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Der Umgang mit der Gegenwart Haitis

In Haiti haben die Worte der Schriftsteller ein besonderes Gewicht. Sie dienen der Selbstbehauptung gegenüber Diktatur und Zensur, beflügeln Träume und Vorstellungswelt. Und auch Emmelie Prophète und Kettly Mars arbeiten mit großer Kreativität.

Von Margrit Klingler-Clavijo | 12.12.2012
    Emmelie Prophète, 1971 in Port-au-Prince geboren, ist nach einem Jura- und Literaturstudium zuerst mit Lyrik hervorgetreten, ehe sie 2007 mit "Das Testament der Einsamen" ihren ersten Roman veröffentlichte, für den sie 2009 mit dem "Prix Litteraire de la Caraibe" ausgezeichnet wurde. Der handlungsarme Roman spielt auf dem Flughafen von Miami. Dort wartet die 30-jährige Ich-Erzählerin in einem Starbucks auf ihren Flug nach Port-au-Prince. Sie war zur Beerdigung ihrer Schwester in die USA gereist und wird nun beim einsamen Kaffeetrinken von Erinnerungen an ihre Familie heimgesucht, an ihre Kindheit und Jugend in einem gottverlassenen Nest am Meer, einer Art "blauen Provinz", an die sie sich wie folgt erinnert:

    In dieser blauen Wasserlandschaft waren das einzig Lebendige das knisternde Feuer unter der weißen Kaffeekanne und der wachsende, sich ausbreitende Friedhof, der alle Leute in diesen staubigen Straßen verfolgte, wo sich Zahnlose, Zerlumpte, junge Frauen, die schön hätten sein sollen, und Pastoren, denen die Götter ausgegangen sind, begegnen.

    Die Ich-Erzählerin träumte früh von einem anderen Leben, weit weg von der anspruchslosen Mutter und den beiden Schwestern, der Vater war in die USA ausgewandert. Im Starbucks erinnert sie sich bruchstückhaft an die Jahre in der Provinz, der sie den Rücken gekehrt hatte, um in der haitianischen Hauptstadt nach Alternativen zu suchen, wie viele Frauen ihrer Generation. Ihre kühnen Erwartungen wurden oft zu Albträumen der Entwurzelung und Entfremdung, zur frühen Erfahrung von Elend, Krankheit und Tod. Und genau der überschattet die verschlungenen Erinnerungen der Ich-Erzählerin; der Tod der Schwester, der der früh verstorbenen Freunde aus der Provinz und last, but not least der Anschlag auf das World Trade Center von New York am 11. September 2001, der gerade mal vier Wochen zurückliegt.

    Inmitten der hektischen Betriebsamkeit des Flughafens wird der Ich-Erzählerin bewusst, dass sie völlig auf sich zurückgeworfen ist, dass es weder in den USA noch in Haiti einen Ort gibt, an dem sie sich aufgehoben fühlen könnte. In der Provinz hatten sich die Frauen um die weiße Kaffeekanne gesellt und ein Minimum an sozialem Zusammenhalt geschaffen und den vermisst sie im Starbucks. Die Rückschau der Ich-Erzählerin beeindruckt wegen ihrer schonungslosen Offenheit, der präzisen Sprache und einer verstörenden Bildwelt.

    Emmelie Prophète ist heute Feuilletonchefin der Tagezeitung "Le Nouvelliste", nachdem sie sich zuvor als Leiterin der "Direction National du livre" für die Leseförderung eingesetzt hatte. In ihrem zweiten, 2010 erschienenen Roman "Le reste du temps" geht es um die Pressefreiheit, die Ermordung von Jean Dominique, des legendären Leiters von Radio Haiti. Ihr dritter, in diesem Sommer erschienener Roman "Impasse Dignité" spielt im vom Erdbeben zerstörten Port-au-Prince.

    Kettly Mars, 1958 in Port-au-Prince geboren, hat mit "Wilde Zeiten" einen international viel beachteten Roman vorgelegt, der 2011 mit dem Prinz-Claus-Preis ausgezeichnet wurde.

    "Ich habe diesen Roman zuerst für mich selbst geschrieben. Ich wurde ein Jahr nach der Machtübernahme von Francois Duvalier, von "Papa Doc", geboren. Ich war 13, als er in seinem Bett starb. Ich war Mitte 20, hatte ein sechs Monate altes Baby im Arm, als Jean-Claude Duvalier nach einem Staatsstreich das Land verließ. Der erste Teil meines Lebens hat sich unter dieser Diktatur abgespielt. Erst mit der Zeit wurde mir bewusst, dass ich kaum etwas über diese Geschichte wusste, dass ich die Mechanismen dieser Macht ignorierte, dass ich das Schweigen, das meine Kindheit geprägt hatte, nicht verstand. Ich wollte zuerst selbst verstehen, was da geschehen war und dann erst aus Pflicht zur Erinnerung für meine und die folgenden Generationen schreiben. Die weiß über diesen Abschnitt unserer Geschichte nichts, der jedoch viel von dem erklärt, was heute geschieht."

    Im Unterschied zu den klassischen Diktatorenromanen der lateinamerikanischen Literatur - Roa Bastos, Miguel Angel Asturias oder Mario Vargas Llosa – in deren Zentrum die Figur des Diktators steht, geht es hier um eine Frau, um die schöne Mulattin Nirva Leroy.

    "Nirva Leroy ist Mulattin. Das spielt in der haitianischen Kultur eine große Rolle. Die Vorurteile wegen der Hautfarbe zwischen den hell- und dunkelhäutigen Weißen ist ein Grund zur Ausgrenzung aus der Gesellschaft, der auf die Sklaverei zurückgeht. Anhand von Nirva möchte ich jedoch auch die Intimität einer Frau erkunden, die sich in einer tragischen Situation befindet und zwischen zwei Übeln entscheiden muss."

    In politisch weniger turbulenten Zeiten wäre Nirva Leroy wahrscheinlich eine gute Ehefrau und Mutter geblieben. Doch das ist ihr zu Beginn der 1960er-Jahre, in den Francois Duvalier seine totalitäre Macht konsolidiert, nicht vergönnt, da ihr Ehemann Daniel im berüchtigten Foltergefängnis Fort Dimanche gelandet ist.

    "Daniel ist ebenfalls Mulatte. Er stammt aus der intellektuellen Bourgeoisie wie Jacques Roumain, Jacques Stephen Alexis, die sich politisch betätigten. Daniel gehörte zu dieser Gruppe, die der Kommunistischen Partei nah stand und gegen die Diktatur aufbegehrte. Er kam ins Gefängnis, weil ihn ein Parteimitglied verraten hatte, weil er ein Doppelagent war. Im Roman ist er nicht körperlich präsent, sondern nur über seine Tagebucheintragungen, die seine Frau gefunden hat. Darin versucht er seine Einstellung zu erklären und die Umstände seines Verschwindens."

    Um Daniels Freilassung zu erwirken, lässt Nirva Leroy nichts unversucht und wird sogar bei dem Staatssekretär Raoul Vincent vorstellig. Er gehört zum inneren Machtzirkel des Duvalier-Regimes und begehrt die attraktive Mulattin.

    "Er ist ein Zyniker, der seinen sexuellen Regungen folgt und sich an dieser Frau für seine niedrigere soziale Stellung rächt, da er nun zum allerersten Mal in seinem Leben Macht gegenüber einer Mulattin hat."

    Soviel zur Personenkonstellation und den Konfliktlinien des Romans. Wie bereits in früheren Romanen und dem auch auf Deutsch vorliegenden "Fado", hat Kettly Mars auch hier ambivalente und komplexe Romanfiguren geschaffen. Sie sind Versuchungen und Verwerfungen ausgesetzt und sind weder reine Lichtgestalten noch ausgekochte Schurken. Das gilt sogar für den Staatssekretär Raoul Vicent.

    "Er ist ein Hellenist, der die Kultur liebt, ein Akademiker, ein gebildeter Mann. Das passt nicht so recht zu der Vorstellung, die wir uns von den Schergen der Duvalier Diktatur machen. Und genau das macht die Ambivalenz dieser Romanfigur aus. Vieles bleibt in der Schwebe, ist weder ganz schwarz noch ganz weiß."

    Kettly Mars hat mit "Wilde Zeiten" beklemmende Innenansichten der Duvalier-Diktatur geschaffen, die man mit stockendem Atem liest. Gespannt darf man schon jetzt auf ihren in diesem Sommer erschienenen Roman "Aux Frontieres de la Soif" sein, der in Port-au-Prince spielt, im größten Zeltlager für die Erdbebenopfer.

    Buchinfos:
    • Kettly Mars: "Wilde Zeiten", aus dem Französischen von Ingeborg Schmutte, Litradukt/Kehl, 13,80 Euro
    • Emmelie Prophète: "Das Testament der Einsamen", aus dem Französischen von Antje Tennstedt, Litradukt/Kehl, 9,90 Euro