Samstag, 20. April 2024

Archiv


Der Weg eines jungen Mannes

In seinem neuen Roman erzählt Mathias Énard von der Langeweile und dem Fernweh heranwachsender Jungen. Sein Held dürstet nach Bildung und emanzipiert sich von seiner Herkunft. Ein klassischer Entwicklungsroman - verbunden mit einer zarten Liebesgeschichte.

Von Sigrid Brinkmann | 05.09.2013
    Auf Katalanisch heißt die "Straße der Diebe" "carrer d‘en robador". Es gibt sie tat-sächlich, mitten in Barcelona, im Raval-Viertel. Nutten, Drogensüchtige, Trinker und Einwanderer aus China, Pakistan und Nordafrika verbringen ihre Tage in der "nach abgestandenem Bier, Tajine und Samosas stinkenden Gasse". In einer ärmlichen Behausung der "Straße der Diebe" kulminiert die Handlung des Romans, der sich streckenweise wie eine gute Sozialreportage liest – zumal der Autor die Handlung geschickt mit Geschehnissen verknüpft, die sich tatsächlich ereignet haben.

    Die Geschichte beginnt in Tanger. Énard erzählt von der Langeweile und dem Fernweh heranwachsender Jungen. Sein Held Lakhdar wird bei erotischen Spielen mit der Cousine erwischt und dafür bestraft. Er läuft von zuhause weg, vagabundiert ein Jahr durch Marokko und stößt, zurück in Tanger, zu einem Kreis frommer Muslime, für die er den Koran auf Märkten und vor Moscheen unter die Leute bringt. Die ideologischen Absichten der Gruppe wie auch ihre Gewaltbereitschaft verkennt er zunächst. Gespräche mit einer jungen Spanierin, die in Barcelona Arabisch studiert und den Maghreb erkundet, wecken sein politisches und ästhetisches Bewusstsein.

    "Wir leben in einer postkolonialen Zeit. Auf Arabisch oder Französisch geschriebene Literatur muss in Europa veröffentlicht und rezipiert werden, um auch dort Anerkennung zu finden, wo sie entstanden ist. Judit bringt Lakdar Mohamed Choukris Roman "Das nackte Brot" näher. Choukri, der sich im Gefängnis lesen und schreiben beibrachte, kennt heute jeder in Marokko, aber von einer breiten Schicht werden seine Bücher trotzdem nicht gelesen. Marokkanische Literatur zählt bei der jungen Generation nicht viel. Sie gilt als altmodisch."

    Mathias Énard hat einen klassischen Entwicklungsroman geschrieben und eine zarte Liebesgeschichte eingewoben. Sein Held dürstet nach Bildung und emanzipiert sich von seiner Herkunft. Unter Gleichaltrigen fühlt er sich fremd.

    Sobald sie einige Dirham zusammenhatten, mussten ein neuer Jogginganzug, Turnschuhe, Shit her; sie malten sich ein schönes Leben aus, dessen Höhepunkt der Kauf eines Doppelbettes bei einem Möbelhändler um die Ecke und der eines Wagens beim Nissan- oder Toyota-Händler war. (…) Sie waren aalglatt, aus-tauschbar und laut.

    In Énards Fiktion interessiert sich die Bevölkerung in Tanger kaum für die politi-schen Umwälzungen in Tunesien und Ägypten, im Jemen und Libyen. Énard will die Zeitgeschichte aber nicht ausblenden und rekurriert deshalb auf Gewaltausbrüche zwischen säkularen und streng religiösen Gruppen. In Kneipen lässt er diese kommentieren.

    Der Arabische Frühling ist für den Arsch, eingezwängt zwischen Gott und Amboss, wird er mit Knüppelhieben enden.

    Und derweil verdichtet sich die Furcht vor Attentaten auch in Europa. Der Protago-nist hat als Kellner auf einem Fährschiff angeheuert, das zwischen Tanger und Algeciras pendelt. Er setzt sich heimlich ab und fristet zeitweilig eine Existenz als Leibeigener eines spanischen Geschäftsmannes.

    Énard setzt auf Demaskierung, nicht auf die bittere Anklage. Eher schemenhaft um-reißt er die Weise, wie Islamisten in Spanien Netzwerke aufbauen. Die Wiederbe-gegnung mit einem Freund aus Kindertagen, der in Barcelona offenbar auf Einsatz-befehle eines militanten Cheikhs wartet, wird zur Nagelprobe für das eigene Gewis-sen.

    "‘Straße der Diebe‘ beschreibt den Weg eines jungen Mannes, der schließlich zu handeln beginnt. Er begeht eine politische Tat. Und er ist bereit, die Verantwortung dafür zu übernehmen."

    Der Schluss des Romans gerät leider etwas pompös. Lakhdar hat den alten Freund getötet, um größere menschliche Verluste abzuwenden. Énard schreibt ihm eine pathetische Verteidigungsrede. Hinter Gitter muss sein Held trotzdem. Interessant an dem zielstrebig erzählten Roman ist - neben den lose eingestreuten Beob-achtungen zum Verhältnis zwischen nordafrikanischen Muslimen und Europäern – der Rückgriff auf die Reisen des legendären Ibn Battuta. Der Gelehrte wurde 1304 in Tanger geboren und zog dreißig Jahre lang durch Afrika und Asien. Jahrhundertlang waren seine Reiseberichte eine wertvolle Quelle für alle, die etwas über die Alltagsbräuche und Gesellschaftsordnungen im fernen Osten erfahren wollten.

    "Mit Ibn Battuta befinden wir uns an einem Schlüsselmoment in der Geschichte des Islam. Die Pax Mongolica ermöglichte es Reisenden, quer durch Europa nach Indien und China zu ziehen. Die verzauberte Welt des Mittelalters ist zu Ibn Battutas Zeiten noch ganz gegenwärtig. Geographisch gesehen erscheint uns die Welt, die er beschreibt, nah, und doch wirkt sie entrückt. Was er zum Beispiel über die Tauschpraktiken unter Fremden erzählt, klingt geradezu wundersam."

    Schiffe, Cafés und der Flughafen in Tanger sind nach dem Reisenden "Ibn Battuta" benannt worden. Für Mathias Énards Romanhelden endet die lebens- und wis-sensdurstige Suche in einem spanischen Gefängnis. Unaufdringlich ruft Mathias Énard Zeiten wach, in denen Berberstämme einst die Westgoten besiegten und Tarib Ibn Ziyad Spanien eroberte. Die iberische Halbinsel hat ein reiches maurisches Erbe. Heute erinnern nurmehr Arabisten daran - und Romanciers wie Mathias Énard.

    Mathias Énard: Straße der Diebe
    Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
    352 Seiten, 19,90 Euro
    Hanser Berlin, Berlin 2013