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Elendswelt in schickem Glanz

Alexandre Dumas Roman "Die Kameliendame" wurde 1852 in Paris uraufgeführt. In den folgenden 30 Jahren folgten zahlreiche weitere Bearbeitungen. Nun hat sich das Odéon-Theater in Paris des Stückes wieder angenommen und die traurige Liebesgeschichte mit ihrem tödlichen Ende von einem deutschen Theater-Wüterich inszenieren lassen: Frank Castorf aus Berlin.

Von Eberhard Spreng | 09.01.2012
    Über einem verbauten Haus, das in einer lateinamerikanischen Favela stehen könnte, erhebt sich eine Leuchtreklame: "Anus Mundi" steht da und "Global Network". Dieser Ort befindet sich also im globalen Irgendwo und ist zugleich als Arsch der Welt geografisch-erotischer Mittelpunkt der Erde. Oben auf dem Dach ist ein Hühnerverschlag, im dem sich die kranke Margerite Gautier umringst von kreischenden Weibern im Stroh wälzt und unten, da wo das Betonskelett des nicht fertig gebauten Hauses das chaotische Dekor stützt, rennen Jean-Damien Barbin und Vladislav Galard als Alexandre und Armand Duval zwischen der Hafersuppe auf dem dampfenden Herd und dem Abort hin und her. Frank Castorf beginnt da, wo er immer begonnen hat: In grellem Aktionismus und einer satirischen Zuspitzung des Plots.

    Aber die aus diversen Holzverschlägen zusammengezimmerte Elendswelt hat auf der Drehbühne des Odeón-Theaters eine schicke, glatte Rückseite: Hier gibt es leuchtende Glasflächen wie auf einer Showbühne. Und hier ist der bevorzugte Auftrittsort für die aus Berlin mitgebrachte Ruth Rosenfeld, die innerhalb eines aus Eric Satie, Police, Ravel, Verdi, Mozart und weiteren musikalischen Collagesplittern zusammenmontierten Soundtracks einige bravouröse Soli bestreitet.

    Über der Showbühne ist ein moderner Werbescreen angebracht: Silvio Berlusconi und Muhammad Al Ghaddafi liegen sich da in den Armen, "Niagra – Forza Forever" steht darunter. Auf dieser zweiten Bühne, auf der die soziale Wirklichkeit keine und die schönen Illusionen große Bedeutung haben, tritt ein allegorisches Fantasiekerlchen auf: Mit schwarzer Gesichtsmaske und Insektenfühlern erklärt er in herrlich debilem Amerikanisch, worum es in dem Stück gehen soll:

    Außer der Behauptung von ein paar "Special Feelings" ist im modernen Showbiz von der romantischen Liebesgeschichte mit der Edelnutte Marguerite nichts mehr geblieben. Diese szenische Fußnote wirkt aber auch ein wenig wie Castorfs Entschuldigung dafür, dass aus dem Prostituiertenporträt um die Kameliendame in seiner ersten Arbeit in Frankreich viel weniger Funken schlagen als aus dem Schauspielerporträt "Kean" von Alexandre Dumas dem Älteren, das Castorf vor gut drei Jahren in Berlin inszeniert hatte. Auch Textbeigaben aus dem Werk des Erotomanen und Stierkampffetischisten Georges Bataille helfen dem forcierten Eklektizismus der Kameliendame nicht weiter, in zu viele diverse Richtungen schießen die Assoziationen.

    Als hilfreicher erweist sich Castorfs Blick auf die kolonialistisch beeinflusste Familiengeschichte der Dumas und des Autors, von Alexandre Dumas dem Jüngeren also. Mit Heiner Müllers "Der Auftrag" kommt so der lange Abend zur Kameliendame in einen deutlich interessanteren Dialog. Und dafür hat Frank Castorf wieder die von Videokameras eingefangene private Innenperspektive eingenommen: Armand und Marguerite liegen im Bett und schauen ungläubig verdutzt auf die plötzlich eindringenden Protagonisten des Müllerschen Auftrags. In das kurze private Glück ist die Globalisierung eingebrochen, der Rassismus und der Export von Konflikten.

    Debuisson, Sasportas und Galoudec, Emissäre des revolutionären Frankreich, sollen bei Müller in Jamaika einen Sklavenaufstand inszenieren aber bevor das überhaupt ins Werk gesetzt werden kann, ist im Heimatland die Revolution längst tot. Bei Castorf sitzen die nun zu Spießern gewordenen Protagonisten des romantischen Romans auf zerbröselnden Plastikstühlen vor einer Leinwand, auf der die Schwarz-Weiß-Filmaufnahmen einer gruseligen Mission in Lateinamerika gezeigt werden: Die Nachfahren der Azteken werden da von katholischen Priestern zu einer Prozession angehalten, zum Bergaufrutschen auf Knien. Passion oder Revolution: Der Zivilisationsexport Frankreichs ist eine Katastrophe.

    Mit sichtlicher Freude exekutieren die französischen Akteure den für sie völlig unbekannten sportlichen und körperbetonten Regiestil. Castorftheater und Frankreich, soweit die frohe Botschaft, sind kompatibel. Auch Frankreichs Starschauspielerin Jeanne Balibar hat sich begeistert in den Castorftrubel gestürzt und für den ironischen Chaos-Eros die Beine breit gemacht. Eine "Kameliendame" ist dabei nicht herausgekommen, wohl aber, mit Dumas und Müller, ein deutsch-französischer Kolonialismus-Kommentar.