Freitag, 19. April 2024

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Die türkische Band Moğollar
Anatolische Sonne

Moğollar ist die erste türkische Rockband, die ab 1967 mikrotonal Folklore und traditionelle Instrumente Anatoliens mit westlichem Pop und Rock vereinte. Über 50 Jahre nach ihrer Gründung hat Moğollar die wichtigsten Songs für das Album „Anatolian Sun 1 & 2” im Direct-to-Disc-Verfahren neu eingespielt.

Von Anke Behlert | 12.03.2021
    Musik: "Çığrık"
    Moğollar mit dem Song "Çığrık" aus dem Jahr 1972. Da gab es die Band schon fünf Jahre. Gegründet hat sie Keyboarder Murat Ses zusammen mit Aziz Azmet, Cahit Berkay und Engin Yörükoglu. Bassist Taner Öngür stieß etwas später dazu. Die jungen Männer hatten zuvor schon in anderen Bands gespielt und waren wie alle jungen Menschen damals Fans der Beatles und der Rolling Stones, erklärt Öngür.
    Taner Öngür: "Ja natürlich erst die Beatles, dann The Rolling Stones. Wir mochten auch The Band aus Kanada, die ihre Folklore in Rockform gespielt haben. Genauso Jethro Tull aus England. Und wir haben uns gedacht: das können wir auch mit türkischer Folkmusik machen."

    Türkische Folkmusik kombiniert mit Beat und Rock

    Die türkische Folkmusik, von der Taner Öngür hier spricht, wird auch mikrotonalen Folklore genannt. Das bedeutet, dass es mehr als die in der westlichen Musik üblichen zwölf Halbtöne innerhalb einer Oktave gibt. Diese Struktur kombinieren Moğollar mit Beat- und Rockmusik der späten 60er. Sie spielen traditionelle Instrumente wie die Langhalslauten Saz und Yaylı tambur, die Davultrommel aber auch westliche Instrumente: Gitarre, Bass, Schlagzeug. Der Bandname Moğollar bedeutet Mongolen, sagt Taner Öngür.
    "Das war die Idee eines holländischen Journalisten. Er hatte auch die Idee, dass wir Schafsfelle auf der Bühne tragen. Weil der Name Mongolen ein bisschen wild klingt und wir alle lange Haare und Bärte hatten. Zu der Zeit waren diese Art von Bandnamen ziemlich beliebt, zum Beispiel The Animals. Und es hat den Leuten gefallen."
    Musik: Artık Çok Geç
    Das war der Song "Artık Çok Geç" – die erste Moğollar-Single, veröffentlicht 1968. Der Titel des melancholischen Liebeslieds heißt übersetzt "Jetzt ist es zu spät". Den Durchbruch schaffen sie im selben Jahr mit dem Song "Ilgaz". Die psychedelisch flimmernde Orgel erinnert wohl nicht zufällig an die bekannte Animals-Version des amerikanischen Folksongs "House of the rising sun". Moğollar haben ihren Song "Ilgaz" nach den gleichnamigen Bergen im Norden der Türkei benannt.
    Musik: "Ilgaz"
    Das waren die Pioniere des Anadolu Pop Moğollar mit dem Stück "Ilgaz" aus dem Jahr 1968. Für Bassist Taner Öngür waren die 60er Jahre in der Türkei die besten, vor allem was das kulturelle Leben betrifft.
    "In den 60er-Jahren war die Kultur sehr lebendig. Nach einem Militärputsch 1960 wurden neue Gesetze erlassen. Das klingt absurd, aber dank dieser Gesetze war das kulturelle Leben frei und konnte sich entfalten. Für uns war das toll, wir haben in dieser Zeit angefangen und waren darüber sehr glücklich. Heute ist es nicht mehr so."
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    Kemal Küçükbakkal, Cahit Berkay, Emrah Karaca, Taner Öngür, Serhat Ersöz (v.l.n.r.) (Privat)
    1971 ging die Band nach Paris. Und zwar auf Einladung des Musikers Barış Manço, der zu dieser Zeit in der Türkei schon Superstar-Status hatte. In Paris nahmen Moğollar ihr erstes Album auf. Das ist eine Mischung aus Progressive Rock, türkischem Psychfolk und Jazz und trägt den etwas umständlichen Titel "Les Danses et Rythmes de la Turquie d'hier á aujourd'hui". Also "Die Tänze und Rhythmen der Türkei von gestern bis heute" - allerdings nur in Frankreich. In der Türkei hieß es schlicht "Anadolu Pop". Für das Album bekam die Band den wichtigsten französischen Musikpreis - den Grand Prix du Disque – den zuvor schon Jimi Hendrix und Pink Floyd bekommen hatten. Auf der Platte ist auch das Stück ‘Haliç'te Güneşin Batışı’, das Jahre später der legendäre Hiphop-Produzent J Dilla samplet, für sein Album "Welcome to Detroit".
    Musik: "Haliç'te Güneşin Batışı"
    Nach dem Erfolg ihres Debüts in Frankreich kehren sie in die Türkei zurück und spielen dort in ausverkauften Hallen. Weil sie keinen festen Sänger haben, arbeiten sie mit anderen Größen der türkischen Musikszene zusammen, wie dem schon erwähnten Barış Manço, der großen Folksängerin Selda Bağcan und Cem Karaca.

    Comeback in Istanbul

    "Es war so: Cem Karaca und Moğollar. Er war der Sänger und wir waren die Band, aber wir haben zusammen komponiert und eine Platte gemacht. Sein Sohn Emrah Karaca arbeitet heute mit uns zusammen als Sänger. Cem ist 2004 gestorben und Emrah hat bei uns angefangen."
    Hier sind Cem Karaca & Moğollar mit ihrem 73er Song "Obur Dünya" – Andere Welt.
    Musik: Cem Karaca & Moğollar - "Obur Dünya"
    Musik: Barış Manço & Moğollar - "İşte Hendek İşte Deve"
    1975 und 76 erscheinen noch zwei weitere LPs, dann löst sich die Band auf. Die politische Situation wird zunehmend schwieriger und nach einem erneuten Militärputsch 1980 wird Musik teilweise sogar verboten. Die Bandmitglieder gehen ins Exil nach Frankreich und Deutschland und verfolgen andere musikalische Projekte. Bis 1992 ein Illustrator der Zeitschrift Leman Unterschriften sammelt, um Moğollar zu überzeugen wieder gemeinsam Musik zu machen – mit Erfolg: mehrere tausend Menschen beteiligen sich. 1993 feiern Moğollar mit einem Konzert in Istanbul ihr Comeback.
    "Wir haben ein Album aufgenommen "Moğollar 94", dann haben wir viele Konzerte gespielt. Es war sehr erfolgreich in dieser Zeit und es hat uns Kraft gegeben, weiterzumachen. Bis heute."
    Auf dem Album ist unter anderem der Song "Dinleyiverin Gari", der sich mit einem berüchtigten Korruptionsskandal der damaligen Zeit auseinandersetzt. Heute ist das Stück Höhepunkt jedes Moğollar-Konzerts.
    Musik: "Dinleyiverin Gari"
    Der Song "Dinleyiverin Gari" war das, eingespielt zum ersten Mal 1994, aber diese Version hier ist noch nicht ganz so alt. Sie stammt vom neuen Doppelalbum "Anatolian Sun", das Moğollar im letzten Jahr aufgenommen haben. Und zwar im Direct-to-Disc-Verfahren, bei dem die Musik während der Performance direkt ins Master geschnitten wird.

    Neue Aufnahmen mit Neuem Verfahren

    "Das britische Label Night Dreamer hat uns gefragt, ob wir einige unserer Songs neu aufnehmen wollen, im Direct-to-Disc-Verfahren. Das ist ihre Spezialität. Wir sind also nach Haarlem in die Niederlande gefahren und dort ins Studio gegangen. Das war ein interessantes Experiment für uns, weil man nach der Aufnahme nichts mehr ändern kann. Den Mix muss man vorher machen. Wir haben vier Songs hintereinander gespielt, immer mit fünf Sekunden Pause dazwischen. Wenn im vierten Song einer etwas falsch spielt, muss man wieder von vorne anfangen. Es war nicht so einfach, aber es klingt sehr gut."
    Das kann man wohl sagen und Moğollar zeigen hier ihr ganzes Können als Ensemble. Einer ihrer neu aufgenommenen Songs ist "Iklığ" mit pulsierendem Bass, einem tranceartigen Groove und dem durchdringenden Sound der dreisaitigen Kabak Kemane, dem ältesten türkischen Saiteninstrument, das Cahit Berkay spielt.
    Musik: "Iklığ"
    Auf "Anatolian Sun" spürt man die Energie der Musiker, die fünf intensive Tage im Studio verbracht haben.
    "Am ersten Tag haben wir Soundcheck gemacht und dann an jedem Tag eine Seite der Platte aufgenommen. Und es hat ganz gut funktioniert, wir spielen ja sehr viel live. Natürlich nicht während der Pandemie, aber 2019 haben wir sehr viele Konzerte gegeben."
    Der warme analoge Sound verstärkt das Organische, das im besten Sinne Menschelnde der Platte. Hier sitzen echte Profis, die auch noch großen Spaß bei ihrer Arbeit haben. Kollege Murat Ertel von der Band BaBa Zula hat das Album produziert und ihm einen frischen Anstrich verpasst.
    Musik: "Gel Gel"
    "Anatolian Sun" verdeutlicht eindrucksvoll, warum die Band mit ihrem Psych-Rock so einen hohen Stellenwert in der türkischen Musikgeschichte hat. Das Album macht aber auch ohne den historischen Hintergrund sehr viel Spaß.
    Deshalb gibt‘s jetzt zum Ende dieses Spielraums noch ein Stück von der Platte: "Düm Tek". Das ist mit seinen polternden Davul-Drums und der angezerrten E-Gitarre ein ungestümer Trip und man wünscht sich glatt, man hätte noch irgendwo ein mottenlöchriges Schaffell herumliegen.
    Musik: "Düm Tek"