man verleiht keine Note zu einer Promotion, sondern entweder man hat den Level – oder man hat ihn nicht. In Ausnahmefällen kann die Kommission beschließen, das sei nun so herausragend, dass ein cum laude vergeben würde. Das ist also eine besondere Auszeichnung. Dann muss aber auch wieder eine ergänzende Überprüfung durch externe Professoren stattfinden, die nicht Mitglieder der Manuskriptkommission sind."

    Keine Benotung der Doktorarbeit und eine strikte Trennung zwischen Betreuung und Bewertung einer Dissertation – diese Ideen gab und gibt es auch für das deutsche Wissenschaftssystem. Doch alle entsprechenden Vorstöße verliefen bisher im Sande. So hatte zuletzt der Wissenschaftsrat Ende 2011 eine Empfehlung zur Qualitätssicherung bei Doktorarbeiten verabschiedet. Darin heißt es unter anderem:

    "Konkret spricht sich das Beratungsgremium dafür aus, Doktorandinnen und Doktoranden einen einheitlichen Status zu geben und zusätzlich zu den Betreuerinnen und Betreuern durch ein fachnahes Promotionskomitee zu begleiten. Zudem regt der Wissenschaftsrat an, flächendeckend Betreuungsvereinbarungen einzuführen und externe Doktorandinnen und Doktoranden besser in Arbeitsgruppen und Forschungskontexte zu integrieren."

    Die Idee dahinter: Wer nicht allein im stillen Kämmerlein vor sich hinforscht, sondern im ständigen Austausch mit anderen Doktoranden und Forschern arbeitet, dem unterlaufen auch weniger Fehler, etwa bei der Übernahme von fremden Ideen und Gedanken. An der Humanistischen Universität Utrecht, sagt der dortige Gastprofessor Martin Gertler, gebe es dazu klare Vereinbarungen mit den Doktoranden.

    "Ungefähr vier Mal im Jahr trifft man sich zu Arbeitswochen in Utrecht und dort stehen dann Peer-Learning der Doktoranden auf dem Programm; dann der Austausch mit den bestehenden Forschungsclustern der Universität und natürlich auch die Betreuung mit den Betreuungszeiten, die man mit seinen Promotoren, wie das dort heißt, verabredet hat. Grundsätzlich stehen den Kandidatinnen und Kandidaten an dieser Graduate School 40 Betreuungsstunden pro Jahr zu. Und insofern kann man sich vorstellen, dass da eine doch sehr intensive Begleitung stattfindet."

    An deutschen Universitäten ist eine solche Betreuungsintensität für Nachwuchswissenschaftler die große Ausnahme – noch. Und auch die Benotung von Promotionen – die große Mehrzahl wird bisher mit Auszeichnung verliehen – sieht der Wissenschaftsrat in seinem Gutachten kritisch.

    "Kritisch mahnt der Wissenschaftsrat die Unabhängigkeit von Begutachtung von Dissertationen an. Zudem fordert er, gerade bei so genannten publikationsbasierten Promotionen Standards zu bilden. Aus der zu geringen Ausschöpfung der vorhandenen Notenskala folgert der Rat, dass die Beschränkung auf die Notenstufen 'Bestanden' und 'Mit Auszeichnung' konsequent sei."

    Wenn Doktoranden jedoch – wie seinerzeit die junge Annette Schavan – bei ihrer Arbeit weitgehend sich selbst überlassen bleiben, ist es kaum verwunderlich, wenn dabei selbst massive Fehlleistungen nicht entdeckt werden und der Doktortitel trotzdem verliehen wird. Die zurückgetretene Ministerin jedenfalls will den Entzug ihres Titels durch die Uni Düsseldorf nicht akzeptieren.

    "Ich werde diese Entscheidung nicht akzeptieren und dagegen klagen. Ich habe in meiner Dissertation weder abgeschrieben noch getäuscht. Die Vorwürfe, das habe ich in den vergangenen Wochen und Monaten mehrfach gesagt, treffen mich tief."

    Fachleute bezweifeln jedoch, dass die angekündigte Klage Erfolg haben wird. Christian Birnbaum ist Rechtsanwalt und spezialisiert auf Hochschulrecht. Er vertritt unter anderem die FDP-Politikerin Silvana Koch-Mehrin bei ihrer Klage gegen die Uni Heidelberg. Auch in diesem Fall geht es um den Entzug eines Doktortitels. Entscheidens sei, sagt Christian Birnbaum, dass die Universitäten bei der Bewertung von Doktorarbeiten, aber auch von Plagiatsvorwürfen einen Ermessensspielraum haben. Und der Anschein spreche im Fall Schavan gegen die CDU-Politikerin. Dafür müssten die Verwaltungsrichter nicht noch einmal die über 300 Seiten starke Arbeit lesen und bewerten, sondern könnten sich auf andere Quellen stützen.

    "Die wichtige Frage, die hier steht: Liegt ne Täuschung vor? Klar. Ich weiß nicht, ob man dafür die Arbeit gelesen haben muss. Ich persönlich bin der Auffassung, dass es genügt, das zu lesen, was man im Internet so lesen kann. Natürlich vielleicht mal zu schauen, ob’s auch wirklich aus der Arbeit entstammt, aber davon ist ja wohl auszugehen. Und dann würde in einem Urteil wahrscheinlich exemplarisch auf zehn oder 15 Stellen eingegangen, wo diese Übereinstimmungen vorliegen, und dann damit begründet: Deshalb ist hier systematisch getäuscht worden."

    Den Hinweis auf eine angebliche andere Zitierkultur vor 33 Jahren sieht Christian Birnbaum als Argument der Schavan-Unterstützer, das vor Gericht wohl keine Rolle spielen werde.

    "Auch 1980 war eine Täuschung eine Täuschung."

    Grundsätzlich, so der Jurist, müsse zunächst einmal die Universität beweisen, dass ihre Entscheidung – nämlich die Aberkennung des Doktortitels – richtig gewesen sei. Das aber sei anhand der bekannt gewordenen Textstellen wohl kein Problem.

    "Dann ist es so, dass durch die Vielzahl von textlichen Übereinstimmungen ein sogenannter Anscheinsbeweis geführt wird. Dieser Anscheinsbeweis indiziert ja wohl: Es liegt eine leitende Täuschungsabsicht vor. Es wurde getäuscht. Das führt zu einer Umkehr der Beweislast, und dann muss der Betroffene eben sagen, warum das nicht eine Täuschung war."

    Eine schwierige Aufgabe für Annette Schavan. Und sie wird auch nicht leichter durch die Tatsache, dass Verwaltungsgerichte so gut wie nie inhaltliche Ermessensentscheidungen von Universitäten und anderen Einrichtungen beanstanden, so Christian Birnbaum.

    "Das passiert selten. Ermessen heißt nicht, dass die Uni frei ist – sie muss schon die gesetzlichen Grenzen des Ermessens beachten. Und dazugehört eben auch die Angemessenheit des Bescheides. Und da kann man ja durchaus drüber diskutieren, ob das nach 30 Jahren oder über 30 Jahren noch angemessen ist, diese Konsequenz zu ergreifen. Gab’s vielleicht mildere Mittel? Wissenschaftliche Rüge, Herabsetzung der Bewertung – solche Geschichten. Ich bin auch sicher, dass dies alles in dem Fakultätsrat besprochen wurde und auch in dem Protokoll auftauchen wird. Wenn das nicht in dem Protokoll auftaucht, dann ist das ein Grund, mal nachzufragen."

    Den Rücktritt Schavans findet der Rechtsanwalt konsequent – auch aus politisch-strategischer Sicht. Denn das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht hätte auf jeden Fall den gesamten Bundestagswahlkampf der Ministerin belastet, ist Christian Birnbaum sicher.

    "Verwaltungsgerichtliche Verfahren dauern länger als andere Verfahren, und sie stehen in dem Ruf – meines Erachtens zu Recht in dem Ruf – besonders gründlich und sorgsam geführt zu werden. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf ist relativ schnell. Auch die Kammer, die über dieses Verfahren zu entscheiden haben wird, ist relativ schnell. Ich würde mal sagen: zwischen einem halben und einem dreiviertel Jahr, bis ein Urteil vorliegt. Dann kann noch die Berufungszulassung beantragt werden – das kann noch mal ein Jahr dauern."

    Und die Erfolgsaussichten, dass Annette Schavan recht bekommt bei ihrer Klage gegen die Universität Düsseldorf? Christian Birnbaum ist skeptisch.

    "Ich glaube nicht, von der Tendenz her, dass das Verwaltungsgericht hier der Universität einen Strich durch die Rechnung machen wird."

    Die Perspektiven sind also nicht gut für Annette Schavan, wenn man diesen Voraussagen glaubt. Und auch bei der Bewertung ihrer siebenjährigen Amtszeit als Bundesministerin für Bildung und Forschung fällt der Blick nicht nur auf Glanzpunkte. Über Jahre hinweg war Schavan die Ministerin mit den schlechtesten Bekanntheitswerten in der Bundesregierung. Sogar an Universitäten und Fachhochschulen konnten viele mit ihrem Namen kaum etwas anfangen. Und das, obwohl sie den Forschungshaushalt in ihrer Amtszeit kontinuierlich ausgebaut hat. Während die meisten anderen Minister sparen mussten, schaffte es Annette Schavan immer wieder, bei den Finanzverhandlungen Erfolg zu haben. So stieg der Etat ihres Ministeriums im laufenden Jahr auf 13,7 Milliarden Euro – ein sattes Plus von über sechs Prozent gegenüber dem letzten Jahr. In einem Deutsche-Welle-Interview erklärte Annette Schavan:

    "Diese Bundesregierung investiert so viel in Wissenschaft und Forschung wie keine zuvor. Insofern darf ich nicht unzufrieden sein. Aber klar ist auch – wir sagen das ja auch immer, nicht nur in Deutschland, auch in Europa: Wissenschaft und Forschung sind die Quellen künftigen Wohlstands. Wir wollen drei Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Wissenschaft und Forschung investieren. (...) Wir sind auf einem sehr guten Weg. Wir stehen zu diesem Drei-Prozent-Ziel. Und wir erreichen damit auch, dass Deutschland attraktiv ist für Forscherinnen und Forscher."

    Wegen dieser Erfolge gilt Annette Schavan in weiten Teilen der Wissenschaftsgemeinde als kompetent und politisch durchaus erfolgreich. Die Verlängerung der Exzellenzinitiative und der Ausbau mehrerer Forschungsschwerpunkte sind mit ihrem Namen verbunden. Erich Thies, langjähriger Generalsekretär der Kultusministerkonferenz, lobt die zurückgetretene Ministerin dafür, ...

    "... dass es Frau Schavan, aus meiner Sicht jedenfalls, gelungen ist, in dieser schwierigen wirtschaftlichen Situation durch ihr Auftreten eine Verbindung herzustellen zwischen Wirtschaftssituation und dem Erfordernis, in Bildung zu investieren. Nach PISA und jetzt in dieser Wirtschaftssituation war Frau Schavan aus meiner Sicht diejenige, die mit einem hohen Maß an Intensität auf Investitionen im Bildungsbereich gedrungen hat und dieses halt auch durchgesetzt hat im Kabinett."

    Deutlich negativer fällt dagegen die Bilanz der siebenjährigen Amtszeit aus studentischer Sicht aus. So habe Annette Schavan bei vielen bildungspolitischen Fragen rund um die Hochschulen eine schlechte Figur gemacht, sagt der Kölner Studentenvertreter Patrick Schnepper.

    "Ihre Bilanz in den letzten Jahren ist doch sehr ernüchternd: Sie hat es nicht geschafft, ein vernünftiges System für den Hochschulzugang zu implementieren. Zurzeit ist es so, dass sich die Studierenden einfach an allen möglichen Hochschulen bewerben müssen, um irgendwie die Chance zu haben, irgendwie einen Studienplatz zu bekommen. Hinzu kommt, dass wir zurzeit einen Hyperandrang von Studierenden an die Hochschule haben durch die doppelten Abiturjahrgänge. Die Prognosen sagen heute, dass immer noch viel zu viele Studienplätze fehlen, und auch da hat sie nicht wirklich eine gute Bilanz vorzuweisen."

    Und auch beim Bolognaprozess habe Schavan versagt, kritisiert Patrick Schnepper. Schavan selbst hatte den Bolognaprozess immer wieder als vorbildlich hingestellt und die Reformen an den Hochschulen verteidigt.

    "Der Bolognaprozess knüpft letztlich an eine große europäische Tradition an. Ich hab am Beispiel Erasmus von Rotterdam gesagt: Geboren in Rotterdam, Studien in Paris, Doktor-Degree in Turin, Lecturer in Cambridge, Forscher in Freiburg und der Ruhestand in Basel – das war ein Leben zwischen 1466 und 1536. Und letztlich muss so etwas im 21. Jahrhundert wieder möglich sein in Europa."

    Doch trotz solcher Bekenntnisse nahm Annette Schavan an den letzten Ministertreffen zum Thema schon nicht mehr teil, und eine für den letzten Herbst angesetzte deutsche Bolognakonferenz sagte sie ersatzlos ab. Dort sollte eigentlich über die Reformschwierigkeiten geredet werden – wie etwa fehlende Masterstudienplätze und den hohen Prüfungsdruck, unter dem die Studierenden stehen.

    "An den Hochschulen ist von den Forderungen, die damals gestellt wurden, bis heute noch nicht wirklich viel umgesetzt worden. Man fühlt sich ein bisschen so, als wenn man an einen großen Tisch eingeladen wird, damit man mal miteinander gesprochen hat, aber eigentlich gar nicht der Wille vorhanden ist, die Studiengänge zu reformieren und sich wirklich einer Lösung anzunehmen. Also, man hat das Gefühl: Es ist schön, dass man mal miteinander gesprochen hat – jetzt können alle wieder friedlich sein und wir lassen alles beim Alten."

    So bleibt eine zweigeteilte Bilanz: Forschungspolitisch steht Annette Schavan für sieben durchaus erfolgreiche Jahre. Insbesondere die Spitzenforschung verliert eine engagierte Fürsprecherin. Doch im Bereich der Bildungspolitik und der Hochschulen hat Annette Schavan oft genug, wie es der "Spiegel" in einem Artikel formuliert, "Politik unterhalb der Wahrnehmungsschwelle" gemacht und damit auch etliche Baustellen hinterlassen. Ihre Nachfolgerin Johanna Wanka hat also einiges zu tun – und es kann jetzt schon als sicher gelten, dass sie nicht alle liegen gebliebenen Aufgaben in den verbleibenden Monaten bis zur Bundestagswahl wird erledigen können. Johanna Wanka allerdings ficht das nicht an: Die Mathematikprofessorin und langjährige Wissenschaftsministerin in Brandenburg und Niedersachsen hat bereits durchblicken lassen, dass sie sich auch für die Zeit nach der Bundestagswahl vorstellen kann, in Berlin als Ministerin zu agieren.