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Die SPD und ihre ungeliebten Vordenker

Es gibt ihn nicht mehr - den klassischen Typ des Intellektuellen, der sich als konzeptioneller Denker oder bahnbrechender Impulsgeber einer Partei zur Verfügung stellte und dessen Verdienste häufig unterschätzt wurden. In unserer Serie "Parteiintellektuelle in Deutschland" wollen wir an die geistigen Profile in der Union, der SPD, bei den Liberalen und den Grünen erinnern.

Von Norbert Seitz | 05.06.2011
    Am 5. Oktober 1945 richtete Kurt Schumacher auf einer Reichskonferenz in Wennigsen am Deister einen leidenschaftlichen Appell an die Intellektuellen, sich der Sozialdemokratie zuzuwenden und ihre politische Heimatlosigkeit aufzugeben. Die Bitte ging mit der Empfehlung einher, das theoretische Rüstzeug und die politischen Methoden in der Partei einer Prüfung zu unterziehen.

    Ein solch emphatischer Appell galt für deutsche Verhältnisse nicht gerade als Selbstverständlichkeit. Immerhin war hierzulande bis 1945 der Begriff des Intellektuellen lagerübergreifend negativ besetzt, ja für manche sogar ein Schimpfwort, wie Dietz Bering in seinem jüngsten Werk über "die Epoche der Intellektuellen" eindrucksvoll beschrieben hat.

    Dies galt wegen ihrer intensiv geführten Richtungsdebatten - etwa im Revisionismusstreit an der Schwelle zum zwanzigsten Jahrhundert - auch für die SPD. So dröhnte etwa August Bebel auf dem Dresdner Parteitag 1903 unter stürmischem Beifall der Delegierten:

    "Nach der Entwicklung der letzten Jahre bin ich aber leider noch auf meine alten Tage dazu gekommen, zu sagen: Seht Euch jeden Parteigenossen an, aber wenn es ein Akademiker ist oder ein Intellektueller, dann seht ihn Euch doppelt und dreifach an."

    Trotz allen Spotts musste aber der Parteiahn einräumen, dass die Sozialdemokratie der Intelligenz von Akademikern und Intellektuellen bedurfte:

    "Ihnen ist durch das Glück der Umstände und durch ihre soziale Stellung vergönnt, das wissenschaftliche Rüstzeug mitzubringen, das sie befähigt, in hervorragender Weise für unsere Partei tätig zu sein."
    Am Anfang war Carlo Schmid, der geistige Vater des Grundgesetzes, der wie kein zweiter die Rolle und den Begriff des Intellektuellen in der Politik prägen sollte. In seiner Rede "Die Intellektuellen und die Demokratie" aus dem Jahre 1957 konstatiert er:

    "Wenn heute die Demokratie unser Schicksal ist, dann sind die Intellektuellen das Schicksal der Demokratie."

    Kein deutscher Kopf hat die Rolle des Intellektuellen in der Politik derart positiv aufgewertet und dramatisch zugespitzt. Der Intellektuelle sei ein "Mahner an das Ewige im Menschen", der Ansätze zu Ende denke und "an der Seite der Schlechtweggekommenen der Geschichte" seinen Platz einzunehmen habe.

    Carlo Schmid brauchte keine Sondereinladung von Kurt Schumacher, um künftig politisch tätig zu werden. Seine intellektuelle und akademische Szene in der Weimarer Republik hatte nach dem Eingeständnis des Tübinger Universitätslehrers in Passivität und Zynismus verharrt und damit exemplarisch versagt. Nunmehr galt es, kein zweites Mal schuldig zu werden. Die Devise, mit der sich Carlo Schmid selbst antrieb, lautete:

    "Heraus aus deinem Garten! Hin auf den Markt! Hinein in eine Partei!"

    Über die Gründe, die den universell gebildeten Rechtsgelehrten nach 1945 ausgerechnet in die Sozialdemokratie führten, existieren viele witzige Anekdoten. Jedenfalls sah er sich vor die Aufgabe gestellt,

    "…eine traditionsbeladene Partei von der Notwendigkeit eines einer veränderten Zeit entsprechenden Bewusstseins ihrer selbst und ihrer konkreten Aufgaben zu überzeugen, ohne an das Fundament der moralischen und humanistischen Impulse zu rühren, in deren Zeichen die Väter vor bald hundert Jahren angetreten waren – und das als ein erst jetzt in ihre Reihen Getretener."

    Auf dem Hamburger Parteitag von 1950 sollte Carlo Schmid und nicht der dafür zuständige Parteisekretär auf Wunsch Kurt Schumachers das kulturpolitische Hauptreferat halten. Damit wollte der erste Nachkriegsvorsitzende seinen Rivalen vom Gebiet der Außenpolitik weglotsen, auch wenn eine professorale Glanzleistung des ideengeschichtlichen Feuerwerkers auf jeden Fall verhindert werden sollte, wie Petra Weber in ihrer Schmid-Biografie es darstellt.

    Sein Referat "Die SPD vor der geistigen Situation dieser Zeit" barg viel Sprengstoff in sich.

    "Diese Partei muss eine politische Partei sein. Das heißt, sie kann keine Ersatzkirche und keine Sekte sein wollen. Eine politische Partei – das gilt für alle Parteien – hat als Partei keine Aussagen über den letzten Sinn des Daseins zu machen. Es ist nicht ihre Aufgabe, als Partei Metaphysik zu treiben und sich für den Verwalter des Wissens vom Wesen der Dinge zu halten."

    Carlo Schmid wurde für solche Positionen heftig attackiert. Man hielt ihm vor, aus der SPD trotz deren Menschheitsidealen "eine x beliebige Partei" machen zu wollen. Die SPD könne aber auf den "Kern einer Weltanschauung" nicht verzichten, tremolierten seine Antipoden.

    Für den elitären Reformgeist war aber die SPD keine "Weltanschauungspartei", sondern eine "soziale Reformpartei". An der von Willi Eichler geleiteten Programmkommission nahm er nicht teil. Nicht nur aus Gründen der Eitelkeit, sondern auch weil ihm die Theorie- und Programmlastigkeit seiner Partei ohnehin missfiel, verknüpfte er doch damit nur dogmatische Festlegungen, unnötige Abgrenzungen und parteiinterne Dauerfehden.

    Nach der schweren Wahlniederlage 1953 forderte er seine Partei auf, endlich "einigen Ballast" über Bord zu werfen. Doch als Ballastabwerfer, Tabubrecher, gar als Prophet oder Visionär war Carlo Schmid in seiner Partei nicht gefragt, sondern eher als Aphorist und Schönredner für besondere Anlässe, wenn Schillers oder Bebels gedacht oder Parteiprominenz bestattet wurde.

    Er selber umschrieb einmal seine Rolle in der SPD mit kaum verhülltem Spott als "Planstelle für Geist, Theorie und Lehrer". Doch er nahm den Part des "geachteten, aber einsamen" Vorzeige-Intellektuellen realistisch an.

    Standpunktlosigkeit, ja sogar Feigheit wurden ihm häufig vorgehalten, nachdem ihn des Öfteren der Mut vor Parteigranden verlassen hatte. Contre coeur war der europäische Visionär eingeknickt, als Kurt Schumacher seiner Partei eine Ablehnung des Eintritts der jungen Bundesrepublik in den Europa-Rat aufzwang, was Schmid noch nach Jahren für einen nicht wieder gut zu machenden Fehler hielt.

    Und die kritische Intelligenz außerhalb der Partei hielt den literarischen Bewunderer Stefan Georges nur für einen elitären Paradiesvogel in einem stagnierenden Weltanschauungsverein. Der "Schöngeist" Schmid sollte als "bürgerliches Aushängeschild" fungieren, während der im Hannoveraner Büro angestellte Cheftheoretiker Willi Eichler die Partei als "geistige Heimat" gewahrt wissen wollte.

    Gegen diese Position bezog Carlo Schmid auch auf dem legendären Godesberger Programmparteitag Stellung. Die Sozialdemokratie als Partei könne keine "geistige Heimat" von Menschen mehr darstellen. Das habe viele Delegierten "richtig ins Herz getroffen", befand die Parteihistorikerin Susanne Miller.

    Doch der langjährige Abgeordnete im Wahlkreis Mannheim konnte mit dem Godesberger Programm sehr gut leben, auch wenn die Parteireform nach seinem Geschmack noch weiter hätte gehen dürfen.

    Der linke Parteiflügel indes trug schwer an der neokapitalistischen Godesberger Wende der Partei. Dem Mittel der Vergesellschaftung kam keine zentrale Bedeutung mehr zu. Außerdem sollte eine visionäre Positionierung gegen Staat und die Gegenwartsgesellschaft künftig unterbleiben.

    Wichtigster Protagonist auf Seiten der Parteilinken, die sich damit nicht abfinden wollten, war der trotzkistische Denker und einstige Kombattant Wolfgang Abendroths, Peter von Oertzen, der in seinem Nein zum neuen Parteiprogramm feststellte:

    "Wenn dieses Programm in dieser Form, mit diesen politischen Grundsätzen verabschiedet wird, dann wird und verzeiht mir, es ist keine jammernde Klage, sondern eine nüchterne Feststellung, wird einem Teil schon der Delegierten hier und einem Teil der Genossen in der Partei ganz gewiss die Aufgabe, künftig dieses Programm mit ganzem Herz und aus vollster Überzeugung zu vertreten, sehr schwer gemacht."

    Doch von Oertzen sollte mit der Studentenbewegung und der Linkswende der Jungsozialisten Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre eine wichtige integrative Scharnierfunktion als Parteiintellektueller in der SPD zukommen. Denn die Beziehungen zwischen der großkoalitionären Sozialdemokratie und der Außerparlamentarischen Opposition waren eher feindselig geprägt.

    Der Hannoveraner sorgte bei der Beschreibung wegweisender Visionen wie der von der "Demokratisierung der Gesellschaft" bzw. "aller Lebensbereiche" dafür, dass die Eigentumsfrage wieder in den Mittelpunkt gestellt wurde, weil aus seiner Sicht die Umsetzung von Chancengleichheit und Wirtschaftsdemokratie, Mitbestimmung und Vermögensbildung, die Kontrolle des Produktivermögens und der Kampf gegen die Bodenspekulation mit ihr zusammen hingen.

    Unter seiner Leitung sollte der "Orientierungsrahmen ´85" Mitte der 1970er Jahre administrative Strategien entwickeln, um über Instrumentarien wie die Investitionsbeeinflussung zu einer öffentlichen Kontrolle wirtschaftlicher Macht zu gelangen und stärkere verteilungspolitische Effekte zu setzen.

    Doch der Orientierungsrahmen ´85 geriet schnell in Vergessenheit. Eine von vielen Enttäuschungen im Leben des Parteiintellektuellen Peter von Oertzen.

    Danach war er noch am Berliner Parteiprogramm von 1989 als Koautor mitbeteiligt. Darin heißt es zum Beispiel in seinem Jargon:

    "Die Arbeiterbewegung hat die historische Grunderfahrung gemacht, dass Reparaturen am Kapitalismus nicht genügen. Eine neue Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft ist nötig."

    Als er 2005 nach fast sechzigjähriger Mitgliedschaft die SPD verließ, zog er eine bittere Bilanz.

    "Von der Sozialdemokratie als organisatorischer Form theoretischer Bemühung erwarte ich mir nichts (…) die SPD ist absolut außerstande, mit den weiter- und tiefer reichenden Problemen des Kapitalismus fertig zu werden."

    Ideologischer Gegenspieler des neomarxistischen Protagonisten war Richard Löwenthal, der 1947 in seinem unter dem Pseudonym Paul Sering erschienenen Buch Jenseits des Kapitalismus die Europa-Idee als "dritte Kraft" propagierte - zwischen dem kapitalistischen Nordamerika und der kommunistischen Sowjetunion. Dabei orientierte sich der aus britischer Emigration zurückgekehrte Politologe an den Hoffnungen auf eine europäische Pilotfunktion der neuen Labour-Regierung, was sich freilich im Zeitalter des heraufziehenden Kalten Krieges als Illusion erweisen sollte.

    Der scharfsinnige Analytiker des Weltkommunismus und sogenannte "Kremlastrologe" widerrief und sah die SPD fortan gleichsam auf dem linken Flügel der Nato "im Kampf gegen alle totalitären Gefahren". In seiner Kampfschrift Der romantische Rückfall geißelte er die Vorstellungswelt der Studentenrevolte als irrlichternd und tief in der deutschen Innerlichkeitskultur wurzelnd.

    Zusammen mit dem bayerischen Kultusminister Hans Maier und den sozialdemokratischen Wissenschaftlern Lübbe und Nipperdey trat er als Gründungsmitglied des "Bundes Freiheit der Wissenschaften" gegen die Politisierung und Radikalisierung der Universitäten in Erscheinung. Noch heute nehmen ihn notorische Gegner der Studentenrevolte gern als Kronzeugen für sich in Anspruch: Es sei mühsam für den Berliner Politologen gewesen,

    "…das rhetorische Trommelfeuer wirrköpfiger Marxismus-Missionare à la Dutschke und ihren Fanatismus zu ertragen. Im Werk des sozialistischen Erzvaters kannte er sich besser aus als die Vorbeter der Meute, deren Violenz ihn allzu schmerzhaft an den Terror der SA-Rabauken gegen die jüdischen Professoren vor 1933 erinnerten."

    So das vergiftete Gedenken von Willy Brandts kurzzeitigem Redenschreiber Harpprecht zum 101. Geburtstag Richard Löwenthals. Den 100. hatte er offenbar verpasst.

    Anfang der 1970er Jahre hielt es der Parteivorstand für geboten, den antikommunistischen Vordenker und ausgewiesenen Gegner der 68er mit der Abfassung eines "Unvereinbarkeitspapiers" zu betrauen. Gründe dafür waren der Linksschwenk der Jungsozialisten und die Verständigungsdialektik der neuen Ostpolitik, wonach die diplomatische Öffnung gegenüber den kommunistischen Regimen nur auf der Basis einer ideologischen Unvereinbarkeit zwischen Sozialdemokratie und Kommunismus stattfinden dürfe.

    Löwenthal wies auf die unüberbrückbaren Unterschiede zwischen einer rechtsstaatlichen Demokratie und einer Einparteien-Diktatur hin und bekannte sich zu einer permanenten evolutionären Veränderung anstelle eines dogmatisch fixierten Endziels. Kategorisch formulierte Löwenthals Papier, dass "keine Friedenspolitik, keine außenpolitische Annäherung" den Gegensatz der Systeme beseitigen könne oder übersehen dürfe.

    Doch der Abgrenzungsbeschluss von 1971 wurde von Teilen der SPD nur als geistiges Relikt aus den längst überwundenen Zeiten des Kalten Krieges oder als taktisches Beschwichtigungsmanöver der Parteiführung abgetan, um jeden denunziatorischen Verdacht von ideologischer Kumpanei mit Kommunisten im Namen der Ost- und Entspannungspolitik zu vermeiden.

    Zehn Jahre später trat Richard Löwenthal noch einmal als sozialdemokratischer Linienintellektueller in Erscheinung, als es um mögliche Bündnisse mit den grün alternativen Neulingen ging. Nur mit dem Unterschied, dass es dieses Mal der Parteiführung nicht ganz gelegen kam.

    Trotz vieler gemeinsamer Motive und Anschauungen zwischen Grünen und SPD könne es "keine Gemeinschaft zwischen ihren politischen und antipolitischen Zielen" geben, denn die Sozialdemokratie wolle die Industriegesellschaft fortentwickeln und vermenschlichen - sie wolle sie nicht verteufeln oder abbauen.

    Doch der lang gediente Parteiintellektuelle befand sich mit solchen Abgrenzungen nicht mehr im Einklang mit seinem Vorsitzenden und langjährigen Freund aus Berliner Tagen, Willy Brandt.

    Der SPD-Vorsitzende hielt es für grundfalsch, die Grünen trotz aller programmatischen Überdrehtheiten in die Aussteigerecke stellen zu wollen.

    "Es ist blanke Illusion, in einer Gesellschaft, in der der Arbeiteranteil sinkt, auf die neuen Schichten verzichten zu können."

    Deshalb sei es gefährlich, so Willy Brandt, die sozialdemokratische Kernwählerschaft gegen neue Schichten ausspielen zu wollen.

    Doch Richard Löwenthal reagierte halsstarrig aus Furcht um die Anhängerschaft der Facharbeiter. Noch Jahre danach zu seinem 80. Geburtstag distanziert er sich von seinem alten Freund:

    "Ich bin tatsächlich als alter Bewunderer und wenn ich sagen darf, als Freund von Willy Brandt der Meinung, dass seine Politik in seinen letzten Führungsjahren nicht nützlich für die Partei war, so oft er immer noch sehr gute Sachen schreibt, und ich glaube, dass die Vorstellung, dass bestimmte Tendenzen der radikalen neuen, grünen oder halbgrünen Jugend zu keinen produktiven Ergebnissen geführt haben, und dass neue produktive Ergebnisse an anderen Punkten ansetzen müssen."
    .
    Die Löwenthal-Kontroverse weitete sich nach dem Kanzlersturz Helmut Schmidts zu einem Streit um die Kehrtwende der SPD bei der NATO-Nachrüstung aus. Doch rot grüne Koalitionen ließen sich nicht mehr aufhalten, so dass es allmählich still wurde um Richard Löwenthal.

    Den Grundstein für eine sozialökologische Perspektive hatte Erhard Eppler schon kurz nach der ersten großen Erdölkrise im Herbst 1973 und der Meadows-Studie des Clubs of Rome gelegt. Es ging ihm darum, eine ökologisch orientierte Perspektive des qualitativen Wachstums zu entwickeln. "Strukturen oder Werte bewahren?" hieß das grundlegende Kapitel seines Buches Ende oder Wende, in dem Eppler die aktuellen politischen Lager Mitte der 1970er Jahre sich neu formieren sah. Während die "Menschheit auf Grenzen gestoßen ist", seien die letzten Reste eines naiven Fortschrittsglaubens ins Lager der Strukturkonservativen ausgewandert.

    Demgegenüber standen die Eppler-Jünger als wertkonservative Fortschrittskritiker auf dem linken Parteiflügel.

    In der Hochphase der Friedensbewegung, die 1981/82 mit der Agonie der sozialliberalen Koalition in Bonn einherging, avancierte Erhard Eppler auch zum missionarischen Gegenspieler des angeschlagenen Kanzlers mit dem Macher Image, Helmut Schmidt und seinem NATO-Doppelbeschluss, der die SPD zu spalten schien und für enormen Zulauf der Grünen sorgte. Der Dissens zwischen dem Hanseaten Schmidt und dem Schwaben Eppler machte sich auch an prinzipielleren Dingen wie der Frage fest, ob ein Bundeskanzler die Pflicht zur geistigen Führung habe. Schmidt hatte dies entlang seines positivistisch verengten Politikverständnisses immer bestritten.

    Das Berliner Programm von 1989 wurde das Programm Erhard Epplers und seiner Botschaft einer sozialökologischen Erneuerung. Kritiker monierten, dass es mehr ein Furchtpapier als eine Hoffnungsbotschaft sei. Im Monat nach dem überraschenden Mauerfall 1989 verabschiedet, schien es zudem schneller Makulatur zu werden, als dem Verfasser lieb sein konnte.

    Noch Jahre danach beklagte er sich darüber, dass eine gewisse Missachtung oder Distanzierung von diesem Programm zur Profilbildung von SPD-Politikern beigetragen habe. In der Rede des künftigen Kanzlerkandidaten Oskar Lafontaine auf dem Berliner Parteitag sei dieses Programm…

    "…an keiner Stelle auch nur erwähnt, geschweige denn zitiert worden. Es ist schon verschwiegen worden, ehe es beschlossen war. Das, was da aufgeschrieben wurde, spielte keine Rolle. Es wurde von da an konsequent verschwiegen."

    Doch Eppler kehrte wieder und überraschte manchen Genossen von links. So mutierte der Friedensprediger vom Bonner Hofgarten im Oktober ´81 zum Befürworter des ersten deutschen Kriegseinsatzes im April ´99. Auch bei der Durchsetzung der Agenda 2010 half er seinem bedrängten Kanzler mit einer pathetischen Parteitagspredigt.

    Damit hatte Eppler den Part des Querdenkers abgestreift. Für seine Kritiker wie den geistigen Antipoden Peter Glotz war er längst zum Guru des fortschrittsskeptischen Mainstreams seiner Partei geworden.

    Glotz konnte mit der prophetisch überdehnten Perspektive einer "sozialökologischen Erneuerung" nicht viel anfangen. Es missfiel ihm, dass seine Partei sich seit ihrer wachstumskritischen Wende unter dem "guten Hirten" Erhard Eppler, Jochen Vogel & Co. in den 1980er Jahren nicht mehr als "Speerspitze des Fortschritts" verstand, zwar damit den Zeitgeist erreichte, aber auch die Macht verfehlte. Die SPD war für ihn mehr als eine angegrünte Gerechtigkeits- und Friedensinitiative. In seinen letzten Erinnerungen Von Heimat zu Heimat bekennt er unumwunden:

    "Ich war ein Godesberger, ein Kulturpolitiker, ein liberaler Sozialdemokrat. Für mich war die SPD (in dieser Reihenfolge) eine Partei der Aufklärung, des wissenschaftlichen Fortschritts, der Bürgerrechte und der sozialen Gerechtigkeit. Die ‚Seele’ der Partei hing für mich nicht von der Höhe des Kinder- oder Mutterschaftsgeldes ab."

    Peter Glotz wollte fast schon ein wenig traditionell die Linke immer auf der Höhe von Fortschritt und Innovation sehen und konnte deshalb grüblerische Moratorien oder Ausstiegsszenarien nur schwer ertragen. Als er seinen Genossen eine Zustimmung zu den Neuen Medien mühsam abrang, musste er sich gegen Kritiker durchsetzen, die mit der Bundeswehr oder Störsendern das für kulturschänderisch gehaltene Privatfernsehen hatten aufhalten wollen.

    Als Bundesgeschäftsführer wie als Chefredakteur der Neuen Gesellschaft warf Glotz einen Begriff in die Runde, den er später in seinen Erinnerungen als "ein wenig pompös" bezeichnen sollte, der sich aber bis zum heutigen Tage als ein linkes Lieblingslabel gehalten hat. Die Rede ist vom Kampf um die "kulturelle Hegemonie", die mit dem Ende der Ära Helmut Schmidts für die Linke verloren gegangen schien.

    In seinem Essay Der Intellektuelle und die Macht bediente sich der umtriebige Ideenaufschnapper der Begrifflichkeit des einstigen KPI-Theoretikers Antonio Gramsci.

    "In der Politik geht es um Macht, aber eben nicht nur um gepanzerte Gewalt, sondern auch um Überzeugungsfähigkeit und Konsens. Der Hegemoniebegriff (...) meint genau dies."

    Glotz plädierte als Modernisierer für den Spagat zwischen Traditionswählerschaft und den neuen Mittelschichten der technischen und kommerziellen Intelligenz. Noch ehe sich die zuständige Kommission nach Kloster Irsee in Bayern aufmachte, um über die Grundzüge eines neuen Parteiprogramms zu debattieren, war Peter Glotz mit einem eigenen Programm zur Stelle.

    Sein "Europäisches Manifest für eine neue europäische Linke" von 1985 war kein parteiinternes Selbstverständigungspapier, sondern ein mehr für die mediale Öffentlichkeit gedachtes Aufbruchsignal. Glotz präsentierte es vor großer Kulisse mit Jacques Delors und Felipe Gonzalez. Vor allem wollte er darin Ralf Dahrendorfs schmerzhaften Befund vom "Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts" entschlossen entgegentreten.

    "Emanzipatorische Nutzung der Modernisierung" oder "Individualismus von links" hießen seine Losungen Mitte der 1980er Jahre, mit denen er den Neokonservativen Paroli bieten wollte. Zum Berliner Programm Erhard Epplers von 1989 hatte er jedoch so wenig beizutragen wie Carlo Schmid zum Godesberger Programm Willi Eichlers 1959. Den Begriff der "Neuen Mitte" hat Peter Glotz schon als junger Abgeordneter für Willy Brandt mit zu definieren versucht. Als Gerhard Schröder das Label aufgriff, unterstützte er ihn.

    "Es ist die Attraktion der Maße, die Schönheit des Goldenen Schnitts. Die Deutschen wollen sich nach all ihren Erfahrungen vorsichtig bewegen. Also ist es legitim, für eine Wahl den Versuch zu machen, den Begriff ‚Mitte’ zu besetzen wie einen Bahnhof. Auch ist es unbestreitbar, dass Wahlsiege in vielfach segmentierten Gesellschaften nur mit der Patchwork-Technik zu gewinnen sind. Es gibt keine sauber umgrenzten antagonistischen Klassen mehr, nur unscharfe, oft ineinander verschwimmende Milieus. Die SPD muss ihrer Stammwählerschaft bei Arbeitern und Angestellten, bei der technischen Intelligenz, der pädagogischen Provinz und dem postmodernen Mittelstand selbstverständlich neue Schichten hinzufügen, schon um für neue Problemlagen sensibel zu werden."

    Seine Streitgespräche mit gegnerischen Reizfiguren waren in seiner Partei nicht wohl gelitten. Stets aufs Neue musste er sich das bornierte Standardargument anhören, man dürfe einem gefährlichen Gegner "keine zusätzliche Bühne" verschaffen. So bekam er in seinem letzten Bundestagswahlkampf 1994 eine in seinem Münchner Wahlkreis geplante Disputserie mit Prominenten - Glotz gegen Gauweiler, gegen Lambsdorff, Fischer, Gysi, Schönhuber und Haider - zusammengestrichen. Verzweifelt kommentiert er in seinem Politischen Tagebuch Jahre der Verdrossenheit:

    "Keiner bestreitet, dass jede dieser Kontroversen einen überfüllten Saal brächte. Aber es ist das alte deutsche Lied, die verschmockte, besserwisserische Angst der Drahtzieher vor dem blöden Volk … Wir bieten doch dem Schönhuber kein Podium! … Statt die Gegner zu widerlegen, will man sie wegdrücken, totschweigen, ausschmieren…. Man dürfe solche Leute nicht ‚aufwerten’, heißt die flaue Ausrede."

    Und als er für sein Streitduell mit Gregor Gysi von seinen Parteifreunden gerüffelt wird, - sie tun den kämpferischen Dialog als "Experiment zur Unzeit" ab -, resümiert Glotz verbittert:

    "Das ist diese stieselige, unkommunikative, stockige Haltung der einsinnigen Deutschen. Mit wem hätte ich eigentlich debattieren dürfen, wenn ich mich an diese Verbote gehalten hätte? Nicht mit den Spontis in Berlin …, nicht mit Petra Kelly und Gert Bastian, nicht mit der Bild-Zeitung, nicht mit Franz Schönhuber und so fort. Sogar die Diskussion mit Heiner Geißler hat man mir irgendwann untersagen wollen."

    Glotz wusste, dass Sozialdemokraten Gefangene ihrer Geschichte und Organisationsgläubigkeit sind, die mit Verschiedenheit nicht konstruktiv umzugehen verstehen. Getreu der Devise: Wenn es ernst wird, kennt man nur noch Gleichgesinnte und Verräter. Anders gesprochen: Die SPD ist nie die intellektuellenfreundliche Partei gewesen, für die sie sich seit dem Dauerengagement von Günter Grass und dem Grafiker Klaus Staeck gehalten hat.

    Die Nachfolger von Peter Glotz mögen sich noch sosehr mit Kunsttiteln wie "Theoretiker der sozialen Demokratie" ausstaffieren - es sind doch nur kleinmütige Kulturapparatschiks, die alle gesellschaftlichen Probleme auf die soziale Frage herunter zu brechen versuchen, ganz gleich ob es sich um Bildungspläne, Integrationskonflikte oder die Neubestimmung eines Fortschrittsbegriffs handelt.

    Die Ära des sozialdemokratischen Parteiintellektuellen ist aber nicht nur vorüber, weil es an Persönlichkeiten wie Carlo Schmid oder Peter Glotz mangelt, sondern auch weil jener Typ mit seinem häufig imperialen Gestus nicht mehr in unsere Zeit passen würde.

    Längst ist eine linke kritische Öffentlichkeit in Nischen und Netzwerke zerfallen. Spin-Doctors und sogenannte "Alphajournalisten" setzen die Themen. Glotz selber hat den Übergang vom Parteiintellektuellen zum Alphajournalisten verkörpert.

    Sie schieden meist im Groll – die Parteiintellektuellen und Vordenker der SPD. Von Carlo Schmid, der 1973 auf dem Hannoveraner Parteitag als Nestor mit keinem Anerkennungsbonus mehr rechnen durfte und bei der Vorstandswahl auf Platz 35 durchgereicht wurde bis Peter Glotz, der es 1996 bei seinem Ausscheiden aus der aktiven Politik leid war, sich im lustvollen Streit mit prominenten Gegnern Maulkörbe, Zwangsjacken und - wie er zu sagen pflegte -"Riechfläschchen" – von seinen Genossen verpassen zu lassen.

    Und Erhard Eppler? Selbst die stehenden Ovationen auf Parteitagen bei seinen zelebrierten Botschaften können seine protestantisch gefärbte Bitterkeit kaum tilgen, dass er in der Stunde der Krönung seines parteiintellektuellen Wirkens bei der Verabschiedung des Berliner Parteiprogramms anno ´89 von der Geschichte auf dem falschen Fuß erwischt wurde.

    Am kommenden Sonntag setzt Dieter Rulff die Reihe fort. Er wird sich mit Ralf "Dahrendorf und dem sozialliberalen Intermezzo" in der FDP befassen.