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Dschungelcamp
Versuchsstation für Menschlichkeit

Eine Reality-Show inmitten von Buschbränden - ein Skandal? Macht euch locker, rät unser Kolumnist Arno Orzessek. Für ihn ist die Sendung ein zähes Ringen um ein bisschen zivilisatorischen Fortschritt gegenüber den Anfängen solcher Unterhaltungsshows.

Von Arno Orzessek | 15.01.2020
Die Moderatoren von der RTL-Sendung "Dschungelcamp".
Sonja Zietlow und Daniel Hartwich moderieren auch Buschbrände gekonnt weg (dpa)
Alle Jahre wieder das Gleiche: Kaum zeigt RTL das Dschungelcamp, schießen die moralischen Zeigefinger durch die Decke. User Gandalf 123 etwa behauptet im Netz: "Wer sich das in 2020 gibt, hat die Kontrolle über sein Leben verloren."
Hey Leute, macht Euch mal locker! Nehmt das Dschungelcamp bitte als das, was es ist: Als ein zähes Ringen um ein bisschen zivilisatorischen Fortschritts gegenüber den Anfängen solcher Unterhaltungsshows. Und kein Wettrennen um den "Grüner Drehpass" für umweltverträgliche Film-Produktionen oder sonstige Zertifikate politischer Korrektheit.
Dschungelcamp als modernes Kolosseum
Kulturhistorisch steht das RTL-Camp ja in der Tradition des antiken Kolosseums. Und da muss man wissen: Damals haben wilde Tiere Menschen verspeist. Im Dschungelcamp verspeisen zwar wilde Menschen Tiere - aber nur ganz kleine! Also keine artgeschützten Koalas oder Beutelteufel, sondern Insekten, Kröten, Würmer und so, vielleicht mal ein junges Krokodil, evolutionäres Kroppzeug halt.
Und jetzt kommt's: In der aktuellen Staffel wurde - es brauchte nur der Nachhilfe von Tier-Schützern - sogar der Lebend-Verzehr abgeschafft! Was im Kolosseum umgekehrt bedeutet hätte: Aas für die Panther. Unmöglich! Die römische Regierung wäre sofort rausgewählt worden. Käfer und Spinnen, serviert mit Schweine-Penissen – alles ist im Camp jetzt mausetot, noch bevor die Camper ihre Zähne dreinschlagen.
Trotzdem nicht fein, mosern die üblichen Bedenkenträger. Denn unweit des Camps kommen lebendige Tiere und Menschen in den Buschbränden um. Kenner leugnen das nicht. Sie erkennen jedoch umso klarer die Raffinesse der Reality Show. Und das nicht nur, weil das Lagerfeuer dort jetzt mit Gas befeuert wird - nein.
RTL setzt unser Würgen ins Bild
Im Kolosseum wurde per Blutbad an Löwe, Elefant und Co. die Ausrottung der Wildtiere in weiten Landstrichen Nordafrikas gefeiert, die der globalen Nahezu-Ausrottung voranging. Wenn die RTL-Camper an ihrem Ekelessen würgen, ist das nichts anderes als eine reuig-reflexive Geste, die unsere Buße für die Untaten an den Tieren packend symbolisiert.
Wir finden es doch alle zum Kotzen, was wir der Fauna antun - aber nur RTL setzt unser Würgen wirklich ins Bild. Das zugleich eine dezente Kritik an der These übt, Insekten seien das Lebensmittel der Zukunft. Außerdem hat Camp-Moderatorin Sonja Zietlow unterstrichen, dass die Australier ihr eigenes Dschungelcamp ohne Skrupel-Exzesse zeigen, und wollte wissen: "Sollten wir betroffener sein als die Betroffenen?"
Eine ethisch elementare Frage, die nur Immanuel Kant korrekt beantworten könnte, und die sich auch nur Zietlow, laut Wikipedia mit einem IQ von 132 bewaffnet, überhaupt ausdenken kann. Schlau verschweigend, dass das australische Dschungelcamp in Südafrika gedreht wird.
Zudem, liebe Sportsfreunde: Warum sollte das kulturell wertvolle Camp abgesagt werden, wenn die profanen Australian Open in Melbourne bald ihre Tore öffnen dürfen?
Jesus hätte prima ins Camp gepasst
Immerhin ist auch ein echter Ex-Bundesminister, nämlich der 66-jährige Günther Krause, ins Camp eingezogen. Und zwar ohne Widerstand seiner guten Freundin, der Kanzlerin. Angela Merkel habe Verständnis dafür, dass dieses Format von mir benutzt werde, um Aufklärung zu betreiben, erklärte Aufklärer Krause, der leider gleich als erster wieder raus musste - das Herz zickte. Doch RTLs Versuchsstation für Menschlichkeit bleibt glücklicherweise auf Sendung.
Uns tränten die Augen, als Sven Ottke, einst Box-Weltmeister, jetzt Hobby-Seelsorger, der leidgeprüften Danni Büchner zusprach: "Du musst erst dich selber lieber, dann kannst du andere lieben". Eine Variation des zweiten Gebots Gottes, das Jesus damals den Schriftgelehrten unter die Nase gerieben hat: "Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst."
Das beweist noch nicht, dass Sven Ottke Gott ist. Wohl aber, dass Jesus prima ins Dschungelcamp gepasst hätte. Also, Ihr Moralapostel: Schaltet RTL ein! Denn unsere Zivilisation schreitet fort.
Arno Orzessek. Seit 1966 Arbeiter- und Bauernsohn, geboren in Osnabrück. Studierte in Köln Philosophie und anderes. Dank "unverlangt eingesandt": SZ- und DLF-Autor; auch: zwei Romane. Lebt seit 2000 rundfunktreu in Berlin. Angesichts der Unordnung der Dinge thematisch unspezialisierter Stoffwechsel-Spezialist. Welt-Erfahrung per Motor- und Rennrad, plus Lektüre. Radio-Ideal: Geistvolles in sinnlicher Sprache; Ziel: Gedankenübertragung; Methode: Arbeit am Text; Verfassung: der Nächste bitte!