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Fernab der Sonne

Die Tiefsee ist eine Welt der bizarren Organismen. Viele von ihnen hängen nicht von der Sonne ab, sondern beziehen ihre Lebensenergie aus dem Meeresboden. Die Black Smoker wurden berühmt. Inzwischen weiß man, dass sie nicht die einzigen chemischen Lebenswelten sind: Schlammvulkane werden erforscht, Asphaltvulkane, Walkadaver. Und Lost City, eine bislang einzigartige lebendige Kulisse, auf die Tiefseeforscher erst vor kurzem stießen.

Von Dagmar Röhrlich | 21.03.2008
    "Als ich noch studierte, habe ich immer gedacht, dass all’ die guten Ideen schon gedacht und die tollen Entdeckungen schon gemacht worden sind. Wie sollte ich noch etwas Neues finden? Aber dann waren wir zur richtigen Zeit am richtigen Ort, und uns gelang diese wirklich bemerkenswerte Entdeckung."Zitat:" Wirklich zeigte sich da unter meinen Augen in Trümmern eine in den Abgrund versunkene Stadt mit eingestürzten Dächern, zerfallenen Tempeln, verschobenen Gewölben, zu Boden gestürzten Säulen, weiter hinaus lange Reihen zerfallener Mauern, große, verödete Straßen, ein ganzes versunkenes Pompeji, das Kapitän Nemo vor meinen Augen wieder ins Leben rief. Wo war ich? Ich wollte es um jeden Preis wissen, ich wollte reden, die kupferne Kugel, die meinen Kopf einkerkerte, abreißen. Aber der Kapitän Nemo hielt mich ab. Darauf hob er ein Stückchen kreideartigen Gesteins auf, trat an einen schwarzen Basaltfelsen und schrieb darauf nur das einzige Wort: Atlantis."

    Fernab vom Festland, wo sich der Atlantik öffnet und neue Meereskruste Europa und Amerika auseinanderrückt, erhebt sich das Atlantis-Massiv: höher als der Eiger, ein Viertausender in der Tiefsee. In der Nähe seines Gipfels liegt die "Verlorene Stadt": Lost City. In sanft gewellten Ebenen öffnen sich spektakuläre Höhlen. Schneeweiße Hochhäuser tauchen aus dem Dunkel auf, wie Kathedralen wachsen Türme kühn empor, Kristallvorhänge drapieren sich um ein Kliff.

    "Fernab der Sonne
    Bizarre Lebenswelten in der Tiefsee
    Ein Feature von Dagmar Röhrlich "

    Die Tiefsee ist das Reich des Schlamms. Felsen sind selten. Nur hin und wieder erhebt sich ein Seeberg aus der schier endlosen Ebene, dann gibt es wieder nur Schlamm, Tausende von Quadratkilometern nichts als grauer Schlamm – bis sich mitten in den Meeren ein weltumspannendes Gebirge erhebt: Schwarz und schroff steigen die mittelozeanischen Rücken aus dem Schlick.

    Dezember 2000. 30 Grad Nord, 42 Grad West. Seit Wochen kreuzt ein Forschungsschiff über einem submarinen Berg, ein paar Kilometer vom mittelatlantischen Rücken entfernt: Es ist das Atlantis-Massiv. Für diesen gewaltigen Felsbrocken, der aus der Tiefsee aufsteigt, interessieren sich Geologen seit ein paar Jahren. Denn oft sind Unterwasserberge Vulkane – nicht so dieser hier. Er besteht aus schwerem, grünem Peridotit, dem Gestein, aus dem der Erdmantel ist. Entstanden ist das Atlantis-Massiv an einer großen Störungszone, die den mittelatlantischen Rücken quer durchschlägt. Mantelgestein wird aus mehreren Kilometern Tiefe nach oben gezerrt – wie ein Teppich, den man unter einem Möbelstück hervorzieht, erklärt Deborah Kelley, während vor ihrem Bürofenster am Ozeanographischen Institut der University of Washington in Seattle Möwen auf den Wellen des Puget Sound dümpeln. Es regnet in Strömen, als die energische Geologin vom 4. Dezember 2000 erzählt:

    "”Tagsüber untersuchten wir das Atlantis-Massiv und die Störungszonen, die es begrenzen, mit dem Drei-Mann-Forschungs-U-Boot Alvin. Nachts zog das Schiff ein ferngesteuertes Kamerasystem hinter sich her, das die Flanken des Bergs filmte und fotografierte.""
    Die Fahrt war fast vorbei, erinnert sich Deborah Kelley. Der Betrieb an Bord war reine Routine – bis kurz nach Mitternacht:

    "An jenem Abend hatte eine Freundin von mir, Gretchen Früh-Green von der ETH-Zürich, im Kontrollraum Dienst. Sie überwachte die Kamerabilder, die über das Glasfaserkabel einliefen. Sie sah diese unglaublichen Bilder, die da von unten gesendet wurden. So etwas hatten wir noch nie gesehen. Es war klar, dass die Kamera gerade etwas Außergewöhnliches einfing, und sie rannte zu meiner Kabine. Wir liefen zurück und versuchten dann bis drei Uhr morgens möglichst gute Bilder von diesen Türmen zu bekommen. Jeder auf dem Schiff war aufgeregt. Wir hatten noch keine Ahnung, woraus diese Türme bestanden, aber wir wussten, dass das etwas war, was noch kein Mensch zuvor gesehen hatte."

    Als sich die Aufregung etwas gelegt hatte, wurde der einzige Tauchgang geplant, der auf dieser Fahrt zur Erkundung dieser neuen Welt noch möglich war. Fünf Stunden, in denen die besten Proben genommen und möglichst viele Bilder gemacht werden sollten. Der nächste Arbeitstag verlief normal, wenn auch unter Hochspannung – und am übernächsten Tag war es dann so weit:

    "Diese riesigen, absolut gigantischen weißen Türmen – wir fühlten uns, als führen wir durch einen Sequoia-Wald mit seinen kirchturmhohen Bäumen, denn in Alvin sitzt man wie in einem VW-Käfer, in dem man sich zu dritt auf die Vordersitze quetscht. Man kann nur sehen, was unmittelbar vor den Bullaugen ist. Wir sind ganz still geworden. Es war so vollkommen anders als alles, was wir je erlebt hatten - fast schon spirituell."

    Zitat: "Die großen Tiefen des Ozeans sind uns völlig unbekannt. Was geht in diesen Tiefen vor? Was für Geschöpfe leben 12- bis 15.000 Meilen unter der Meeresoberfläche, oder können da leben? Wie sind diese Tiere organisiert? Darüber kann man kaum eine Vermutung aufstellen."

    1870 schrieb Jules Verne in "20.000 Meilen unter dem Meer" nicht nur über das untergegangene mythische Inselreich Atlantis, sondern er wagte es auch, die Tiefsee mit Leben zu füllen. Ein Roman, kommentierten Forscher, die Phantasie eines Künstlers, die mit der Realität nichts zu tun hat! Wie soll es in der ewigen Finsternis der Tiefsee Leben geben? Wo doch so fernab der Sonne keine Pflanze wächst? Wo es eiskalt ist und der Druck jedes Lebewesen zerquetscht? Nur wenige Menschen zweifelten an diesem Dogma, denn wann immer ein gebrochenes Seekabel wieder vom Meeresgrund hoch geholt wurde, war es von Tiefseekorallen überkrustet. So ganz leer konnte es dort unten also nicht sein. Aber das wussten nur wenige. Dann kam das Jahr 1872, und der alte Lehrsatz stürzte, als die HMS Challenger in See stach: Die Wissenschaftler holten vom Tiefseeboden Seelilien hoch und Fische. Es gab Leben in der Tiefsee – wenn auch wohl nicht sehr viel!

    "”Als die Challenger-Expedition um die Welt fuhr, verwendeten die Forscher grobe Netze, mit denen sie nur große Tiere fangen konnten. Die sind selten, weil die Tiefsee ein sehr armes Ökosystem ist, das größtenteils von dem abhängt, was an organischer Substanz von der Meeresoberfläche über Tausende von Metern nach unten gelangt. Weil sich jedoch von dem, was da hinabrieselt, Myriaden von Organismen ernähren, landet in der Tiefsee wenig.""

    Tony Koslow ist Meeresbiologe an der Scripps Institution im kalifornischen La Jolla. Der Amerikaner, der in Australien viele Jahre an der Erforschung der Tiefsee gearbeitet hat, ist fasziniert von der Welt fernab des Lichts.

    "”Die Challenger-Expedition, die von den Briten durchgeführt wurde, brachte den Durchbruch. Sie war die erste Ozeanographische Expedition überhaupt. Damals haben wir gelernt, dass sich das Leben anpasst und dass es sich auch an die Bedingungen in der Tiefsee angepasst hat.""

    Dort unten leben Fische, die nur aus einem bedrohlichen Maul zu bestehen scheinen, mit Teleskopaugen, die selbst in der ewigen Nacht sehen. Seeigel durchfräsen den Boden, Schnecken ziehen kurvenreiche Spuren. Auf Seeanemonen hocken hummerrote Garnelen, die prüfend ihre Antennen ausstrecken, und Crinoiden fischen mit ihrem Tentakelkranz nach Plankton, das wie Schnee durchs Wasser wirbelt. Geschätzte zehn Millionen Tierarten schwimmen, krabbeln oder sitzen dort unten. Kein tropischer Regenwald hätte mehr zu bieten. Aber wer diese Vielfalt entdecken will, braucht Zeit und muss genau hinsehen: Die meisten Tiere sind klein. Der Grund: Kilometerweit von der sonnendurchfluteten Meeresoberfläche entfernt ist Nahrung knapp. Wer dort lebt, muss sich mit dem Bisschen zufrieden geben, was – an Myriaden von Fressern vorbei – noch unten ankommt. Zumeist jedenfalls. Denn es gibt auch bizarre Welten, die vor Leben bersten: die Black Smoker, Vulkanquellen am Meeresgrund, an denen sich Röhrenwürmer dicht an dicht im heißen Wasser wiegen oder unzählige Shrimps über schwarze Kamine klettern. Entdeckt wurde der erste 1977, durch den Geologen Jack Corliss. Tony Koslow:

    "Sie fanden damals tellergroße Venusmuscheln vor, die nach faulen Eiern stanken. Das kam vom giftigen Schwefelwasserstoff, und für die Forscher war es ein Rätsel, wie die Muscheln in einem Gift leben sollten, an dem sie normalerweise starben."

    "Es war eine Fahrt für Geologen und Geochemiker, denn niemand hatte erwartet, dass es für Biologen etwas Aufregendes zu sehen gäbe. Kurz nach seiner Rückkehr hielt Jack Corliss einen Vortrag über den neuentdeckten Black Smoker, und ich war fasziniert. Eigentlich arbeitete ich mit Bakterien aus der Antarktis, aber ich fragte, ob nicht ein paar Wasserproben für mikrobiologische Untersuchungen übrig wären – und es gab welche. Ich bekam Proben, die mit Tequila oder Rum konserviert waren, denn etwas anderes hatte es an Bord nicht gegeben. Und so atmete ich beim Filtern die wunderbaren Düfte ein…"

    Vor mehr als 30 Jahren erhielt John Baross diese Rum- und Tequila-Proben. Seitdem erforscht er an der University of Washington in Seattle Mikroben, die in extremen Ökosystemen am Meeresgrund leben. An den Black Smokern strömt bis zu 400 Grad heißes, sehr saures Wasser aus dem Boden: Es ist eingesickertes Meerwasser, das direkt von der vulkanischen Glut im Erdinneren aufgeheizt wird und das auf seinem Weg zurück Minerale zersetzt. So gelangt es dann als giftige Brühe voller Metallsulfide, Kohlendioxid und Schwefelwasserstoff an den Meeresboden. An diesen Quellen lebt eine der dichtesten Ansammlungen von Lebewesen überhaupt auf dem Planeten. Baross:

    "”Diese großen Röhrenwürmer schienen weder Mund noch Anus zu haben, und trotzdem ging es ihnen sehr gut. Wovon lebten sie? Wir hatten sehr schnell die Idee, dass die Bakterien all’ diese Tiere fütterten, denn im Wasser waren ungeheure Mengen an Schwefelwasserstoff, Methan und Wasserstoff, und so etwas bietet Mikro-Organismen eine wunderbare Lebensgrundlage, solange Sauerstoff da ist.""

    Die Mikroben lebten tatsächlich wunderbar von dem Wasserstoff, den sie aus dem Schwefelwasserstoff gewannen. Mit seiner Hilfe bauten sie aus dem Kohlendioxid Biomasse auf. John Baross:

    "”Die Entdeckung der Black Smoker änderte die Sichtweise der Biologen vollkommen – es gab Leben, das nicht von der Sonne abhing, sondern von der chemischen Energie, die aus der Erde selbst kommt.""

    Vor 1977 hatte das niemand geglaubt. Inzwischen wissen die Forscher, dass es viele solcher chemischer Ökosysteme gibt, an denen überall Spezialisten leben: dort, wo Methan aus Erdgaslagerstätten sickert, speist es in Schlammvulkanen und Methanseen Mikroben, selbst an Walkadavern ernährt es zahllose Organismen. Welches dieser Lebenswelten ist für John Baross das ungewöhnlichste? Der Mikrobiologe zögert nicht lange – es ist Lost City:

    "”In Lost City gibt es eine Kombination von Bedingungen, die wir noch niemals zuvor im Meer gesehen haben. Das Wasser, das da aus dem Boden quillt, ist heißer Rohrreiniger. Seine Temperatur liegt zwischen 40 und 90° C und es ist eine Lauge mit einem pH-Wert von zehn oder elf. So etwas sehen wir normalerweise nicht.""

    "”Diese Mikroorganismen ertragen Bedingungen, die zu den Extremsten überhaupt auf der Erde gehören, und sie leben dort recht glücklich.""

    Zitat: "Diese historischen Erinnerungen rief die Inschrift …in meinem Geist wach. Also hatte mich das seltsamste Geschick dahin geleitet, dass ich auf einem der Berge dieses Kontinents stand, die Ruinen aus der Urzeit der geologischen Epochen mit Händen zu berühren imstande war! Ach! Wie bedauerte ich diesen Mangel an Zeit!"
    Bei den Black Smokern sprudelt das heiße, saure Wasser aus massiven Schloten. Die Kamine in der Tiefsee erinnern an die schlimmste Zeit der Industrialisierung, als der schwarze Qualm der Fabriken die Sonne verdeckte. Die Kamine von Lost City hingegen gleichen Kathedralen, fragilen Steinmetzarbeiten aus Kalkstein. Das macht die Landschaft noch bizarrer. Die hochhaushohen Kamine beginnen klein, sehen aus wie Bienenstöcke. Sie sind noch zart, wie Spitze, ein Netzwerk, das von unzähligen Kanälen durchzogen wird. Eine Berührung, und sie zerbröseln. Permanent wachsen neue Kristalle aus der heißen Flüssigkeit heraus, und unendlich langsam wächst aus einem zerbrechlichen Bienenkorb ein hoher Turm. Der größte bekam einen Namen: Poseidon.

    Lost City sah verlassen aus – eine Geisterstadt. Das Atlantis-Massiv, auf dem sie wächst, ist 15 Kilometer weit vom mittelatlantischen Rücken entfernt – zu weit, um noch vom Vulkanismus aufgeheizt zu werden. Für die Röhrenwürmer der Black Smoker ist es hier viel zu kalt. Aber was lässt dieses Downtown wachsen? Debbie Kelley:

    "”Das Meerwasser sickert in das Atlantis-Massiv ein. Aber das ist ein Berg aus Mantelgestein, das tief im Erdinneren entstanden ist und das deshalb an der Oberfläche nicht stabil ist. Die Minerale reagieren mit dem Meerwasser, nehmen Wasser auf und verwandeln sich dabei in Serpentinit, einen grünlichen Schmuckstein, der gerne für Wandverkleidungen verwendet wird. Bei dieser Reaktion entsteht Wärme, die das eingedrungene Meerwasser auf 40 bis 80 Grad Celsius aufheizt. Außerdem schleppt das Wasser Unmengen an Wasserstoff und Methan mit sich. Wenn dieses heiße Zeug dann aufsteigt und auf das kalte Meerwasser trifft, fallen Kalkkristalle aus und bauen die Kamine.""
    Anders als an den Black Smokern mit ihrem sauren Mineralwasser ist das Leben in heißer Lauge anscheinend ungeheuer kompliziert: Unter anderem liegt das daran, dass den Mikro-Organismen das Kohlendioxid fehlt, das sie sonst überall auf der Welt nutzen, um ihre Biomasse aufzubauen. Sie mussten etwas anderes finden, denn in der Lauge, die aus Lost City strömt, fällt Kohlendioxid sofort als Kalk aus. John Baross:

    "” Wir sehen an den Turmwänden in Lost City die Mikro-Organismen in ungeheurer Zahl und sogar mit bloßem Auge. Es geht ihnen phantastisch. Aber wenn es in Lost City so gut wie kein gelöstes Kohlendioxid im Wasser gibt, wovon leben sie? Derzeit kennen wir erst einen Teil der Antwort, es ist immer noch ein recht großes Geheimnis.""

    Im Inneren von Atlantis entstehen unentwegt Wasserstoff, Methan und komplexere Kohlenwasserstoffe wie Ethylen, Propan oder Butan und andere Verbindungen – und zwar rein anorganisch! Das Gestein selbst ernährt sie. Lost City ist das erste Ökosystem, in dem nachgewiesen werden konnte, dass im Fels große Mengen Kohlenwasserstoffe entstehen – wie in der chemischen Industrie. Davon scheinen die Mikroben zu leben. Lost City ist ein erstaunliches System: Seine Bewohner hängen von einer chemischen Reaktion zwischen Meerwasser und Gestein ab, und der Kohlenstoff, den sie zu Biomasse umsetzen, stammt aus dem Erdmantel und ist uralt. Weiter fort von der Sonne kann man nicht mehr sein.

    Zitat: "Während ich über diesen Gedanken in Träume versank und alle Details dieser großartigen Landschaft mir einzuprägen bemüht war, stand auch Kapitän Nemo […] in stummes Träumen verloren. Eine volle Stunde blieben wir […] und betrachteten beim Glanz der Laven die ungeheure Ebene. Aus der Tiefe drang ein Getöse, das klar durch die umgebenden Gewässer drang und mit majestätischer Fülle widerhallte. "

    An einem Black Smoker hängt alles Leben vom Vulkanismus ab: Er heizt das Wasser und versorgt seine Mikroben mit Nährstoffen. Und weil Tiere gelernt haben, sich die Mikroben untertan zu machen, herrscht hier pulsierendes Leben. Und Lost City? Auf den ersten Blick scheint die Stadt tot zu sein. Nur ein Wrackbarsch schaut missmutig in Alvins helles Scheinwerferlicht. Erst ganz dicht an den Kaminen sieht man die Bewohner. Wie durchsichtiger Seetang wiegen sich Kolonien von Mikroben im warmen Wasser. Zwischen der Stadt und ihren Bewohnern herrscht so etwas wie eine Symbiose. Die Stadt ernährt sie, und dafür bauen ihre Bewohner sie auf. Denn um den zarten "Mikrobentang" herum wachsen Kalkkristalle, umwuchern die Mikroben, so dass sie irgendwann als Fossilien im Inneren der Kamine enden.

    Auch Lost City ist dicht besiedelt, wenn auch nicht von absonderlichen Röhrenwürmern, sondern von einem Teppich aus Bakterienkulturen. Allerdings sind es nicht sehr viele Arten, die sich in der heißen Lauge wohl fühlten. John Baross:

    "”An der Außenseite der Kamine sitzt die Gruppe von Bakterien, die den wie Haare wogenden Biofilm bilden. Aber richtig seltsam wird es im Inneren der Schlote. Dort leben Archaebakterien, die zu einer einzigen Art gehören, die wir schon lange kennen. Aber hier hat sie sich sehr seltsam weiterentwickelt. Obwohl die Bakterien alle zu einer Art gehören, haben sie Gruppen ausgebildet hat, die so unterschiedliche Stoffwechselreaktionen ausführen, wie wir das normalerweise nur von einem ganzen Konsortium verschiedener Arten kennen, die zusammenarbeiten müssen, damit sie überleben. So etwas haben wir noch nie gesehen. Im Grunde erzählt das sehr viel über das Unvermögen von Lebewesen, sich an die in Lost City herrschenden Bedingungen anzupassen.""

    Eines der Fragezeichen: Alle Lebewesen brauchen auch Metalle, damit ihr Stoffwechsel funktioniert. In der Verlorenen Stadt jedoch sind die Mangelware. Baross:

    "Das System von Lost City produziert organisches Material, von dem die Lebewesen sich ernähren, aber es gibt kaum Eisen und auch sonst kaum Metall. Auch hier wird es wieder interessant, denn wir haben trotzdem diese dichten Biofilme, die aus Organismen bestehen, die recht hohe Anforderungen an Metalle wie Eisen oder Nickel stellen. Wo kriegen sie die her? Wir haben keine Ahnung."

    Bakterien sind hart im Nehmen, deshalb mag es nicht sehr erstaunen, dass sie es geschafft haben, sich diese Welt zu erobern. Mit Tieren ist das anders. Aber auch sie gibt es dort. Allerdings sind sie so schwer zu entdecken, dass sie erst der Einsatz eines Unterwasserstaubsaugers an den Tag brachte: In den Hohlräumen und Spalten der aktiven Kamine verstecken sich Schnecken, Flohkrebse, Ringel- und Fadenwürmer, Muschelkrebse und Muscheln. Debbie Kelley:

    "”Es gibt nicht sehr viele Tiere, und sie haben höchstens einmal die Größe eines Daumennagels und sie sind durchsichtig. Deshalb waren sie für menschliche Augen auch so schwer zu erkennen. Es ist unglaublich, aber in Lost City – an diesem einen einzigen Platz, gibt es zwar nicht sehr viele Tiere, aber die Artenvielfalt dort ist ungeheuer groß, genauso groß oder vielleicht sogar noch größer als die der Black Smoker.""

    Wie es sich für Downtown gehört, leben in Lost City Individualisten. Fast zwei Drittel der Tierarten, die in dem "Unterwasserstaubsauger" landeten, kommen nur in der Verlorenen Stadt vor. Der Rest hat anscheinend Verwandte bei den Black Smokern. Aber sie alle mussten erst lernen, mit den Lebensbedingungen an diesem isolierten Berg mitten im Ozean fertig zu werden. John Baross:

    "”Die Vielfalt dieser Tiere ist groß, aber sie sind alle klein. Noch wissen wir nicht, ob auch manche dieser Tiere mit Mikroben in Symbiose leben – aber wenigstens ein paar Muscheln leben mit den Mikroben zusammen.""
    In mancher Beziehung erinnert dieser Ort an die Galapagos-Inseln – es ist ein idealer Ort für Darwins Erben. Kelley:

    "”Dass die Vielfalt so hoch ist, ist bemerkenswert, denn wir verstehen noch nicht einmal, wie die Tiere überhaupt dort hingekommen sind und wie sie sich dort entwickeln. Weil Lost City so alt ist, können wir dort vielleicht nachweisen, wie die Evolution von Organismen an einer einzigen Stelle abläuft.""

    Zeit genug für die Evolution, die gibt es. Während die Black Smoker nur wenige Tausend Jahre "leben", läuft die chemische Reaktion im Atlantis-Massiv mindestens seit 50.000 Jahren, vielleicht aber auch schon sehr viel länger. Und es wird noch einmal sechs Millionen Jahre dauern, ehe das Atlantis-Massiv komplett zu grünem Serpentinit verwandelt ist und die chemische Glut erlischt.

    Zitat: "In diesem Augenblick schien auch der Mond eine Weile durch die Masse der Gewässer und warf einige bleiche Strahlen auf den versunkenen Kontinent. Nur ein Schimmer zwar, aber von unbeschreiblichem Effekt. Der Kapitän erhob sich, warf einen letzten Blick auf diese unermessliche Ebene; darauf winkte er mit der Hand, ihm zu folgen."

    Das Netzwerk der mittelozeanischen Rücken zieht sich durch alle Ozeane, in denen Kräfte aus dem Erdinneren die Erdkruste auseinanderzerren und Lava für neuen Meeresboden aufsteigt. Aber wo keine Lava fließt, die die Risse heilt, da kann die Kluft so groß werden, dass der Erdmantel offen liegt und hoch gezerrt wird – und überall da kann ein zweites Lost City sein.

    Serpentinitsteine, die in den Gebirgen der Kontinente eingeschlossen sind, verraten, dass es früher, als die Erde jung war, viel mehr Atlantis-Massive gegeben hat als heute. Das treibt die Phantasie der Forscher an: Könnte an einem Platz wie dem Atlantis-Massiv die Wiege des Lebens gestanden haben? Was die "Chemiefabrik" Lost City produziert, gehört zu den Schlüsselsubstanzen allen Lebens. Es fehlen nur ein paar Atome Stickstoff, Sauerstoff und Schwefel, dann ließe sich daraus alles möglich bauen, von der Zellmembran bis zu Aminosäuren. Debbie Kelley:

    "Systeme wie Lost City produzieren große Mengen Wasserstoff, Methan, Ethylen, Propan, Butan, Acetate oder Ameisensäure, und die wären den ersten Lebewesen gerade recht gekommen. Sie hätten sie dringend gebraucht, aber auch ein paar andere Dinge wie Metalle, die in den Flüssigkeiten von Lost City fast ganz fehlen. Die bekommt man besser von einem Black Smoker. Mischt man die kohlenwasserstoffreichen Flüssigkeiten von Lost City mit den metallreichen eines Black Smokers, hat man beides."

    Vielleicht lag ein System wie Lost City neben einem Black Smoker, als das Leben auf der Erde entstand. Vielleicht hatte das erste, bescheidene Lebewesen als Mutter ein Lost City und als Vater einen Black Smoker. Noch ist das reine Spekulation. Die Forschungen fangen gerade erst an.

    Kelley: "”Ich kann mir nicht vorstellen, noch einmal so etwas Besonderes zu finden. Aber 70 Prozent der Erde sind von Meeren bedeckt, und über die wissen wir noch so gut wie nichts. Mir ist durch die Entdeckung von Lost City klar geworden, dass wir auf einem Planeten leben, auf dem es riesige Gebiete gibt, über die wir so gut wie nichts wissen. In den Meeren warten meiner Meinung nach noch großartige Entdeckungen auf uns.""

    Zitat: "Wir stiegen rasch den Berg hinab. Als wir den mineralischen Wald einmal hinter uns hatten, sah ich die Leuchte der "Nautilus" gleich einem Stern glänzen. Der Kapitän schritt gerade darauf los, und wir befanden uns wieder an Bord, als eben das erste Schimmern des Morgenrots die Oberfläche des Ozeans traf."


    Hinweis: Die Sendung ist der erste Teil einer dreiteiligen Reihe über die Tiefsee. Die beiden anderen Teile werden an den Osterfeiertagen, 16:30 Uhr, gesendet:
    Sonntag, 23.03: El Dorado und die Glücksritter. Bergbau in der Tiefsee
    Montag, 24.03.: Das Meer und der Müll. Treibgut in der Tiefsee