Sonntag, 12. Mai 2024

20. September 2023
Die internationale Presseschau

Mit Kommentaren zur UNO-Vollversammlung und zu den Belastungen der kanadisch-indischen Beziehungen durch einen Mord. Erstes Thema ist jedoch die aserbaidschanische Militäroperation in der überwiegend von Armeniern bewohnten Region Berg-Karabach.

20.09.2023
Auf dem schwarz-weißen Bild sieht aus großer Höhe man eine Rauchfahne von einem Gelände aufsteigen.
Videostandbild, von Aserbaidschan veröfffentlicht: Rauch nach einem Angriff auf eine Stellung armenischer Streikräfte. (Uncredited/Defense Ministry of Azerbaijan/AP/dpa)
Dazu stellt die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG fest: "Noch fehlt der Überblick über das Kampfgeschehen, aber eine Prognose drängt sich auf: Am Ende dieses Angriffskrieges wird der 32 Jahre alte, international nie anerkannte Kleinstaat Karabach wahrscheinlich von der Landkarte verschwunden sein. Ebenso ist damit zu rechnen, dass seine Bevölkerung von einst rund 120.000 Einwohnern weitestgehend einer brutalen 'ethnischen Säuberung' zum Opfer fallen wird. Nach 2.000 Jahren armenischer Siedlungsgeschichte in dieser Gebirgsregion scheint sich jetzt ein Kapitel missglückter Staatlichkeit gewaltsam zu schließen", vermutet die NEUE ZÜRCHER ZEITUNG.
Die in Istanbul erscheinende Zeitung DUVAR ist ähnlicher Auffassung: "Mit dieser Militäroperation will der aserbaidschanische Präsident Alijew offenbar als Held erscheinen. Seine Absicht ist, die armenischen Kräfte in Berg-Karabach zu entwaffnen und dort Aserbaidschans Vorherrschaft zu installieren. Aserbaidschan hat Berg-Karabach völlig isoliert. Ob Alijew noch weiter geht, ist unklar. Eine Entwaffnung der Armenier würde aber bedeuten, dass es bald keinen einzigen Armenier mehr in Berg-Karabach geben wird", warnt DUVAR aus der Türkei.
Die polnische GAZETA WYBORCZA sieht folgenden Hintergrund: „Aserbaidschan wurde zu der Militäroperation ermutigt durch die Haltung Russlands, das – geschwächt durch den Krieg in der Ukraine – seinen Verpflichtungen zur Wahrung des Friedens in der Region nicht nachkommen kann. Armenien ist alleingelassen in diesem Konflikt mit Aserbaidschan, das einen überwältigenden militärischen Vorteil hat und von der Türkei bedingungslos unterstützt wird". Das war die GAZETA WYBORCZA aus Warschau.
Diese Einschätzung teilt LA STAMPA aus Turin: "Die Armenier sind auf sich allein gestellt. Obwohl sich Russlands Präsident Wladimir Putin als Verteidiger der christlich-orthodoxen Zivilisation bezeichnet, hat Russland die Enklave praktisch aufgegeben. Putin ist mehr an guten Beziehungen zur Aserbaidschans Verbündetem Türkei als an der Rettung seiner Glaubensbrüder interessiert."
Die spanische Zeitung EL MUNDO verweist auf eine schon länger andauernde Entfremdung Armeniens von Russland: "Armeniens Premierminister Pashinyan geht zunehmend auf Distanz zum einstigen Schutzherrn. Unter anderem bezeichnete er den Schulterschluss mit Russland öffentlich als strategischen Fehler, da Armeniens Sicherheit deshalb zu 99,9 Prozent von Moskau abhänge. Armenien geht damit auf den Westen zu und fordert die Kontrolle Russlands über die ehemaligen Sowjetrepubliken heraus – und das, während Russland gerade bis zum Hals in den Ukraine-Krieg verstrickt ist“, analysiert EL MUNDO aus Madrid.
Nun zur UNO-Vollversammlung, die gestern begann. Das WALL STREET JOURNAL aus dem Veranstaltungsort New York fragt: "Was wird in dieser Woche inmitten der vielen Worte erreicht werden? Was nützen die Vereinten Nationen noch in dieser neu entstehenden Weltordnung von Schurkenstaaten und multipolaren Machtzentren? Multilateralismus, wie er in der UNO praktiziert wird, wird zunehmend irrelevant, da China, Russland, der Iran und andere Schurken ihre Macht behaupten. Die liberalen Internationalisten in der Regierung von US-Präsident Biden können ihre Vision von Gruppen von Ländern, die sich treffen, um ihre Differenzen in Frieden beizulegen, nicht aufgeben. Aber die Wahrheit über die heutige Weltordnung liegt in den Trümmern von Bachmut", konstatiert das amerikanische WALL STREET JOURNAL.
Der österreichische STANDARD blickt auf den ukrainischen Präsidenten Selenskyj: "Selenskyj steht die bisher wohl wichtigste Mission bevor: In dieser Woche will er bei den Vereinten Nationen jene Länder überzeugen, die sich im Ukraine-Krieg noch nicht auf seine Seite geschlagen haben. Wichtig ist vor allem, welchen Eindruck Selensky auf die US-Innenpolitik machen wird. Mit Präsident Joe Biden und dessen Demokraten hat er zuverlässsige Verbündete, doch die Republikaner und ihre Präsidentschaftskandidaten haben die Milliardenhilfen für die Ukraine als Wahlkampfthema entdeckt. Selenskyj muss in Washington Eindruck machen, und zwar mächtig", betont DER STANDARD aus Wien.
Und das in Tokio erscheinende Blatt ASAHI SHIMBUN notiert: "Der ukrainische Präsident Selenskyj ist alarmiert wegen der nachlassenden Hilfsbereitschaft jener Länder, die die Ukraine bislang unterstützt haben. Je länger der Krieg dauert, desto größer wird die Skepsis der Menschen bezüglich einer weiteren Unterstützung für die Ukraine – und diese Entwicklung ist genau das, was der russische Präsident Putin wollte".
Aus Sicht der CHICAGO TRIBUNE stellt sich für die Ukraine folgendes Problem: "Auch wenn die Invasion und Besetzung durch Russland gegen die Grundprinzipien der UNO-Charta verstößt, können es sich die Entwicklungsländer nicht leisten, eine Großmacht aus moralischen Gründen abzuschneiden. Das treibt den Westen offensichtlich in den Wahnsinn, ist aber durchaus sinnvoll für Länder, die entweder auf Russland als Nahrungsquelle angewiesen sind (Brasilien), historische Beziehungen zum Kreml haben, die bis in den Kalten Krieg zurückreichen (Südafrika) oder versuchen, ihre strategische Position auszunutzen (Saudi-Arabien). Kurz gesagt: Selenskyj hat noch viel Arbeit vor sich, wenn er diese Nationen auf die Seite der Ukraine bringen will", hält die CHICAGO TRIBUNE aus den USA fest.
Die Zeitung HUANQIU SHIBAO aus Peking blickt auf das Verhältnis Chinas zum sogenannten "globalen Süden": "Der Westen kann enge Beziehungen und die Zusammenarbeit Chinas mit den Entwicklungsländern nicht leugnen. Bereits vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen war die zunehmende Bedeutung dieses Teils der Welt unverkennbar, denn sowohl der Westen als auch Russland versuchen, die Länder des Südens im Ukraine-Konflikt auf ihre Seite zu ziehen. Doch werden alle Versuche unweigerlich scheitern, einen Keil zwischen China und die Entwicklungsländer zu treiben", ist HUANQIU SHIBAO überzeugt.
Nun zum Streit zwischen Kanada und Indien. Dazu schreibt die britische TIMES: "Ein Land wie Kanada würde ein als befreundet geltendes Land - noch dazu einen wichtigen Partner im Commonwealth - nicht ohne triftigen Grund des Mordes an einem kanadischen Bürger auf kanadischem Boden beschuldigen. Die Erklärung von Premierminister Justin Trudeau, wonach Indien für die Erschießung eines kanadischen Sikh-Aktivisten in einem Vorort von Vancouver im Juni verantwortlich ist, ist daher Anlass zur Sorge. Sollte die Anschuldigung zutreffen, könnte dies einen Wendepunkt in der internationalen Wahrnehmung Indiens, der größten Demokratie der Welt, markieren. Modi, eine wichtige Persönlichkeit in der Weltpolitik, könnte dann neben Wladimir Putin als Schurke dastehen". So weit THE TIMES aus London.
In der kanadischen Zeitung TORONTO SUN ist zu lesen: "Sollten die Vorwürfe sich als wahr erweisen, wäre das schockierend und falsch. Die indische Regierung hätte eine Auslieferung des Mannes beantragen können. Es hätte ein Verfahren in Abwesenheit stattfinden können. Es hätte viele andere Möglichkeiten gegeben. Indien muss jetzt offen und ehrlich sein, und wenn sich die Anschuldigungen als wahr erweisen, müssen die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden", verlangt die TORONTO SUN.
Die Zeitung THE HINDU betrachtet den Streit aus indischer Perspektive: "Man muss bedenken, dass Kanada die Heimat von Indern und indischstämmigen Kanadiern ist und die Auswirkungen eines Bruchs weitreichend zu spüren sein werden. Für Premier Trudeau muss nun Priorität haben, seine äußerst schwerwiegenden Anschuldigungen zu beweisen - oder zuzugeben, dass er dazu nicht in der Lage ist". Damit endet die internationale Presseschau.