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Film der Woche: "Girl"
Schicksal eines Transgender-Mädchens

Vom Traum eines Jungen erzählt "Girl". Er träumt davon, ein Mädchen und eine Ballerina zu werden. Der belgisch-niederländische Film zeichnet die Geschichte eines Teenagers und eines Transgenders als berührenden inneren Kampf um eine andere Identität.

Von Hartwig Tegeler | 16.10.2018
    Regisseur Lukas Dhont, Internationale Filmfestspiele von Cannes, 2018
    Lukas Dhont Regisseur "Girl" (imago stock&people (Heline Vanbeselaere))
    "Dein Körper wird sich verändern. Das steht fest."
    "Und wissen Sie auch, wann es losgeht? Also genau? Ich finde, es geht zu langsam."
    Es geht Lara nicht nur zu langsam. Die Umwandlung vom Jungen zum Mädchen, es ist auch ein extrem harter Wandel. Und dann noch der andere Traum, nicht nur Mädchen, Frau zu werden, sondern auch Ballerina.
    Brutal, brachial, schmerzvoll
    Es ist hier keine "Schwanensee"-Eleganz, die sich vermittelt über dieses Geräusch der Ballettschuhe auf dem Holzfußboden des Übungsraums, nein, das wirkt brutal, brachial. Und genau so darf man sich Laras Versuch vorstellen, Ballerina zu werden und in der achtwöchigen Probezeit, die sie jetzt in der Schule bekommen hat, die Grundlagen zu legen. Viele Male werden wir in Lukas Dhonts Film "Girl" Laras blutige Zehen, werden ihren schmerzverzehrten Gesichtsausdruck sehen, wenn ihre Lehrer von ihr Entrechat oder Grand jeté verlangen. Und Tränen werden wir auch sehen, aber die kann Lara an sich gut unterdrücken.
    Lara, 15, auf der besten Ballettschule der Region, hat ein biologisches Problem, das sich eng mit dem ihrer Identität verbindet: Lara wurde als Victor geboren. Jetzt hat sie mit der Hormonbehandlung begonnen; die operative Geschlechtsumwandlung zur Frau soll bald folgen. Lara ist ungeduldig, sie will – wie gesagt - , dass es schneller geht.
    "Ich glaube, dass ich sie darum bitte, die Dosis zu erhöhen. Die Hormone."
    "Ich finde, das ist keine besonders gute Idee."
    "Und wieso nicht?"
    "Weil, weil du das nicht entscheiden solltest. Nicht allein."
    "Deswegen will ich die ja fragen."
    Zwei Träume, die gegeneinander arbeiten
    Die Geschlechtsumwandlung und der Ballett-Tanz – das sind die beiden Träume im Film "Girl", die anfangen, nach und nach gegeneinander zu arbeiten. Lara ist bereit, dafür alle Qual, alles zerschundenen Füße, alles Blut und alles Leid auf sich zu nehmen. Auch wenn das Schinden des Körpers beim Ballett bald die OP in Frage stellt: Solch ein geschwächter Körper schafft das nicht, sagen die Ärzte. Also: Wer ist Lara denn dann in diesem Zwischen-Zustand? Auch der verständnis- und liebevolle Vater:"Wie sind denn die Jungs in deiner Klasse?" Er wird Lara den Kampf nicht abnehmen können, der in ihr tobt.
    "Ich habe übrigens nie gesagt, dass ich mich für Jungens interessiere."
    "Wie? Du stehst auf Mädchen?"
    "Weiß ich nicht. Vielleicht schon."
    "Das ist kein Problem, weißt du, du kannst es ruhig sagen."
    "Ja, ja, ich sage es dann schon, wenn ich es rausgefunden habe. Was essen wir heute zu Abend?"
    Plädoyer für das Anderssein
    "Girl" ist ein Film über Schmerzen. Körperliche, emotionale, psychische. Ein Mädchen oder noch ein Junge kämpft, um die Grenzen des Körpers zu überschreiten. Diese qualvolle Geschichte erzählt Lukas Dhont wunderbar, ergreifend, berührend. Victor Polster, der das Transgender-Mädchen spielt, gibt Lara eine eindrucksvolle Komplexität. Allein das Laras Lachen. Es wirkt höflich, verbindlich, aber wir spüren dahinter die Verunsicherung und Verletzlichkeit des noch Jungen, der körperlich ganz eine Frau sein will. Dieses Lächeln also, das Victor Polster spielt, wirkt immer auch wie ein Panzer. Wir ahnen die Traurigkeit, die Melancholie dieses jungen Menschen, der um sich und seine Identität ringt. Es geht im Film "Girl" um einen Riss in Laras Innerem, den sie zu kitten versucht. Der Vater ahnt das, aber ganz wird er es nicht verstehen können.
    "Was ist los? Alles in Ordnung?"
    "Wieso fragst du mich dauernd, ob alles in Ordnung ist? Es nervt."
    "Es nervt dich, dass ich mir Sorgen um dich mache?"
    "Ein bisschen schon, manchmal."
    "Ach ja."
    "Girl" ist ein Plädoyer für das Anderssein. Eine Erzählung darüber, wie das, was zu den Sternen führt - "per aspera ad astra", die alte lateinische Redewendung –, wie das mühselig erkämpft werden muss. Mitunter. Wenn dieser Prozess aber so schmerzhaft ist: Dann darf das Ende versöhnlich sein im Kino. Und Lara darf als schöne, junge Frau auf die Kamera zuschreiten. Das Lächeln, das sie jetzt lacht, ist keine Maske mehr, es hat etwas Natürliches. Endlich! Lara ist ganz zu sich gekommen.