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"Footwork"-Szene in Chicago
Arbeit mit den Füßen

Ende der 1990er Jahre ist in Chicago eine Musik entstanden, die so verschachtelt ist, dass man sich beim Tanzen eigentlich die Beine verknoten müsste. Bei Footwork laufen ungerade Rhythmen permanent gegeneinander – dazu bestreiten heute furchtlose Fans in den USA in Turnhallen feurige Wettbewerbe.

Von Raphael Smarzoch | 12.09.2015
    Eine Discokugel, aufgenommen am 04.12.2012 in München (Bayern)
    Wettbewerb unter der Diskokugel: Beim Footwork duellieren sich die Tänzer mit ihren besonderen Tanzschritten. (dpa picture alliance / Tobias Hase)
    Musik aus RP Boos aktuellem Album 'Fingers Bank Pads & Shoe Prints'. Der amerikanische Produzent komponiert Labyrinthe aus gegeneinander laufenden rhythmischen Mustern und Synkopen. Scheinbar chaotisch und doch bis ins letzte Detail ausgearbeitet und arrangiert. Fehler und Ungenauigkeiten werden nicht toleriert. Präzision, Gründlichkeit und Ordnung bestimmen den Sound des Footwork.
    "Wenn man einem bestimmten Klang zuhört, hat dieser Klang ein Muster. Alles und jeder Sound folgen einem spezifischen, zeitlich fixierten Muster. Nur erkennen das viele Leute nicht."
    Zusammen mit dem 2014 verstorbenen DJ Rashad, DJ Spinn oder Traxman zählt RP Boo alias Kavain Space zu den populärsten Vertretern des Footwork-Sounds. Footwork, das sind Musik und Tanz in einem. Virtuose Körperlichkeit und rhythmische Komplexität.
    "Als meine Frau zum ersten Mal Footwork hörte, hat sie es nicht verstanden. Ich sagte zu ihr: Hör genau hin! Es ist House Music, die allerdings schneller abgespielt wird. Hör einfach auf die Samples!"
    Die House-Tänzer im Chicago der 90er Jahre wollten in den Klubs schneller tanzen, neue Bewegungsmuster ausprobieren. Die DJs erfüllten ihnen diesen Wunsch und beschleunigten die Musik. Sie manipulierten die Mechanik ihrer Turntables, sodass die Platten schneller abgespielt werden konnten. Das führte zu experimentelleren Rhythmen, neuen musikalischen Formen und Tanzschritten.
    Footwork-Partys bestehen aus einem DJ und Tänzern, die in Gruppen gegeneinander antreten und sich dabei gegenüber stehen. Bei den Battles präsentieren die Fußarbeiter komplizierte Tanzschritte, die mit den rhythmischen Mustern der Musik harmonieren und immer weiterentwickelt werden. Damit dies möglich ist, fordern die Tänzer von den DJs neue Beats und Klänge ein, neue Soundtracks für neue Bewegungen.
    Footwork ist aus dem Nischendasein herausgekommen
    Footwork ist allerdings nicht nur eine funktionale Musik für den Dancefloor, die von den präzisen Straßenrastern Chicagos und der Architektur der Stadt inspiriert zu sein scheint. Die Tracks erzählen auch Geschichten: Sie geben Einblick in den Alltag der Produzenten, die oftmals auch ihre eigene Stimme aufnehmen und in die Stücke integrieren. Der Track '4 A 5 Dollar Bag' von DJ Spinn handelt von Abhängigkeit und Prostitution, dem traurigen Leben auf den Straßen Chicagos.
    "Bei '4 a 5 Dollar Bag' habe ich auf einen Song von James Brown zurückgegriffen. Er erzählt von Frauen, die sich billig verkaufen. Ich wollte das den Leuten näher bringen. Hört euch diesen Track an. Sie werden wahrscheinlich nicht erkennen, dass es James Brown ist, aber sie werden verstehen, dass er über Heroin spricht und was Menschen alles für einen 5-Dollar-Beutel machen. Da ist definitiv eine Geschichte drin, wie auch in vielen anderen Titeln."
    Mittlerweile ist Footwork aus dem Nischendasein herausgekommen. Das ist Produzenten wie Addison Groove oder Machinedrum zu verdanken, aber auch Mike Paradinas, der mit seinem Label Planet Mü seit 2010 einflussreiche Kompilationen mit Footwork-Tracks veröffentlicht. Schaut man sich die komplizierten und kunstvollen Tanzbewegungen der Profi-Footworker an, stellt sich die Frage: Wie soll man sich bloß als ungeübter Hörer dazu bewegen? Schließt dieser spezifische Tanz Menschen aus, die mit dieser Bewegungskultur nicht sozialisiert wurden und sie nie gelernt haben? Keineswegs, glaubt DJ Spinn. Er ist davon überzeugt, dass Footwork für alle da ist.