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Die Liberalen und die Grundsätze

Über 600 Anträge galt es auf dem Bundesparteitag der FDP zu bearbeiten - innerhalb weniger Stunden. Das Grundsatzprogramm der Liberalen soll einen neuen Anstrich erhalten. Der ist auch bitter nötig. Schließlich muss die Partei längst um den Klassenerhalt bangen.

Von Stefan Maas und Dietrich Mohaupt | 22.04.2012
    "Löschen statt sperren – bei der Kinderpornografie. Wer hat's gemacht? Wir habens gemacht ..."

    "BAföG in Deutschland. Wer hat's gemacht? Wir haben's gemacht..."

    Endlich. Endlich darf die FDP wieder jubeln. Sich mal wieder selbst auf die Schulter klopfen. Sich an einer Rede erfreuen, sich feiern. Heute morgen auf dem Bundesparteitag in Karlsruhe. Ein erfahrener alter Spieler ist auf dem Platz erschienen. Rainer Brüderle, der Vorsitzende der Bundestagsfraktion. Jeder Schuss geht ins Tor. Jede Pointe sitzt. Schwarz-Gelb hat geliefert. Die FDP hat geliefert. Das ist seine Botschaft. Die Stimmung in der Messehalle wie im Stadion. Fast meint man, hier wäre eine schwarz-gelbe Mannschaft Deutscher Meister geworden.

    Die Partei dankt Rainer Brüderle mit stehenden Ovationen. Denn es steht nicht gut um die Liberalen. Noch immer müssen sie um den Klassenerhalt bangen. Die alles entscheidende Fünf-Prozent Hürde war lange in scheinbar unerreichbare Höhen entschwunden. Auch wenn jüngste Zahlen Hoffnung machen, sich wirklich gut fühlen, dazu gab es für die FDP-Mitglieder in letzter Zeit weder Grund noch viele Chancen. Und dabei soll es doch um Chancen gehen auf diesem Parteitag. Chancen durch Wachstum – so heißt das Motto des 63. Bundesparteitages. Ein Arbeitsparteitag. Es geht ums Grundsatzprogramm – entsprechend hoch ist das Tempo – und die Zahl der Änderungsanträge:

    "Antrag 20 ist übernommen, Antrag 21 ist übernommen, Antrag 22. ist übernommen."

    Über 600 gilt es zu bearbeiten. Innerhalb weniger Stunden. Daher hat das Parteitagspräsidium die Devise ausgegeben: Redebeiträge zu den Änderungswünschen bitte so kurz wie möglich, über viele wird ganz ohne Aussprache abgestimmt. Manchmal geht es zwar nur um einzelne Worte, die im Antrag verändert werden sollen, dennoch sind nicht alle mit diesem Verfahren einverstanden:

    "Das finde ich jetzt aber völlig intransparent, weil niemand weiß, welche Nummern wann wie aufgerufen werden, weil ich als Antragsteller gar nicht weiß, wann ich aufmerksam sein muss."

    Denn es geht hier in Karlsruhe nicht um irgendetwas. Das alte Grundsatzprogramm – die sogenannten Wiesbadener Grundsätze – wurde vor 15 Jahren verabschiedet. Damals waren die Liberalen – wie heute - Regierungspartei, Helmut Kohl war Kanzler und der Euro noch ein Zukunftsprojekt. Anderthalb Jahre lang haben die Freien Demokraten über ihre neuen Grundsätze diskutiert. Im Internet und auf unzähligen Veranstaltungen vor Ort. Erst unter dem damaligen Generalsekretär Christian Lindner. Seit dessen Rücktritt im Dezember unter Federführung seines Nachfolgers Patrick Döring. Der sagt, das neue Programm trage ihrer beider Handschriften:

    "Sowohl die Formulierung des ermutigenden Sozialstaates als auch unser Verhältnis zur Sozialen Marktwirtschaft im Sinne des mündigen Verbrauchers, des ehrbaren Kaufmanns und des verantwortungsbewussten Arbeitnehmers zeigt viel mitfühlende Offenheit in der FDP. Aber dass ich als Ökonom ein etwas anderes Wording, vielleicht auch einen etwas anderen Schwerpunkt setze, das sei mir gestattet."

    Dörings Schwerpunkt liegt auf dem Begriff Wachstum. So wird es öffentlich zumindest wahrgenommen, auch wenn es nur in einem von mehreren Kapiteln um Wachstum geht. Doch mit dieser Schwerpunktsetzung sind viele Parteimitglieder im Vorfeld unglücklich. Der Begriff Wachstum sei zu vage, sagen sie. Was denn damit gemeint sei: Haarwachstum? Familienwachstum?, ätzte auch der schleswig-holsteinische Spitzenkandidat, Wolfgang Kubicki, im Vorfeld des Parteitages. Eine Steilvorlage auch für jene, die der FDP vorwerfen, als Klientelpartei verenge sie sich nach der Steuersenkungsdebatte schon wieder auf das nächste Wirtschaftsthema. Das aber will Patrick Döhring nicht gelten lassen:

    "Uns hat der Begriff gefallen, weil er Dynamik zum Ausdruck bringt. Änderungsbereitschaft und auch optimistisch ist. Dass der Begriff sperrig ist, weil er bisher überwiegend mit wirtschaftlichen Fragen verbunden ist, das zeigen die Diskussionen, aber wir machen natürlich so eine Debatte auch, um zumindest den Versuch zu unternehmen, um zu zeigen, dass hinter dem Wachstumsbegriff aus liberaler Sicht wirklich eine gesellschaftliche Offenheit und Veränderungsbereitschaft steht, wie sie derzeit von keiner anderen politischen Kraft derzeit positiv zumindest gesehen wird. Und darum ging es uns."

    Wie schon Christian Lindner vor ihm, tourte der designierte Generalsekretär Patrick Döring durchs Land, um mit der Basis über die neuen Thesen zu sprechen. 1500 Änderungsanträge wurden im Laufe der Zeit eingearbeitet. Zu viele blieben noch für den Parteitag übrig, finden manche.

    "Ich glaube, man hätte sich noch mehr Zeit nehmen sollen. Daher wär's auch eine gute Lösung, wenn man sagt, das wird hier diskutiert und wird dann noch weiterentwickelt in den kommenden Monaten. Aus meiner persönlichen Sicht wäre es sinnvoller, es zu beraten und dann auch noch weiter zu entwickeln in den nächsten Monaten. Bis zu einem Parteitag 2013."

    Johannes Vogel sieht das anders. Der junge Bundestagsabgeordnete aus Nordrhein-Westfalen hat sich von Anfang an in die Grundsatzarbeit eingebracht.

    "Also, wenn ich mich so umhöre, wie das mit früheren Grundsatzprogrammen war, dann wurde immer gesagt, sollten wir nicht noch ein Jahr diskutieren. Aber ich glaube, erstens muss man dann irgendwann zu Ergebnissen kommen und zweitens: Wir haben ja sehr lange diskutiert. Auch trotz all der Schwierigkeiten, die es gab."

    Eigentlich sollte bereits im November des vergangenen Jahres darüber abgestimmt werden. Stattdessen befasste sich die Partei auf einem Sonderparteitag in Frankfurt mit dem Mitgliederentscheid, den einige Parteimitglieder um den Bundestagsabgeordneten Frank Schäffler angestrengt hatten. Die Gruppe um Schäffler wollte verhindern, dass die Rettungsschirme für verschuldete Eurostaaten auch mit den Stimmen der FDP-Bundestagsfraktion immer weiter anwachsen. Die Arbeit am Grundsatzprogramm kam ins Stocken und nahm erst Ende des Jahres langsam wieder Fahrt auf. Unnötig, meinen einige, denn genau wie Ende letzten Jahres habe die Partei dringlichere Probleme als ein neues Grundsatzprogramm:

    "Ich möchte zu diesem Programm jetzt erstmal eins sagen: Das ist flüssiger wie Wasser, Nämlich überflüssig. Was kommt in einer Unzeit, wo wir riesen Ressourcen gebraucht hätten, um die Politik, die wir unseren Wählern versprochen haben, umzusetzen? Gründen wir eine Kommission, das ist ja toll."

    Die Probleme der FDP werden fast wöchentlich deutlich, immer wenn neue Umfragen veröffentlicht werden. Umfragen, die die FDP bundesweit mal bei desaströsen zwei, mal bei drei, mal bei vier Prozentpunkten sehen. Parteichef Philipp Rösler hatte vor gut einem Jahr bei seiner Wahl zum Vorsitzenden noch versprochen, ab jetzt werde seine Partei liefern. Sicher hat er damit nicht zahlreiche Gelegenheiten für den politischen Gegner gemeint, Spott und Häme über die Liberalen auszugießen. Doch genau das ist, so ist die Wahrnehmung vieler, das einzige, was unter Rösler verlässlich geliefert wird. Die Stimmung in der Partei ist entsprechend schlecht.

    Philipp Rösler, der Glücklose, der angetreten ist, die FDP zu retten, wirkt längst selbst wie ein zu Rettender. Sein Vorstoß in der schwarz-gelben Koalition, die kalte Progression abzumildern und kleine und mittlere Einkommen zu entlasten, ist nur ein Strohfeuer geblieben. Auch der Mitgliederentscheid um die Euro-Rettungsschirme wurde eine Nagelprobe für ihn. Und dann düpierte die Saarländische Ministerpräsidentin den jungen und schon angeschlagenen Parteichef auch noch, als sie ausgerechnet während des Dreikönigstreffens der Liberalen die Jamaika-Koalition aufkündigte, weil Regieren mit der FDP nicht mehr möglich sei. Bei der Landtagswahl im Saarland wurden die Liberalen mit gerade einmal 1,2 Prozent der Stimmen zur Splitterpartei. Und aus dem hohen Norden feuert der Wahlkämpfer Wolfgang Kubicki munter Breitseiten gegen den Parteichef – um seine Partei zu retten, wie Kubicki sagt, aber wohl auch sich selbst. Das bringt in Karlsruhe Lasse Becker, den Vorsitzenden der Jungen Liberalen dazu, die Parteispitze zur Ordnung zu rufen:

    "Ich erwarte von der Führungsspitze der FDP nicht, dass sie befreundet sind, sondern ich erwarte, dass sie zusammenarbeiten. Und da hatte ich an der einen oder anderen Stelle im letzten halben Jahr doch durchaus Probleme."

    Immerhin – von zuletzt vier auf fünf Prozent sind die Umfragewerte der Nord-FDP gerade gestiegen, der Wiedereinzug ins Landesparlament an der Kieler Förde ist damit ein klein bisschen nähr gerückt. Aber fünf Prozent - das reicht natürlich noch längst nicht, jedenfalls nicht dem Wahlkämpfer Wolfgang Kubicki. Als Spitzendkandidat ist er seit Wochen auf Tour im Land, kaum eine Fußgängerzone, kein Marktplatz ist vor ihm sicher. Und er wird nicht müde, vor Fehleinschätzungen zu warnen – was die Umfrageinstitute da so herausfinden, sei doch mit Vorsicht zu genießen, mahnt er. Was die FDP wirklich wert sei ...

    "... das sehen wir erst am Wahlabend. Alles andere ist momentan Schall und Rauch."

    Sicherheitshalber hat Wolfgang Kubicki auch schon – für den Fall einer erneuten Regierungsbeteiligung der FDP in Schleswig-Holstein – den Posten des Finanzministers für sich reklamiert. Mit dem Thema Landesfinanzen will er bis zum 6. Mai massiv punkten – das Stichwort Haushaltskonsolidierung darf bei keinem seiner Wahlkampfauftritte fehlen.

    "Ohne uns hätte es die Haushaltskonsolidierung in der vorliegenden Form gar nicht gegeben – wir haben im Koalitionsvertrag die Haushaltsstrukturkommission durchgesetzt, die jetzt in anderen Ländern nachgeahmt wird, weil wir gewusst haben, dass – wenn man das nur der Regierungsebene überlässt – daraus nichts wird."

    Die FDP als Garant für stabile Landesfinanzen, hartnäckig zeichnet Wolfgang Kubicki immer wieder dieses Bild. Und genauso hartnäckig geht er im Wahlkampf auf Distanz zur Bundesspitze seiner Partei. Immer wieder Angriffe auf den Vorsitzenden Philipp Rösler, dem er unter anderem eine "unterirdische Kommunikation" mit den Wählern vorwirft. Das kommt an - zumindest am Wahlkampfstand der FDP auf dem Altstädter Markt in Rendsburg."

    "Bei dem jetzigen Stand der FDP bundesweit gesehen hat er ja nur eine Chance gehabt, sich abzugrenzen vom Bund – und das macht er ganz gut, denke ich. Er ist eine ehrliche Haut – er ist also vier Jahrzehnte oder noch länger ein überzeugter Liberaler auch in Schleswig-Holstein."

    Auf dem Parteitag in Karlsruhe gibt es keine weiteren Attacken. Nichts soll sich danach anhören, als stelle da jemand die Führungsfrage. Parteiinterne Querelen kommen im Wahlkampf nie gut an, das weiß auch Wolfgang Kubicki. Geschlossenheit ist angesagt:

    "Wir, die gesamte Partei, unter Führung des auch von mir gewählten und von uns getragenen Bundesvorsitzenden, wir werden die Wahlen gemeinsam gewinnen. Und seit gestern sagen wir Philipp und Wolfgang zueinander."

    Im vergangenen Herbst hatte Kubicki noch etwas ganz anderes gesagt: Von ihm und seinem Abschneiden in Schleswig-Holstein hänge auch das Schicksal Philipp Röslers ab. Da war der Parteichef schon angeschlagen. Rainer Brüderle, der Vorsitzende der Bundestagsfraktion, - hieß es hinter vorgehaltener Hand - warte schon hinter den Kulissen, um im rechten Moment den Trainer auszutauschen und selbst das Amt des Parteivorsitzenden zu übernehmen. Seit Anfang März aber ist klar, es ist nicht nur der Wahlkämpfer aus dem Norden, von dem abhängt, wie es mit der Partei und ihrem Vorsitzenden weitergeht. Denn seit die nordrhein-westfälische FDP Anfang März "Nein" gesagt hat zum Haushaltsentwurf der rot-grünen Minderheitsregierung und sich darauf hin der Düsseldorfer Landtag aufgelöst hat, wird auch im bevölkerungsreichsten Bundesland wahlgekämpft. Gewählt wird am 13. Mai, eine Woche nach Schleswig-Holstein. Oder wie Wolfgang Kubicki sagt:

    "Nach Schleswig-Holstein kommt Nordrhein-Westfalen. Nach mir kommt jetzt Christian Lindner. Und vor uns allen liegt eine goldene Zukunft."

    Christian Lindner soll es richten. Wo immer der 33-Jährige im Wahlkampf auftritt, kommen die Leute in Scharen. Wie zum offiziellen Auftakt des Straßenwahlkampfs am vergangenen Samstag. In Münster. In der Fußgängerzone neben Karstadt Sport.

    Während der Platz sich langsam füllt, spielt die Vorband "Life is a Rollercoaster". Eine Achterbahn sind die vergangenen fast zwei Jahre für die FDP in NRW in der Tat gewesen. 2010 bei der letzten Landtagswahl der Wechsel von der Regierungsbank in die Opposition mit 6,7 Prozent der Wählerstimmen. Seitdem sind die Mitgliederzahlen des Landesverbandes von etwa 17.200 auf unter 16.000 gefallen. Die Achterbahnfahrt setzte sich nach unten fort – im stetigen Abstieg in den Umfragen – bis auf zwei Prozentpunkte noch vor wenigen Wochen. Der Traum vom Wiedereinzug in den Düsseldorfer Landtag schien in weite Ferne gerückt. Doch dann kam er:

    "Man muss einfach nur sagen, er ist derjenige, der die FDP souverän in den Landtag führen wird. Meine Damen und Herren: Christian Lindner."

    "Ich fand's super. Mir hat's unheimlich gut gefallen. Vor allem fand ich's toll, dass mal eine Partei über Freiheit spricht. Ich habe diesen Mammi-Staat so was Leid. Das können Sie gar nicht glauben. Und deshalb ist mir das ganz, ganz wichtig, dass da mal wieder Wert auf Freiheit gelegt wird."

    "Ich traue ihm einiges zu. Und ich sach mal, nach allem, was passiert ist und was geschrieben wurde, denke ich mal, ist er der Lichtblick für die Zukunft in Nordrhein-Westfalen."

    Drei Tage später. Dienstag. Mobile Bürgerstunde der FDP in Porz-Libur bei Köln. Elvira Bastian, die Stadtbezirksvorsitzende für Porz, klärt mit ihren Mitstreitern wichtige Details für den Wahlkampf. Christian Lindner ist hier weit weg – und doch allgegenwärtig. Sie sind zu neunt an diesem Abend. Einer ist zum ersten Mal dabei – ein interessierter Bürger:

    "Mein Name ist Matthias Auperle. Ich wähle seit 35 Jahren die FDP. ich bin jetzt hier, weil mich einfach interessier: Wie will die FDP wieder zurückfinden? Weil die FDP für mich ein Stück weit eine Herzensangelegenheit ist."

    Diese Fragen haben sie an der Basis auch in Porz oft diskutiert – auch mit Familie und Freunden. Sie mussten sich oft fragen lassen. Was machen die denn da in Berlin? Dabei wollen die Liberalen hier vor Ort doch eigentlich nur das Beste für die Bürger, sagt Henning Schützendorf.

    "Also, Bundespolitik spielt eine große Rolle. Und wenn man sich im Freundeskreis trifft, dann merkt man immer wieder, dass diese Debatte Rösler, oder wie findet ihr den Rösler immer wieder durchschlägt oder andere Themen, wo die FDP sich positioniert. Ne wichtige Rolle spielt. Keine Frage. Ja. Leider. Oder zum Glück. Je nachdem. Aber meistens leider."

    Vor allem mit der Verengung des Programms auf Steuersenkungen waren die einfachen Parteimitglieder überhaupt nicht glücklich. Und auch die starke Betonung des Begriffs "Wachstum" im neuen Grundsatzprogramm lässt manche am richtigen Kurs des Parteivorsitzenden Rösler zweifeln. Dann entbrennt bei der mobilen Bürgerstunde in Porz-Libur plötzlich eine Diskussion darüber, was das liberale Profil eines Philipp Rösler eigentlich ausmacht. Ob er überhaupt ein Profil hat. Darüber gehen die Meinungen auseinander. Bei Christian Lindner – dem, wie manche meinen, fahnenflüchtigen Generalsekretär - sind sie sich dagegen einig. Sie alle hoffen, dass er für neuen Schwung in NRW sorgt, der Partei wieder eine Richtung gibt. Einen ersten positiven "Lindner-Effekt" spüren sie schon. Auch wenn es noch keine genauen Zahlen gibt, erstmals seit Langem seien wieder mehr Menschen in die Partei ein- als ausgetreten, sagt die Pressestelle der NRW-FDP. Und auch die Wahlkämpfer aus dem Raum Köln bemerken den Lindner-Effekt: Plötzlich kämen die Menschen auf der Straße wieder auf sie zu, sagen sie. Was aber unterscheidet Rösler von Lindner? Es ist der "interessierte Bürger" Matthias Auperle, der es am Ende auf den Punkt bringt.

    "Ich würde mal behaupten, Christian Lindner ist der Richard David Precht der FDP. Ein wunderbarer Erklärer, der komplexe Dinge klar und deutlich sagen kann."

    "Wenn die FDP aber dieser Finanzplanung im größten Bundesland zugestimmt hätte, es wäre die Kapitulationserklärung der FDP gewesen. Deshalb ist es jetzt Beleg unserer Glaubwürdigkeit, dass wir sagen, lieber neue Wahlen als neue Schulden."

    Die Begeisterung, die Lindner auch in Karlsruhe auslöst, macht es für Philipp Rösler nicht leicht, nach seinem früheren Generalsekretär zu sprechen. Der letzten Dezember überraschend zurücktrat und Rösler alleine ließ, wenige Tage, bevor das Ergebnis des Mitgliederentscheids offiziell bekannt wurde. Diesen Rückzug als Generalsekretär hat Lindner nie wirklich erklärt. Das Glaubwürdigkeitsproblem aber blieb am Parteichef hängen. Nicht am ehemaligen Generalsekretär. Sollte die FDP in Nordrhein-Westfalen wieder in den Landtag einziehen, wird das wohl Lindner gutgeschrieben. Sollte es daneben gehen, geht das Zulasten Röslers, sagen viele. Der Vielgescholtene gibt sich bei seiner Rede auf dem Bundesparteitag kämpferisch, teilt gegen die Piraten genau so aus, wie gegen den eigenen Koalitionspartner im Bund, CDU und CSU:

    "Und fragen wir doch mal unsere deutschen Soldaten, die gerade an der Küste von Somalia gegen Piraten kämpfen. Piraten sind nicht sympathisch. Sie nehmen anderer Leute Eigentum. Egal ob sächliches Eigentum, egal ob geistiges Eigentum. Dagegen wehren wir uns. Da bekommt Freibeuterei eine völlig neue Bedeutung.

    Deswegen eine kurze Bemerkung zum Betreuungsgeld. Ja, jetzt ist die Union am Zug, ein konkretes Konzept vorzulegen. Ich sage aber ganz ausdrücklich. Das Betreuungsgeld ist kein Lieblingsprojekt von uns als Liberalen!"

    Punkten will Rösler auch mit dem Thema Schuldenabbau. Am vergangenen Montag erst hatte das FDP-Präsidium beschlossen, man wolle sich gegenüber der Union für einen Bundeshaushalt ohne Neuverschuldung schon für das Jahr 2014 einsetzen. Ein Schulterschluss auch mit den Wahlkämpfern in den Ländern, dem Wahlkämpfer Wolfgang Kubicki.

    "Mein neuer Freund ... seit gestern Abend"

    Der Parteichef ringt um die Zustimmung seiner Delegierten. War Philipp Rösler bei seiner Antrittsrede vor einem Jahr noch der Parteiflüsterer, der die geschundene Seele seiner Partei mit leiser Stimme streichelte, so wirkte er in Karlsruhe eher wie der Trainer einer Fußballmannschaft, der seine Spieler in der Halbzeitpause in der Umkleidekabine noch einmal einschwört. Röslers Stimme ist hoch, laut, blechern. Er redet lang und länger, mehr als eine Stunde, klingt oft wie sein Vorgänger im Amt, während er die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer strapaziert. Er selber ist er dabei selten, sagt ein Niedersachse, der Rösler gut kennt. Nur in den leisen Passagen, den selbstkritischen, sei der Vorsitzende ganz der alte. Auch habe er nur zweimal gelächelt. Das sei, so sein Parteifreund, eigentlich nicht seine Art. Am Ende gibt es artigen Applaus und stehende Ovationen für Philipp Rösler. So macht man das halt, wenn man weiß, es war nicht die beste Rede, aber man will keine Personaldiskussion, erklärt ein Bundestagsabgeordneter. Wie begeisterter Applaus klingt, war vorher bei Christian Lindner zu hören. Ihm gelingt, was seinem Vorsitzenden versagt bliebt: Lindner schafft es, dass die FDP wieder träumt, was ihr lange versagt blieb: Sie träumt von den Chancen des Wachstums.