Ein Blick durch den Sucher, ein Druck auf den Auslöser. Der Moment danach wird unveränderlich auf ein Stückchen Filmnegativ gebannt, 24 mal 36 Millimeter Wahrheit zum Anfassen. Der analogen Fotografie und ihren Bildern konnte man deswegen noch glauben - die Digitalfotografie heute hingegen sei eine lügnerische Praxis, kritisierte der renommierte Kriegsfotograf Don McCullin jüngst. Er würde die Fotografie am liebsten in die analoge Zeit zurückspulen. Das umstrittene Weltpressefoto 2012 von Paul Hansen zeigt, wie zwei tote Jungen von einer Gruppe Männern durch eine Gasse getragen werden. Der Moment ist echt.
Die Wut auf den Gesichtern, die Trauer, der Tod der beiden Jungen - all das ist ohne Zweifel echt. Aber die Details im Bild sind eine Spur zu kristallklar, das Licht auf den Gesichtern zu perfekt gesetzt. Hansen hat das Bild mit vielen Mausklicks digital bearbeitet und durfte den renommierten Foto-Preis trotz heftiger Kritik behalten. Immer dann, wenn Zweifel an der Echtheit eines Fotos bestehen, dann kommen die sogenannten Raw-Dateien ins Spiel.
"Professionelle Fotografinnen und Fotografen fotografieren in RAW. Das ist eine Art digitales Negativ. Das ist ein unkomprimiertes, unbearbeitetes Foto. Das ist das, was die Kamera, was der Sensor roh aufnimmt," erklärt der Fotojournalist Martin Gommel, Gründer des Fotografiemagazins "kwerfeldein.de". Diese Rohdateien werden dann mit der bearbeiteten Version verglichen. So kann nachverfolgt werden, wie stark ein Fotograf sein Bild bearbeitet hat. Das Dateiformat ist ein Segen für die Glaubwürdigkeitsdebatte. Aber auch ein Fluch. Denn ein Raw-Foto lässt dem Fotografen enorme Spielräume bei der Bildbearbeitung.
"Dieses Bild lässt zu, dass es optimiert wird. Dass der Weißabgleich gesetzt wird, dass die Kontraste verändert werden. Und das kann man so stark bearbeiten, dass es hinterher theoretisch ein komplett anderes Bild ist, als es die Kamera aufgenommen hat."
Auch Reuters hat reagiert
An genau diesen Möglichkeiten und Verlockungen des digitalen Negativs zweifelt mittlerweile auch die weltweite größte Nachrichtenagentur Reuters. Sie nimmt von ihren Fotografen keine Bilder mehr an, die im Rohdatenformat geschossen wurden. Die Begründung:
"Fotografien von Reuters müssen die Realität widerspiegeln, sie sind Augenzeugenberichte von verantwortungsvollen Journalisten. Auch wenn wir höchste Ansprüche an die Ästhetik der Fotografie haben: Es ist nicht unser Ziel, die Nachrichten künstlerisch zu interpretieren."
Auch die Organisatoren des World Press Photo Award haben Konsequenzen gezogen. Sie hatte vergangenes Jahr jedes fünfte Bild in der Finalrunde disqualifiziert, weil sie umfangreiche Manipulationen festgestellt hatten. Darum werden in diesem Jahr die Fotografen in die Pflicht genommen:
"Wir wollen, dass das Publikum der Echtheit der Bilder, die Preise gewinnen und in unserer Ausstellung gezeigt werden, vertrauen kann. Deswegen hat der Wettbewerb zum ersten Mal einen Ethik-Code, der unsere Erwartungen an die teilnehmenden Fotografen absteckt."
Der Kodex betont, dass die Fotografen keine Veränderungen am Inhalt ihrer Bilder vornehmen. Während der Wettbewerb die Verantwortung also auf die Fotografen schieben, sieht der Fotojournalist Martin Gommel das Problem an ganz anderer Stelle. Entscheidend sind für ihn nicht die digitalen Bearbeitungsmöglichkeiten, sondern der Druck der Redaktionen auf die Fotografen: Sie müssten spektakuläre Bilder liefern, die Auflage- und Klickzahlen bringen:
"Dadurch entsteht dieser Wettlauf. Dass dann die Bilder bearbeitet werden, um der Anforderung gerecht zu werden, ist eine logische Schlussfolgerung. Aber ich finde, die Diskussion ist völlig auf der falschen Ebene geführt. Nämlich die Frage ist: Welche Fotos wollen wir sehen und was ist für die Gesellschaft denn relevant?"
Die Debatte um die Glaubwürdigkeit von Bildern begleitet die Fotografie seit jeher. Schon in den analogen Dunkelkammern wurden Fotos optimiert, retuschiert und manipuliert. Heute gibt es weniger festangestellte und immer mehr freie Fotojournalisten. Ihnen verspricht das imposanteste, das optisch spektakulärste Bild, am ehesten bezahlt zu werden. Der Wettlauf um das spektakulärste Bild, er ist so alt wie der Fotojournalismus selbst.