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Eine Pionierin des Animationsfilms

Bei Trickfilm-Pionieren denkt man normalerweise an Walt Disney und seine unzähligen Werke. Doch der erste abendfüllende und vollkommen erhaltene Trickfilm der Filmgeschichte stammt aus dem Jahr 1926 und ist einer Dame namens Lotte Reiniger zu verdanken.

Von Helga Spannhake | 26.07.2012
    "Zu Pferde fliegt Lotte Reinigers Prinz Achmed als erster animierter Held in die Filmgeschichte herab."

    "Ein kunstvolles Arrangement von Figur und Landschaft, das 1926 seinesgleichen suchte."

    1899 erblickt Lotte Reiniger in Berlin das Licht der Welt. Ein Vortrag über die fantastischen Möglichkeiten des Trickfilms weist dem 15-jährigen künstlerisch interessierten Mädchen den beruflichen Weg. Ihr besonderes Talent zum Scherenschnitt macht sie zur Pionierin des Trickfilms: 1926 wird nach dreijähriger intensiver Arbeit der Silhouettenfilm "Die Abenteuer des Prinzen Achmed" fertig: Mit 66 Minuten der erste lange Trickfilm der Filmgeschichte betont Medienwissenschaftlerin Susanne Marschall die Bedeutung von Lotte Reiniger:

    "Sie ist die innovative Kraft in der Trickfilmtechnik mit ihrem Mann gemeinsam gewesen. Also Carl Koch und sie, die haben ja einen mehrstufigen Tricktisch entwickelt, mit einer Kamera oben drüber. Mit der man dann tatsächlich Dinge machen konnte, die erst zehn Jahre später mit Walt Disney in Verbindung gebracht werden heutzutage."

    "So ein mehrstöckiger Tricktisch und die Multiplankamera drüber erlauben es in die Tiefe zu inszenieren. Auf der zweidimensionalen Fläche erste 3D Effekte zu haben. Ebenen im Bild zu separieren und voneinander unabhängig zu bewegen. Also, das ist natürlich auch ganz großartig, wenn man sieht, wie sie Wasser animiert."

    Für nur eine Sekunde Film werden 24 Einzelbilder benötigt – Lotte Reiniger erinnert sich 1980 in einem Interview an den Aufbau für den Seesturm im Prinzen Achmed:

    "Auf einer Platte lag die Oberwelle. Dann kam eine Glasplatte auf der war das Schiff. Dann kam noch eine Glasplatte, auf der war die zweite Welle. Und eine Glasplatte war die dritte Welle und ich versuchte zwischen den beiden Glasplatten mit den Fingern das Schiff einigermaßen in der richtigen Haltung zu haben."

    Die ballett-, film- und theaterbegeisterte Lotte Reiniger verarbeitet in ihren Filmen immer wieder Märchenstoffe, Mythen und Opernlibretti, wie bei "Papageno" nach Mozart im Jahr 1935. Ihre Werke sind geprägt von Jugendstilästhetik, Expressionismus sowie einer besonderen Detailgenauigkeit. Bevor nicht eine komplette Szene im Kasten war, hörte sie nicht auf, so der Medienwissenschaftler Kurt Schneider:

    "Hätte sie sich auch nicht leisten können, weil sie am nächsten Tag gar nicht an der Stelle hätt ansetzen können. Also man musste das dann schon durchziehen, die Bewegung wenn eine Figur auf dem Tricktisch weiterbewegt wird, bis sie praktisch aus dem Rahmen wieder rausgelaufen ist. Also man kann da nicht einfach anhalten. Sonst würde es gar nicht stimmen, wenn man das dann später zum Bewegtfilm zusammensetzt. Da würde dann ein Sprung entstehen oder eine andere Lichtstimmung."

    1981 stirbt Lotte Reiniger 82-jährig in der Nähe von Tübingen. Ihr Nachlass wird im Stadtmuseum Tübingen verwahrt, aber ihre Filme sind vor allem bei Filmhistorikern im Ausland bekannt und beliebt. "Die Abenteuer des Prinzen Achmed" ist zum Beispiel über die weltweiten Goethe-Institute einer der am häufigsten ausgeliehenen Stummfilme.

    Das Trickfilmfestival in Malaysia wurde mit einer Würdigung Lotte Reinigers eröffnet und auch Susanne Marschall hat mit ihrem Team die Lotte Reiniger Verehrung im Ausland erlebt:

    "Wir waren in Indien an einer Filmhochschule und haben den Achmed Film als Geschenk mitgebracht und mussten überhaupt nicht erklären, was das ist, weil schon beim ersten Bild, also als wir die DVD hochgehalten haben schon alle begeistert gesagt haben, oh Lotte Reiniger. Und das ist natürlich auch ganz spannend an der Sache: Wir entdecken jetzt jemandem hier in Deutschland neu, der hierher gehört, der aber auf der ganzen Welt bekannt ist, bekannter, zum Teil als bei uns."

    Und das obwohl Lotte Reinigers filmische Pionierarbeit bis heute direkten Einfluss nimmt auf die Filmindustrie. Die Medienwissenschaftlerin Rada Bieberstein nennt prominente Beispiele:

    "Der vorletzte Harry Potter Film zum Beispiel greift Scherenschnitt auf und setzt das dann in 3D um. Das sind die dreieinhalb Minuten über das Märchen der drei Brüder. Aber auch zum Beispiel Marjane Satrapi in Persepolis, das ist auch eine Art, eine Ästhetik, die eindeutig auf Lotte Reiniger zurückgreift."

    "Und so flieht der Held aus dem schwülen roten Harem in die Kühle der blauen Nacht."


    Weitere Information:
    Der einstündige Dokumentarfilm der Tübinger Medienwissenschaftler über Lotte Reiniger wird der Gesamtausgabe, der bei absolut Medien erschienenen DVD Arte Edition hinzugefügt und wird damit voraussichtlich ab Oktober im Handel erhältlich sein. Außerdem plant der TV Sender Arte an Weihnachten eine Ausstrahlung des Werks.

    Weitere Informationen zu Lotte Reiniger finden Sie im Internet unter
    www.lottereiniger.de
    Die Medienwissenschaftler Kurt Schneider, Rada Bieberstein, Susanne Marschall vor dem Plakat des Dokumentationsfilms.
    Die Medienwissenschaftler Kurt Schneider, Rada Bieberstein und Susanne Marschall vor dem Plakat des Dokumentationsfilms. (Universität Tübingen)