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Filmkritik "Wolfskinder"
Kinder auf der Flucht

In den Wirren der Nachkriegszeit gibt es Tausende Kinder, deren Eltern tot sind. Diese "Wolfskinder" geraten zwischen die Fronten marodierender deutscher Verlierer - und schießwütiger sowjetischer Siegertruppen. Rick Ostermann zeichnet in seinem Kinodebüt ihr Schicksal eindrucksvoll nach.

Von Josef Schnelle | 24.08.2014
    Levin Liam (r.) als Hans und Patrick Lorenczat als Fritzchen in dem Film "Wolfskinder".
    Levin Liam (r.) als Hans und Patrick Lorenczat als Fritzchen in dem Film "Wolfskinder". (picture alliance / dpa / Port au Prince Pictures)
    - "Sagt mir eure Namen."
    - "Hans Uwe Arenth."
    - "Fritz Ludger Arenth."
    - "Meine Jungs und jetzt hört mir gut zu. Ihr müsst zusammen bleiben, egal was passiert.
    "Wach auf, Mutti ist tot", flüstert der 14-jährige Hans wenig später und schnappt sich seinen kleinen Bruder. So werden Wolfskinder geboren, Kinder, die fortan auf sich alleine gestellt sind. Tausende dieser "Wolfskinder" gab es tatsächlich und einige haben Dank der Hilfsbereitschaft von Bauern in Lettland und Litauen überlebt. Regisseur Rick Ostermann hat viele Zeitzeugen befragt und diese Recherchen in seinen Film einfließen lassen. Viel von der Konkretion der Situationen und der Authentizität des Films beruht auf diesen Vorarbeiten. Vor allem aber konzentriert sich Kinodebütant Rick Ostermann, der sein Handwerk als Assistent bei bekannten deutschen Regisseuren erlernt hat, auf den emotionalen Kern seiner fiktiven Geschichte - auf Kinder, die sich nach dem Zusammenbruch der ihnen bekannten Welt und auch ihres Wertesystems in einem archaischen Dschungel durchschlagen.
    Im Sommer 1946 spürt man in Ostpreußen noch die Folgen des Krieges. Hunderte von elternlosen Kindern kämpfen ums Überleben, vor allem gegen den Hunger. In der lettischen Wildnis geraten sie auch noch zwischen die Fronten marodierender deutscher Verlierer- und schießwütiger sowjetrussischer Siegertruppen. Vor beiden müssen die Wolfskinder Angst haben.
    Identitätskonflikte der Wolfskinder
    Schon deswegen wird im Film wenig gesprochen. Die deutsche Sprache könnte die Kinder ja verraten. Überhaupt geht es um Identitätskonflikte. Hans und Fritzchen denken wehmütig an ihre ostpreußische Heimat. Aber immer mehr Situationen, in die sie geraten, verlangen Improvisationskunst und Einfallsreichtum. Dabei ist es schwierig, sich nicht aus den Augen zu verlieren.
    Hans und Fritzchen geschieht das bald. Bei der Suche nach seinem verlorenen Bruder schließt sich der ältere Hans einer Gruppe von Jugendlichen an, die im Freien oder in verlassenen Gehöften kampieren und im finsteren Wald der deutschen Geschichte jeder Schicksalsregung ausgeliefert sind. Immer wieder lauert nackte Gewalt.
    - "Schnell, sie sind hinter uns."
    - "Schwimm, Jane."
    - "Fritzi kann nicht schwimmen."
    - "Wo willst Du eigentlich hin?"
    - "Ich versuch nicht zu verhungern."
    In wunderbaren Cinemascope-Bildern zeigt der Film das Naturschöne, das die Kinder oft in betörendes Traumlicht taucht oder sie dann wieder in einer filmischen absoluten Dunkelheit verschwinden lässt. Immer weiter verrohen sie auch.
    Etwa 5000 Wolfskinder gab es
    Etwa 5000 dieser Wolfskinder hat es wohl im Niemandsland des ausgehenden Zweiten Weltkriegs gegeben. Diese Kinder gingen völlig unvorbereitet durch die Hölle des Krieges und das Fegefeuer seiner Folgen, was wunderbare, jugendliche Darsteller in diesem Film unmittelbar erfahrbar machen. Und weil Regisseur Rick Ostermann das Archaische dieser Kindheitserfahrungen in den Mittelpunkt stellt, kann man diesen Film leicht auf sämtliche Weltgegenden übertragen, in denen Kinder und Jugendliche entwurzelt und traumatisiert nach einer neuen Heimat suchen.
    "Wolfskinder" gibt es vielleicht nicht überall, aber dafür umso mehr heimatlose, hungrige Kinder auf der Suche nach Liebe und Sicherheit. Dass man daran immerzu denken muss, ist wohl hauptsächlich der Weltlage geschuldet, aber Rick Ostermanns einfühlsamer Film schafft es immerhin, diese Überlegungen möglich zu machen. "Wolfskinder" könnte zu einem Filmklassiker über die Folgen des Krieges werden. Die Brüder – so viel soll verraten werden – finden dann doch wieder zusammen. Doch das Happy-End ist vielleicht trügerisch.
    - "Du heißt jetzt Joni bist Fritz."
    - "Nein ich bin Jonas. Jonas, der ein eigenes Bett hat und nicht mehr hungern muss."
    - "Mutti hat uns gesagt, wir sollen nicht vergessen, wer wir sind und dass wir eine Familie sind. Hörst du, wir haben uns wieder, ich habe dich gefunden. Jetzt kann uns keiner mehr trennen."