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Epische Ansichten von Seelen- und Stadtlandschaften

Miles Heller, der 28-jährige Protagonist von Austers neuem Roman gehört zu den Kindern des amerikanischen Wirtschaftsbooms. Doch 2008 wird er mit der US-Immobilien- und Bankenkrise in New York konfrontiert. Auster beschreibt die Hoffnungen und Sorgen von Menschen während der jüngsten Wirtschaftskrise des Landes.

Von Sacha Verna | 01.02.2013
    Paul Auster hat eine geheimnisvolle und eine gefällige Seite. Ist der amerikanische Schriftsteller in geheimnisvoller Stimmung, entstehen Romane wie "Reisen im Skriptorium". Darin sitzt ein alter Mann in einem dunklen Zimmer und sinniert über die letzten Dinge nach, wobei vielleicht weder die Dinge noch der Mann selber existieren. Der gefällige Paul Auster schreibt Romane wie "Die Brooklyn-Revue". Darin versuchen relativ real wirkende Figuren mit relativ realen Ereignissen fertig zu werden, seien es Scheidungen oder der 11. September.

    "Sunset Park" ist eines von Paul Austers gefälligen Werken. Es geht um Beziehungen, Traumata und Träume. Protagonist ist der 28-jährige Miles Heller, der sich seit seiner unglücklichen Rolle beim Tod seines Stiefbruders alles Schöne versagt und um der totalen Askese zu frönen, auch dem Studium und seiner Familie den Rücken gekehrt hat. Der Roman spielt 2008 hauptsächlich in Sunset Park, einem damals noch nicht verhipsterten Viertel Brooklyns, wo Miles mit drei Gefährten illegal ein verlassenes Haus bewohnt. Geschildert werden Miles' zögerliche Rückkehr in die Arme seiner Eltern und seine Liebe zu einem minderjährigen Nymphchen sowie, weniger ausführlich, die Lieben und Leiden von Miles' Bekannten.

    Der Erzähler weiß alles und scheint verlässlich zu sein. Das ist bei Paul Auster keineswegs selbstverständlich. Für ihn bedeutet oft erst der Tod des Autors den Anfang von allem. "Sunset Park" enthält kaum Dialoge, dafür epische Ansichten von Seelen- und Stadtlandschaften. In sich abwechselnden Kapiteln wird der Leser mit dem Innenleben der einzelnen Akteure vertraut gemacht und mit den Gegebenheiten vor Ort. Mit den Minderwertigkeitskomplexen von Miles' depressiver Mitbewohnerin Ellen etwa, die sich im Lauf der Geschehens vom hässlichen Entlein in einen schönen Schwan verwandelt. Man sitzt mit Miles' Vater Morris in Joe Junior's, einem Diner Ecke 6th Avenue und 12. Straße und studiert zum x-ten Mal das immer gleiche Menü.

    Tatsächlich befindet sich Joe Junior's an der Ecke der Dritten Avenue und der 16. Straße. Gleichwohl ist das Lokalkolorit seit je her eine Stärke von Paul Austers weltlichen Romanen. Mit einem seiner Bücher in der Hand lässt sich New York besser erwandern als mit manchem Reiseführer. Miles hat es besonders der Green-Wood-Friedhof angetan, der gegenüber seiner provisorischen Behausung in Sunset Park liegt. Man erfährt so manches über diese Ruhestätte John Steinbecks und Woodie Guthries und Henry Chadwicks, des Erfinders der Punktewertung im Baseball.

    Die Symbole der Vergänglichkeit sind so zahlreich in "Sunset Park" die Grabsteine auf besagtem Friedhof. Ein Freund Miles' betreibt eine Klinik für kaputte Dinge, in der er Röhrenradios und Kaugummiautomaten repariert. Miles arbeitet eine Weile als Entrümpler und fotografiert den Ramsch, den die Leute in ihren gepfändeten Häusern hinterlassen haben.

    Es ist das Jahr der amerikanischen Immobilienkrise und der untergehenden Großbanken. Der Zerfall prägt die Kulisse also auch auf ganz praktischer Ebene, womit Auster seinem Roman die nötige Dosis Zeitzeugenschaft verleiht. Die Bohème ist nicht mehr das, was sie einmal war. Miles und seine allesamt musisch behauchten Altersgenossen sind keine Revoluzzer mit luftigen Hoffnungen, sondern Kinder des Booms, die sich mit den Folgen des Bumms arrangieren. Sie sind weder für Ideologien noch für große Ideen besonders anfällig.

    Paul Auster ist ein an Borges, Calvino und Lacan geschulter Literat. Er pflegt die Verrätselung und fetischisiert den Zufall. Deshalb vermutet man bei ihm auch da Tiefsinn, wo keiner ist. Wie in "Sunset Park". Keine Frage bleibt hier offen, keine Unmöglichkeiten bedrohen das Regelwerk des Möglichen. Brav und in sauberster Prosa werden die Beziehungen zwischen Miles und seinem Papa, zwischen dem Kaputte-Dinge-Flicker und seiner Sexualität, zwischen Wünschen und Wirklichkeit aufgedröselt.

    Natürlich verzichtet Auster nicht ganz auf seine bevorzugten Motive. Es gibt Bücher im Buch und Schriftsteller mit Schreibblockaden. Es gibt Trivia und Filme, die zu Staub analysiert werden. Es gibt Suchende zuhauf, Suchende nach Verschwundenen und Verschwundenem und vor allem nach sich selber. Doch bemüht sich Auster wie ein Pyrotechniker in der Zwangsjacke darum, aus dünnem Stoff ein paar Funken zu schlagen: vergeblich.

    Am besten funktioniert Paul Austers Methode, wenn er seine geheimnisvolle und seine gefällige Seite zusammenbringt. Das hat er in den metafiktiven Krimis seiner New-York-Trilogie geschafft, mit der er Ende der 1980er-Jahre internationale Berühmtheit erlangte. Auster ist jetzt fünfundsechzigjährig und braucht sich nicht zu wiederholen. Genau das wurde ihm nämlich auch schon vorgeworfen. Aber den Fluch des Talents muss er akzeptieren: Solides Mittelmaß ist zu wenig von einem wie ihm.

    Paul Auster:
    Sunset Park. Roman. Aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz. Rowohlt Verlag, Reinbek 2012. 315 Seiten, 19.95 Euro