Freitag, 19. April 2024

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Deutsche Märchen und Sagen auf CD

Haben Sie sich schon mal gefragt, was es mit dem Namen »Germanen« auf sich hat? woher er stammt? Der bayerische Historiograph Hans Turmair, alias Johannes Aventinus, wusste schon zu Beginn des 16. Jahrhunderts eine Antwort darauf, und die Brüder Grimm haben sie uns in ihrer Sammlung deutscher Sagen überliefert: dieser Aventin habe - »schon merkwürdig« - den Namen der Germanen auf das lateinische Verb germinare - »keimen«, »sprossen«, »auswachsen« - zurückgeführt, und zwar deshalb, weil die Deutschen auf den Bäumen gewachsen sein sollen.

Reinhard Kaiser | 23.05.2003
    Ähnliche Überlegungen liegen einer Volkssage zugrunde, derzufolge die Sachsen samt ihrem ersten König Askanius mitten im grünen Walde bei einem süßen Springbrünnlein aus den Felsen des Harzes hervorgewachsen seien. Diese Sachsen zeichnen sich nun gegenüber dem Rest der Deutschen obendrein auch noch dadurch aus, daß sie sich auf »wachsen« reimen - dergestalt, daß die Zusammenhänge immer evidenter werden. Handwerker, so berichten die Grimms, würden bisweilen »noch heutzutage« (also in der ersten Hälfe des 19. Jahrhunderts) den folgenden Reim zum besten geben:

    Darauf so bin ich gegangen nach Sachsen, / wo die schönen Mägdlein auf den Bäumen wachsen,/ hätt ich daran gedacht, / so hätt ich mir eins davon mitgebracht.

    Der neueste deutsche Märchenwald wächst aus der Verwunschenheit einer digitalen Silberscheibe hervor. Der Göttinger Märchenforscher und -herausgeber Hans-Jörg Uther hat ihn für die bei Directmedia in Berlin erscheinende »Digitale Bibliothek« angepflanzt: achtundvierzig, ursprünglich zwischen 1770 und 1920 erschienene, teils mehrbändige Sammlungen von Märchen, Sagen, Legenden, Schwankerzählungen und Zeugnissen des Brauchtums und Aberglaubens auf einer einzigen CD. Wohlgemerkt, lauter VOLKSüberlieferungen - also VOLKS-Märchen und keine KUNST-Märchen, keine einem einzelnen, benennbaren Dichterkopf entsprungene »Fantasy«, sondern Geschichten, deren Urheber anonym geblieben sind und bei deren Anhäufung allenfalls die Sammler und Herausgeber sich einen Namen gemacht haben. Es begegnen uns hier also nicht Tieck, Chamisso, Fouqué, Brentano, Hauff, sondern - natürlich - die Grimms und Bechstein und Musäus und darüber hinaus das, was 29 andere zusammengetragen haben - manche, wie Johann Carl Christoph Nachtigal und Johann Gustav Büsching schon VOR den Brüdern Grimm, die meisten NACH ihnen, ihrem Vorbild oder ihren Anregungen folgend. Und bei DIESEN Sammlern, deren Namen oft nur den Spezialisten bekannt sind - unter ihnen übrigens auch zwei SAMMLERINNEN, Benedicte Neubert und Karoline Strahl -, wird das Projekt >digitaler Märchenwald < überhaupt erst interessant.

    Die Brüder Grimm, Bechstein und Musäus wurden und werden immer und immer wieder nachgedruckt. Sie sind auch schon auf der großen Literatur-CD »Von Lessing bis Kafka« der »Digitalen Bibliothek« enthalten. Doch die meisten Bücher, die die neue CD »Deutsche Märchen und Sagen« enthält, sind seit ihrem ersten Erscheinen nicht mehr nachgedruckt worden, und einige von ihnen sind auch in mancher gut sortierten öffentlichen Bibliothek nicht zu finden. Der Herausgeber hat seine Auswahl klug getroffen. Er hat Sagen- und Märchensammlungen aus allen Regionen Deutschlands berücksichtigt: die Märchen und Sagen der Brüder Colshorn aus dem Hannoverschen; die Volksmärchen aus Pommern und Rügen, die Ulrich Jahn zusammengetragen hat; Alexander Schöppners Sagenbuch der Bayerischen Lande; Bernhard Baaders Volkssagen aus Baden; Heinrich Pröhles Sammlungen von Geschichten aus dem Harz und aus dem Rheinland; Franz Schönwerths Sitten und Sagen aus der Oberpfalz - um nur einige zu nennen.

    Die einzelnen Bücher sind alphabetisch nach den Namen ihrer Herausgeber angeordnet. Sämtliche Texte werden ungekürzt - und, soweit vorhanden, mit ihren Anmerkungen und Illustrationen - wiedergegeben. Jeder »Sammlung« ist eine mehrseitige biographische Notiz über den Herausgeber mit weiteren bibliographischen Hinweisen vorangestellt.

    Als der Verlag diese Edition ankündigte, versprach er dem Publikum schon Masse genug - 12 000 Märchen und Sagen auf 37000 Bildschirmseiten. Doch nach getaner Arbeit stellte sich heraus, daß in Wirklichkeit rund 24 000 Texte auf fast 55 000 Seiten zusammengekommen waren. Den arglosen Leser mag so viel unverhoffte Selbstüberbietung eher beunruhigen als begeistern - 24000 Märchen und Sagen? was hat das zu bedeuten? Zum Vergleich: Die »KHM« , wie die Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm von den Kundigen immer wieder rabiat abgekürzt werden, bringen es alles in allem auf rund 220 Nummern - weniger als ein Hundertstel dessen, was diese CD verheißt! Es scheint allerdings so zu sein, daß die gigantische Zahl auch dadurch zustande kommt, daß kurze und kürzeste, manchmal nur einen Satz umfassende Texte, wenn sie denn für sich stehen, genauso gezählt werden wie das Märchen vom »Tischchen deck dich« mit seinen immerhin sechzehn Bildschirm-Seiten. Womit aber nichts gegen jene Kürzesttexte gesagt sein soll: viele von ihnen gehören in die Abteilung »Aberglaube« und tragen ganz erheblich dazu bei, das Schmökern auf dieser CD besonders reizvoll zu machen - rätselhafte, dem modernen Leser nicht ohne weiteres begreifliche Sentenzen von einer manchmal abgründigen Schönheit.

    Wenn zwei Personen EINEN Gedanken zugleich haben, so heißt es: »Schon wieder eine Seele erlöst, die wird springen«.

    Und wie riskant mag es sein, die folgenden Regeln nicht zu befolgen?

    Einem seltenen Besuch soll man ein Ei schenken. Geht man in ein Haus, so muß man sich setzen, sonst trägt man beim Gehen den Leuten den Schlaf hinaus. Wer an einem Sonn- oder Festtage für Andere ein Kleidungsstück näht, darin schlägt der Blitz. Geht der oder die Eigenthümerin nach Amerika und trägt es, so geht das Schiff unter.

    Das Navigieren in großen digitalisierten Textarchiven ist nie ganz einfach. Aber besonders schwierig wird es auf einem Ozean von Anonymität, wie ihn diese CD bietet, wo nicht einmal die Namen von Autoren und die Titel ihrer Werke Anhaltspunkte bieten. Die Programmierer der Digitalen Bibliothek haben sich einiges einfallen lassen, was hier zur Orientierung beiträgt. Neben der selbstverständlich vorhandenen Möglichkeit zur Volltextsuche gibt es eine Register- und Tabellenfunktion, die sich, wenn man sie verstanden hat, als sehr nützlich erweist: In einer schier endlosen Liste der Titel bzw. Anfänge sämtlicher auf der CD enthaltenen Einzeltexte lässt sich nicht nur nach ganzen Titeln wie »Daumesdick«, sondern auch nach Ausdrücken innerhalb der Titel suchen - nach »Holunder oder »Hölle« oder »Köln« - und auf diese Weise viel Aufschlussreiches finden. Und wer auf der Suche nach Erklärungs- oder Ursprungsmärchen ist, der gelangt mit der Eingabe von »Woher«, »Weshalb«, »Warum« zu einschlägigen Texten, in denen allerlei wunderlich anmutende Antworten auf überraschende Fragen gegeben werden: »Warum die Pappel zittert« oder »Warum die Kreuzschnäbel kreuzförmige Schnäbel haben« oder »Warum die Sonne am Tag und der Mond in der Nacht scheint«.

    Während also der Verlag zur technischen Erschließung dieses Märchen- und Sagenschatzes viel getan hat, läßt die inhaltliche Erschließung, die in den Aufgabenbereich des Herausgebers Hans-Jörg Uther fällt, leider manche Wünsche offen. Die Auswahl, die er getroffen hat, ist überzeugend, ihre Anordnung und Gliederung auf der CD ist einleuchtend, die biographischen Notizen zu den verschiedenen Herausgebern sind nützlich, die 20000 Einträge umfassende Bibliographie von Veröffentlichungen zur Erzählforschung ist eine besondere Schatzkammer für die Spezialisten - aber die rund sechzig Seiten umfassende Einleitung, die er seiner »Sammlung von Sammlungen« voranstellt, ist alles andere als eine Einladung, näher zu treten. Von Vergnügen an der eigenen Sache keine Spur - und kein Funken von Freude über die Bilder- und Ideenfülle, die hier präsentiert wird.

    Statt dessen einige, seltsam disparat und zusammengestückelt wirkende Ausführungen über die Bearbeitung, die die Brüder Grimm ihren Märchen haben angedeihen lassen, über ihre Auseinandersetzung mit dem Kollegen und Konkurrenten Bechstein, und schließlich - am Beispiel von »Erzählgut« aus dem Harz - Hinweise dazu, auf welch verschlungenen Überlieferungswegen und durch welche Überschneidungen mit anderen Traditionen Volkssagen bisweilen Gestalt angenommen haben. Lauter neugierig machende Fragen also - jedoch abgehandelt in einer manchmal bis zur Unverständlichkeit lieblos formulierten akademischen Floskelsprache, die den beklemmenden Eindruck erweckt, hier habe sich jemand, der vieles weiß und vieles mitteilen und anschaulich machen könnte, für sein eigenes Thema nicht (mehr) interessiert.

    Wollen Sie wissen, weshalb die Sonne am Tag und der Mond in der Nacht scheint? Hier die Antwort - ein Märchen aus der Oberpfalz gibt sie:

    Sonne und Mond sind Weib und Mann. Als sie Hochzeit hielten, tat der Mond, der stets als etwas kalt und langweilig gilt, in der Brautnacht der feurigen begehrenden Braut nicht zur Genüge: er hätte lieber geschlafen. Das verdroß die Sonne, und sie schlug dem Manne eine Wette vor, daß, wer von ihnen zuerst erwachen würde, das Recht haben solle, bei Tage zu scheinen: dem Trägen gehöre die Nacht. Würden sie beide zugleich wach werden, sollten sie fortan nebeneinander am Himmel glänzen. Da lachte der Mond gar einfältig vor sich hin: er ging die Wette ein, weil er nicht glauben wollte, daß er verlieren könne, und lachend schlief er ein. Davon hat er das Lachen behalten. Die Sonne aber ließ der Ärger nicht lange ruhen; schon vor zwei Uhr wach, zündete sie der Welt das Licht auf und weckte den frostigen Mond, und hielt ihm ihren Sieg vor und zugleich die Strafe, daß sie nun nie mehr eine Nacht mitsammen verbringen würden...

    Wie es zwischen diesen beiden dann weiterging und wie sie schließlich auf die Idee mit der Sonnenfinsternis kamen, das sollten Sie selber nachlesen, auf den Seiten 42877 bis 42880 dieser märchenhaften Silberscheibe, die anders als der silberne Mond des himmlischen Ehedramas durchaus nicht »kalt« und erst recht nicht »langweilig« ist.