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Documenta-Chef Buergel: Wir wollen keine Hitparade der Kunst

Der Leiter der "documenta 12", Roger Buergel, hat die Liste der 113 Künstler bekannt gegeben, die von Samstag an ihre Werke 100 Tage lang ausstellen werden. Bei der Auswahl habe es keine eineutigen Kriterien sondern "ganz, ganz viele" gegeben, sagte Buergel. Zugleich lehnte er den Anspruch ab, mit der Documenta "eine Art landwirtschaftlicher Leistungsshow" zu präsentieren.

Moderation: Stefan Koldehoff | 13.06.2007
    Stefan Koldehoff: Alle fünf Jahre blickt die Kunstwelt nach Nordhessen, weil hier seit 1955 die Documenta stattfindet. Die Weltausstellung der Kunst nennen sie die einen, die anderen sprechen vom Museum der einhundert Tage. Und ganz gleich, welcher Deutung man sich anschließen mag, der Tag, an dem zum ersten Mal zu sehen ist, was zu sehen ist, dieser Tag wird jedes Mal mit Spannung erwartet. Dieser Tag ist heute, deswegen senden wir live vom Platz vor dem Museum Fridericianum in Kassel.

    Roger M. Buergel heißt diesmal seit seiner Nominierung im Dezember 2006 der künstlerische Leiter der 12. Documenta, Ruth Noack ist die Kuratorin der Documenta. Rund 500 Kunstwerke von, so heißt es offiziell, 113 Künstlern haben die beiden nach Kassel geholt. Das ist weniger als vor fünf Jahren. Trotzdem hat man, wenn man durch die verschiedenen Ausstellungsorte geht, auf die wir später noch zu sprechen kommen werden, nicht das Gefühl, es sei leer an diesen Orten.

    Herr Buergel, vielen Dank, dass Sie an einem wahrscheinlich sehr stressigen Tag die Zeit gefunden haben, zu uns in den Ü-Wagen zu kommen. Diese Kunstwerke, diese rund 500, von 113 Künstlern, was waren die Kriterien? Kann man das überhaupt sagen? Nach was haben Sie ausgewählt, was nach Kassel eingeladen wurde?

    Roger M. Buergel: Nein, es gibt keine eindeutigen Kriterien. Es gibt ganz, ganz, ganz, ganz viele. Ich glaube, man kommt der Sache am nächsten, wenn man sich eine Ausstellung wie einen Organismus vorstellt, wo man beginnt mit gewissen Überlegungen und wo man aber auch, wenn das Ganze an Fahrt gewinnt, so souverän sein muss, diese Überlegungen zu revidieren. Das heißt, dieser ganze Prozess verändert seine Gestalt, und es kommen halt Arbeiten dazu, aber es fallen auch immer Arbeiten weg, bis am Ende ein Bild entsteht, was wir halt für verbindlich halten.

    Koldehoff: Die Erwartung, die es an die Documenta alle fünf Jahre gibt, ist, sie muss den Stand der Dinge in der Kunstwelt dokumentieren, es muss eine Art Abbild der Gegenwartskunst sein. Sie und Frau Noack haben recht früh gesagt, mit uns nicht, das sehen wir gar nicht ein. Was ist Ihr Konzept stattdessen gewesen, was wollten Sie erreichen?

    Buergel: Ich habe mich immer dagegen gewehrt, die Documenta als das künstlerische Äquivalent zu so einer Art landwirtschaftlichen Leistungsshow zu sehen. Mir ging es tatsächlich immer darum oder geht es auch in Zukunft darum, Menschen zu verführen, zu sehen, sich einzulassen, sich Beziehungen hinzugeben, also sich auf diesen ganzen Prozess der ästhetischen Erfahrung zu konzentrieren. Das ist etwas, was einfach auch sehr, sehr viel Zeit und sehr, sehr viel Ruhe braucht und wo uns die Kunst unterstützt, einfach unser eigenes Verhältnis auch zur Umwelt zu befragen, zu betrachten, mit Muße zu besehen und eventuell auch zu ändern. Also das ist das, was mich interessiert. Das heißt, mir geht es eigentlich eher um einen Raum für die Sinne als jetzt um eine Hitparade.

    Koldehoff: Und für eine Betrachtungsweise, die eine nicht verbildete Betrachtung auf Kunst ermöglicht?

    Buergel: Ich glaube, den Aspekt der Verbildung, den trägt jeder in sich. Und ich glaube auch, die einzige Rettung, die man hat, wenn man auf Dinge mit frischen Augen blicken will, ist, dass man sich tatsächlich auch zu dieser Disziplin zwingt. Ich denke mir, dass einem eine Ausstellung das schmackhaft machen kann. Sie kann sich selber frisch geben. Und das ist auch was, was wir immer probiert haben. Aber die Ausstellung gelingt nur, wenn das Publikum auch dazu bereit ist, sich darauf einzulassen, das heißt, auch wirklich daran zu arbeiten.

    Koldehoff: Sie haben im Vorfeld auch von einem Bildungsprojekt gesprochen, das die Documenta sein könne. Was für eine Bildung kann das sein?

    Buergel: Ich glaube schon, dass es bei Documenta oder bei Kunst insgesamt um so was wie eine intelligente Evolution geht, also ich glaube, dass es darum geht, Komplexität zu lernen. Es geht darum, Unentschiedenheit auszuhalten, also diese ganzen Dinge zu tun, mit denen Menschen gewöhnlich Schwierigkeiten haben, weil sie immer irgendwas identifizieren wollen, also entweder ins Herz schließen oder verwerfen. Und Bildung in diesem Sinne heißt, wie ich das schon gesagt habe, sich auf Sachen einzulassen, also sich auch mal in Räumen zu bewegen, die sich nicht identifizieren lassen.

    Koldehoff: Und das ist diese Unentschiedenheit, die Sie meinen, die man aushalten können muss? Nicht zu sagen, ist gut, ist nicht gut, hat einen roten Faden, hat keinen roten Faden. Man könnte es auch als negatives Kriterium ins Auge fassen, Unentschiedenheit. Da bezieht einer keine Position. Was antworten Sie solchen Kritikern?

    Buergel: Das Ganze ist, denke ich, nicht so schematisch. Ich glaube auch nicht, dass es um die Unentschiedenheit als Glück oder als Dauerlösung geht. Da haben Sie vollkommen Recht, es kann sehr, sehr leicht beliebig werden. Natürlich geht es erst mal darum, dass man sich seinen Kanon an Werten, Vorstellungen, Gewohnheiten abgewöhnt und dass man auch mal lernt, sich radikal von außen zu betrachten, dass man auch auf die eigenen Bedingtheiten kommt zum Beispiel. Aber das ist eben auch nur ein Durchgangsprozess, um einfach zu einem anderen Blick auf die Welt zu gelangen. Und das steht dann tatsächlich am Ende. Das heißt, am Ende steht sehr wohl eine Präzision, wo ich sagen kann, das und das ist meine Vorstellung.

    Koldehoff: Die Ausstellung ist in vielen Bereichen sehr schön. Ein Wort, das auch häufig negativ konnotiert ist, was ich jetzt aber gar nicht so meine. Wenn man zum Beispiel hier nebenan ins Fridericianum geht, dann kann man die Werke dort als eine Hommage an die Form der Linie beispielsweise sehen. Welche Rolle spielt Schönheit in Ihrem Konzept?

    Buergel: Eine ganz große, wobei ich davon ausgehe, dass Schönheit nichts ist, was den Dingen selbst innewohnt. Also ich glaube nicht, dass eine Cartier-Uhr schön ist oder eine Gucci-Handtasche, sondern Schönheit ist ein Akt, also so, wie man das auch sagt, dass er im Auge des Betrachters liegt. Das heißt, es ist eine Besetzung, das ist etwas, was wir Dingen zuerkennen. Und ich glaube, dass es auch zur kuratorischen Pflicht gehört, den eigenen liebenden Blick auf Dinge mit auszustellen. Ich glaube, dass das eine ganz wichtige Voraussetzung ist für Leute, sich dann auch selber mit einer Ausstellung zu identifizieren.

    Koldehoff: Was wünschen Sie demjenigen, der nach Kassel kommt, die Documenta sieht und irgendwann wieder wegfährt?

    Buergel: Sehnsucht zu bleiben, Sehnsucht zurückzukehren.

    Koldehoff: Und nach diesen 100 Tagen auch noch was zu behalten, oder ist nach den 100 Tagen in Anführungsstrichen "einfach Schluss"?

    Buergel: Nein, ich denke mir, dass von der Documenta, und das ist auch relativ unabhängig davon, was ich denke oder nicht denke, Impulse ausgehen. Man kann in bestimmten Bereichen exemplarisch arbeiten, etwa im Bereich der Vermittlung. Man kann, so wie wir das versuchen, Vermittlung anders denken, also wo Vermittlung jetzt nicht mehr nur Erklärung von Bedeutung ist, sondern tatsächlich die Leute rauskitzelt und motiviert, also sich jetzt an so was wie einer Interpretation auch zu beteiligen, also den Mund aufzumachen, nicht zum Konsum gedrängt zu werden, sondern wirklich sich zu beziehen. Und wenn das nachhaltige Wirkung haben sollte, dann würde mich das freuen.

    Koldehoff: Roger M. Buergel, vielen Dank. Der künstlerische Leiter der Documenta 12, die heute in Kassel vorgestellt wurde.