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Destillat eines Schulmassakers

Es ist der 20. April 1999, ein Notruf aus der Columbine High School in Littleton, Colorado. Die junge Kunstlehrerin Patti Nielson ruft aus der Bibliothek der Schule die Polizei an, es werde geschossen, sie selbst sei verletzt. Wenige Minuten später werden 12 Schüler und ein Lehrer tot sein, viele schwer verletzt, eine Schule, ein Land, die ganze Welt unter Schock.

Von Henry Bernhard | 16.03.2009
    "Jefferson County 911!"
    "Yes, I am a teacher at Columbine Highschool …"

    Die beiden jugendlichen Täter, Dylan Klebold und Eric Harris, begehen noch in der Schule Selbstmord. Ihre Tat ist gut dokumentiert, es gibt Überwachungsvideos aus der Schule, den gespenstischen Ton vom Bibliothekstelefon, Augenzeugenberichte, den Dokumentarfilm "Bowling for Columbine" von Michael Moore, den Spielfilm "Elephant" von Gus van Sant. "Littleton" ist international zur Chiffre für Schulmassaker geworden, genauso wie "Erfurt" in Deutschland. Was kann heute noch Neues darüber gesagt werden? Vor 3 Jahren veröffentlichte das Büro des zuständigen Scherifs eine CD-ROM mit Dokumenten der beiden Täter: Schul-Aufsätze, Tagebücher, Tatskizzen, Chat-Protokolle, Liebesbriefe usw. Fast 1.000 Seiten mitunter arg verquaste Pubertätsergüsse, schwierig zu konsumieren.

    Der Autor Joachim Gaertner hat sich durch das Material gearbeitet und nun ein Destillat daraus veröffentlicht, angereichert mit eigenen Interviews. "Ich bin voller Hass – und das liebe ich" bringt Struktur in das Material, ordnet, arrangiert, setzt Zusammengehöriges miteinander in Beziehung. Ein "Dokumentarischer Roman" jedoch, wie es unter dem Titel steht, ist das Buch sicher nicht, eher ein faszinierend-erschreckendes Puzzle, das zwei tote Menschen, die nach ihrer Tat als Monster galten, wieder zu Menschen werden läßt.

    Dylan und Eric haben ihre Tat ein Jahr lang im Geheimen geplant, sie waren aber nie die klischeehaften unauffälligen Jungs, denen niemand etwas Böses zutraut, sondern zwei junge Männer, die konsequent und auch öffentlich auf diesen grausigen Höhepunkt ihrer Gewaltphantasien zugearbeitet haben. Das Material ist eine Ansammlung von Warnungen, die ungehört, ungelesen, unverstanden und unverarbeitet blieben. Dylan Klebold drückt seine Gewaltphantasien schon sehr deutlich in Schulaufsätzen aus – und wird von Lehrern für seine Sprache und seine Ideen gelobt. "Guter Schluß" steht unter einem Aufsatz, der mit folgenden Worten endet:

    "Beinahe hätte ich mich gegen meine gefallenen Kameraden gelegt und wäre eingeschlafen, so wie manche von ihnen zu schlafen schienen. Aber das hätte bedeutet, daß die Bösen gewinnen, und das konnte ich nicht zulassen. Also raffte ich all die Patronen und all den Sprengstoff zusammen, die ich bei den toten Soldaten oder dem, was von ihnen übrig war, fand, und rüstete mich für die letzte Schlacht."

    Das war also für die Lehrerin des Creative Writing Kurses ein gelungener Schluß. Bei einem anderen Aufsatz, diesmal über den "Blitzkrieg" zwischen Aliens und Menschen, lobt sie die Details und den "Stimmungsaufbau". Ein Zeichen übergroßer Toleranz gegenüber pubertären Allmachtsphantasien oder Ausdruck der tief amerikanischen Einteilung der Welt in "gut" und "böse"? Man kann das Material aber auch anders lesen: Die Phantasien basieren allesamt auf der Bilderwelt, die uns die Film-, Comic- und Spiele-Industrie seit Jahren verkauft. Computerspielfiguren und -szenarien bevölkern die Aufsätze der beiden.

    Die Texte der deutschen Band Rammstein finden sich in ihren privaten Papieren. Ihre Lieblingsfilme gehören zum Mainstream der aufgeklärten Popkultur der 90er Jahre. Es ist die Bilder- und Phantasiewelt, die wir unseren Kindern vorsetzen oder zumindest nicht verwehren. Hier kommen uns die Täter erschreckend nahe.

    Sicher, ihre maßlose Selbstüberschätzung, ihr Größenwahn, sich mit Gott gleichzusetzen, ihr Geltungsdrang und ihre Verachtung für alle, die anders sind, wirken arg befremdlich; man würde so etwas aber sicher auch in den Tagebüchern vieler anderer Jugendlicher wiederfinden. Viel erschreckender noch als die Aufzeichnungen der beiden späteren Amokläufer ist die Schilderung der Schulhierarchie durch einen ihrer Mitschüler: An der Spitze die Sportler, die Schönen und Reichen – ganz unten die sogenannten "hilflosen Außenseiter", Schüler wie Eric und Dylan, die von anderen ausgeschlossen und gemobbt werden, die man treten kann.

    In diesem Klima der Unterdrückung, das Minderwertigkeitskomplexe und Selbsthaß provozierte, gediehen die Rachephanatsien, die sie sogar in einem Schulvideo manifestierten. Ein Mitschüler erinnert sich:

    "Das Video "Auftragskiller zu mieten" war schon fast gruselig in seinen Andeutungen. Eric und Dylan, in schwarzen Trenchcoats, erschießen die Sportlertypen, die Stars der Klasse. Wie viel mehr an Andeutungen ist denn möglich? Doch damals dachte sich keiner was dabei. Denn an jeder Schule gibt es Mobbing, überall gibt es die Stars der Klasse, und die Stars sind die, die sich über die anderen lustig machen. Alle lachten über das Video. Es wurde über das interne Schul-Videosystem in allen Klassen gezeigt. Es war einfach so typisch Highschool. Aber von heute aus gesehen - verdammte Scheiße, wie konnten wir das übersehen?"

    Beide waren vorbestraft, mußten an Antigewalttrainings teilnehmen und erzählten Psychologen von ihren Mordgedanken. Viele wußten zudem, daß die beiden mit Sprengstoffen und Feuerwerkskörpern experimentierten. Eine Freundin half ihnen beim Waffenkauf, weil sie noch nicht 18 waren. Gemeinsam mit anderen machten sie Schießübungen im Wald und filmten sich dabei gegenseitig. Damit waren sie allerdings keine Außenseiter, sondern schwammen im Mainstream eines waffenverrückten Landes.

    Was die Dokumente aber auch belegen, ist die Vielseitigkeit, die in den intelligenten jungen Männern angelegt war: Einerseits die Gewaltphantasien, andererseits aber auch ihre Suche nach Liebe, nach Anerkennung und Bestätigung, nach einer Freundin.

    "Will WAHRE Liebe ... ich will genau das, was ich nie haben kann ... Ich hasse alles ... warum kann ich nicht sterben ... nicht fair. Ich will reines Glück ... mit ihr kuscheln ... die ich, glaube ich, tiefer liebe als je zuvor. Eine andere Form der Spirale nach unten ... tiefer und tiefer. Mit ihr kuscheln, eins sein mit ihr, lieben, einfach daliegen, ich brauche ein Gewehr. Das ist ein gestörter Eintrag."

    Wenn die Gewaltphantasien auch arg befremdlich wirken, so ist dieses gut strukturierte Arrangement von Dokumenten doch sehr vielschichtig. Das Buch ist ein Zeugnis des Wegschauens, der Ignoranz, der versäumten Warnsignale. Ein Bestandsverzeichnis der Popkultur. Man sieht am Rande Eltern, die nichts über ihre Kinder wußten. Und wir sehen den lokalen Kriegsschauplatz einer Gesellschaft, die einseitig auf Leistung konditioniert und die Zurückbleibenden aus dem Auge verliert. Dylan Klebold und Eric Harris wollten nicht zurückbleiben. Sie haben sich auf ihre Art ins Geschichtsbuch eingeschrieben. So fällt die Tat der Einzelnen auf uns alle zurück.