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Edgar-Reitz-Doku
Der andere Heimatbegriff

In "800 Mal einsam" porträtiert Anna Hepp einen Wegbereiter des Neuen Deutschen Films: Edgar Reitz. Der Regisseur hat mit seinem "Heimat"-Zyklus eine große Fernseh- und Kinoerzählung vorgelegt, deren Heimat-Begriff sich fundamental von dem der neuen Rechten unterscheidet.

Von Hartwig Tegeler | 02.03.2020
Edgar Reitz vor alten Filmrollen in einem Filmstudio
Reflektiert das Werk Edgar Reitz': die Dokumentation "800 Mal einsam" (imago / TSJPG)
Der Mann wirkt klar, reflektiert, manchmal wütend, nie wehmütig, getragen von einer großen Erfahrung über das Kino und das Filmemachen.
Edgar Reitz: "Das, was der Film erzählt, ist schließlich immer das Vergehen der Zeit und das Ende der Einstellungen. Und deswegen ist der Abschied das schönste Filmthema, das es gibt. Aber es gibt einen Trost: Wir Filmemacher können die Zeit aufbewahren."
Ein extrem dorniger Weg zum "Neuen Deutschen Film"
In "800 Mal einsam – Ein Tag mit dem Filmemacher Edgar Reitz" porträtiert die Dokumentarfilmerin Anna Hepp den Regisseur, der einer der Initiatoren des legendären Oberhausener Manifests war und damit mit Wenders, Kluge, Herzog und Fassbinder zu den Wegbereitern des "Neuen Deutschen Films" gehörte. Was in der Rückschau von Edgar Reitz, inzwischen ist er Ende achtzig, ein extrem dorniger Weg war:
Edgar Reitz:"Es gab Phasen in meinem Leben, wo ich mich gefragt habe, welcher Unglücksstern hat mich einen Filmemacher werden lassen. Es gab ganze Jahrzehnte, wo mir das nicht ein bisschen Glück gebracht hat."
Anna Hepp und Edgar Reitz sind in diesem Porträt-Film zu sehen vornehmlich in der Essener "Lichtburg", einem Kino, auf dessen Leinwand in der Doku immer wieder Ausschnitte aus den Filmen von Edgar Reitz zu sehen sind. Anna Hepp versucht in kurzen Sequenzen und leider sehr bemüht die frühen Werke des Filmemachers formal zu adaptieren. Trotzdem ist "800 Mal einsam" ein spannender Film, weil er Edgar Reitz den Raum gibt, sich und sein Werk zu erinnern und zu reflektieren.
Das "Schneider von Ulm"-Desaster
Vom Aufwachsen im Hunsrück, den Bemühungen des Vaters, den jungen Edgar von einer Künstler-Karriere abzuhalten, dem kritischen Diskurs über "Papas Kino", das die junge Generation dann in den 1960ern entfachte, bis zum Desaster mit dem "Schneider von Ulm", Edgar Reitz' Film von 1978. Eine vernichtende Kritik im "Spiegel" richtete den Film quasi hin. Er sei "biedermeierliches Plüschkino mit politischen Pflichtvolten". "Der Schneider von Ulm" wurde nach kurzer Zeit nicht mehr im Kino gespielt. Reitz war ruiniert.
"Ich kenne die Lebensgeschichte meiner Großeltern gar nicht"
Und doch lag in diesem Scheitern der Kern seines größten Erfolges, wie Edgar Reitz in "800 Mal einsam" erzählt. Denn nun wandte sich der gebürtige Hunsrücker der Geschichte der eigenen Familie zu.
Edgar Reitz: "Vor allem interessierte mich die Frage: Wie geht der Weg aus dem bäuerlichen Milieu – Handwerker-, Bauern-Milieu – im Hunsrück zu einem Filmemacher. Weil, ich merkte auf einmal, ich kenne die Lebensgeschichte meiner Großeltern gar nicht wirklich."
Das Kompositionsprinzip: die Lücken mit Phantasie, mit einem "Wie hätte es sein können" ausfüllen. Das war der Ausgangspunkt des "Heimat"-Zyklus', dessen erster Teil ab 1984 im Fernsehen lief. Zwölfteilig. Basierend auf einem Heimatbegriff, der nichts mit dem der Nazi- oder der Nachkriegszeit zu tun hatte.
Edgar Reitz: "Meine Generation lebte ganz besonders abgewandt von jeglichem Nationalismus oder von jeglicher politischen Heimatbezogenheit."
Heimat: "Ein Gefühl von Verlust"
Die Aktualität des Reitzschen Heimat-Begriffes wird heute, in diesen Tagen, deutlicher denn je. "Heimat ist immer auch ein Gefühl von Verlust," hat Edgar Reitz einmal gesagt.
In "Die andere Heimat", dem Kinofilm von 2013, dem Abschluss des Zyklus', der zurückführt in die Zeit des deutschen Vormärzes in den 1840er Jahren, sehen wir die beladenen Fuhrwerke der Deutschen, die auswandern. Eine Flucht vor politischer Enge und wirtschaftlicher Not. Auf der Suche nach einem neuen, lebenswerten Leben. Und dies ist der Dank, den Edgar Reitz Jakob Simon, der Hauptfigur in "Die andere Heimat", an seine Mutter richten lässt: "So mag ich ihrer Weisheit verdanken, mich nicht fangen zu lassen von denen, wo am Boden kleben."
Wenn man Edgar Reiz im Porträt-Film "800 Mal einsam" zuhört, dann ist in seinem Begriff der Heimat immer enthalten die Vorstellung von Weggehen und Wiederkommen. Heimat, ein dynamischer, nie starrer Prozess.