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Der Soul vom Land

Vor 50 Jahren wurden in großen US-Städten wie Detroit und Memphis faszinierend neue Klänge produziert. Doch auch in der Provinz gab es einflussreiche Protagonisten des Soul. Der Dokumentarfilm "Muscle Shoals” zeigt Studios und Musiker einer kleinen Stadt in Alabama.

Von Jürgen Kalwa | 12.10.2013
    Es ist nicht ganz einfach zu erklären, wie bisweilen an einem scheinbar unbedeutenden Ort in einem abgelegenen Teil der Welt Musik entsteht, die es nicht nur in die Hitparaden schafft. Sondern die eine magische Anziehungskraft auf andere Musiker ausübt.

    Zeitgeist? Ja, sicher. Eine besondere kreative Energie und ganz viel Talent?. Aber es braucht noch etwas mehr.

    Wilson Pickett:
    ""One, two, three, one, two three”"

    Percy Sledge:
    ""When a man loves a woman, he can't keep his mind on nothing else”"

    Aretha Franklin:
    ""You're a no good heart breaker, you're a liar and you're a cheat”"

    Wilson Pickett, Percy Sledge, Aretha Franklin - sie haben all ein paar Dinge gemeinsam. Hautfarbe. Stimmvolumen. Aber auch das: Ihre ersten Erfolgssongs wurden im selben Studio aufgenommen. In einer kleinen Stadt namens Muscle Shoals im Nordwesten von Alabama. Allesamt eingespielt von einer Gruppe von jungen Studiomusikern aus der Gegend, die damals noch nichts von der Welt gesehen hatten. Percy Sledge muss noch heute grinsen:

    ""A lot of people could not believe that my whole band was white guys that played behind me.”"

    Die Musiker waren weiß. Und Autodidakten obendrein. Aber sie lieferten das, was Jerry Wexler, der einflussreiche Chef von Atlantic Records wollte, der einst den Begriff Rhythm and Blues erfunden hatte und seine schwarzen Sänger nach Muscle Shoals schickte:

    ""'Resonanz’. Das ist, was beim Hören den entscheidenden Effekt auslöst. Die magische Zutat einer Schallplatte.”"

    Resonanz hatte in den sechziger Jahren vieles. Besonders im Süden der USA, dem "deep south”, dem letzten Bollwerk der Rassentrennung. Und so flossen am Oberlauf des Tennessee, in Muscle Shoals im Studio von Rick Hall, viele kulturelle Strömungen und wirtschaftliche Ambitionen zusammen.

    Wie es dazu kam und was das für die Geschichte der Pop-Musik bedeutete – das erzählt nun zum ersten Mal ein Dokumentarfilm. Mit Hilfe von vielen berühmten – und nicht so berühmten – Zeitzeugen. "Muscle Shoals” heißt er und erhielt vom Fachmagazin "Rolling Stone” das Prädikat "unbedingt ansehen”.

    Norbert Putnam, der in der ersten Rhythmusgruppe in Muscle Shoals Bassgitarre spielte.

    ""Rick war damals 28 oder 29 und machte Platten mit Teenagern, Weltklasseplatten, die Hits wurden.”"

    Hall hatte einen einfachen Plan, wie er neulich dem New Yorker Radiosender WNYC erzählte:

    ""Ich wollte Geld verdienen und etwas Besonderes sein. Ich habe mit sechs angefangen, Musik zu machen und alle möglichen Auszeichnungen erhalten. Im Laufe der Zeit wurde ich selbstbewusster und wohl auch ein bisschen arrogant, egozentrisch und kämpferisch.”"

    Das produzierte Streit. Mit Jerry Wexler. Und mit den Musikern, die er entdeckt hatte. Die machten sich selbstständig und richteten in Muscle Shoals ihr eigenes Studio ein. Die Konkurrenz allerdings belebte das Geschäft erst richtig und brachte in den späten sechziger und in den siebziger Jahren eine lange Liste von namhaften Bands und Sängern nach Alabama. Zu ihnen gehörten so unterschiedliche Typen wie Steve Winwood, der mit der Band Traffic kam, aber auch Jimmy Cliff aus Jamaika. Bob Dylan und Paul Simon nahmen Platten in Muscle Shoals auf. Rod Stewart und die Osmond Brothers, Bob Seeger. Und Lynyrd Skynyrd, die in dem Song "Sweet Home Alabama” in vier Zeilen den Ort verewigten.

    ""Now Muscle Shoals has got the Swampers;
    And they've been known to pick a song or two."

    Die kurioseste Geschichte lieferten allerdings die Rolling Stones, die 1964, als sie noch kein eigenes Material hatten, das Lied "You Better Move On” von Arthur Alexander aufnahmen, dem einstigen Gepäckträger eines Hotels in Muscle Shoals, und der erste Hit aus dem Studio von Rick Hall.

    ""Thank you very much, we gonna drive a slow one and it’s called "You Better Move on”."

    Die Stones machten 1969 während ihrer großen Amerikatournee Station in Alabama und nahmen Songs auf wie "White Horses” und "Brown Sugar”. Keith Richards:

    "Es war einer der einfachsten und rockigsten Sessions. Wir waren selten so produktiv. Drei, vier Songs in zwei Tagen.”

    "We left on a high with "Brown Sugar”. We knew we had one of the best things we’d ever done.”"

    "Brown Sugar”, sagt Keith Richards, gehört zum Besten, was die Stones je produziert haben.

    Der Film "Muscle Shoals” ist übrigens ein Erststück. Regisseur Greg Camalier war früher Immobilienmakler in Colorado. Den Mangel an Erfahrung spürt man. Besonders im Auftritt von Bono von U2, der in seiner langen Karriere keinen einzigen Ton in Muscle Shoals aufgenommen hat. Der gibt unwidersprochen eine unausgegorene Blut- und Boden-Theorie über das Entstehen von Musik zum Besten.

    Auf der anderen Seite versäumte Camalier es, Interviewpartner Stevie Winwood zu fragen, was ihn eigentlich einst als 17-Jährigen dazu gebracht hatte, mit der Spencer Davis Group eine Cover-Version von "When a Man Loves a Woman” aufzunehmen. Doch von solchen Kleinigkeiten abgesehen, zeigt die Dokumentation vor allem eines – und das mit sehr viel Seele: Wie bemerkenswert das Panorama der Musik aus dem Kraftfeld Muscle Shoals ist. Und wie kurios es ist, dass bislang so gut wie niemand der damals Beteiligten in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen wurde.