Freitag, 19. April 2024

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Französische Orchesterlieder
Mitreißend musiziertes Kronjuwel

Sandrine Piau gehört zu den besten Sängerinnen ihres Fachs, doch erstaunlicherweise ist sie in Deutschland fast unbekannt. Wer sie nicht kennt, verpasst zum Beispiel ihr neues Album mit französischen Orchesterliedern "Si j'ai aimé": ein Kronjuwel!

Am Mikrofon: Bjørn Woll | 15.09.2019
    Die Opernsängerin Sandrine Piau blickt im Halbprofil in die Kamera
    Besitzt auch mit 54 Jahren noch eine Stimme, die im Piano makellos schimmert: die Sopranistin Sandrine Piau. (Sandrine Expilly)
    Musik: Théodore Dubois – Sous le saule
    Diese Stimme ist ein Phänomen: Taufrisch und mit mädchenhaftem Charme hüpft Sandrine Piau leichtfüßig durch "Unter der Weide" von Théodore Dubois. Es ist wirklich erstaunlich, wie makellos die Stimme auf den Piano-Tönen schimmert, denn immerhin ist die Sängerin mittlerweile 54. Während die exakt gleich alte Natalie Dessay sich mit zu schweren Rollen übernommen hat und längst ihren Abschied von der Opernbühne nehmen musste, hat Sandrine Piau sich ihre Sopranfrische bis heute bewahrt. Auch weil sie ihr Kernrepertoire Mozart und Händel nie wirklich verlassen hat. Ihr Sopran war immer leicht und eher klein, ideal also für die Intimität des Studiomikrofons. Hier konnte sie den ganzen Reiz ihrer Stimme ausspielen. Wie ätherisch und überirdisch schön diese war und ist, kann man übrigens auf ihrem älteren Händel-Album "Between Heaven & Earth" nachhören: Belezzas Schlussgesang gehört zu den besten Aufnahmen dieser Arie überhaupt.
    Musik: Händel – Tu del ciel ministro eletto
    Ganz so natürlich und schlicht wie in Händels Oratorium geht es auf der neuen CD von Sandrine Piau nicht zu. Hier befinden wir uns im Pariser Salon um 1900. Es ist die mondäne Welt der Metropole mit prächtigen Roben, aufgetakelten Frisuren und dem flüchtigen Duft nach Parfüm. Und genau so klingt auch diese Musik: raffiniert und klangsinnlich.
    Sehr gute Wortverständlichkeit
    Es ist eine Kunst des Augenblicks, ein Funkeln auf der Wasseroberfläche, das in dem Moment schon wieder verschwunden ist, in dem man es aus dem Augenwinkel bemerkt hat. In "Papillons" von Camille Saint- Saëns ist es zum Beispiel eine virtuose Flöte über eindringlichem Streicherteppich. Da flirrt und flattert es aus dem Orchester, dass es eine wahre Freude ist. Sandrine Piau eilt elegant durch die Noten und punktet trotz des raschen Tempos mit einer tollen Wortverständlichkeit. Als Muttersprachlerin natürlich Ehrensache! Das Wort "Caprices" deutet sie wunderbar mit einem kleinen Funkeln, und bei "d’or" bekommt die Stimme am Ende des Liedes den besungenen goldenen Schimmer:
    Musik: Camille Saint- Saëns – "Papillons"
    "Si j’ai aimé" hat Sandrine Piau ihr Album genannt, das französische Orchesterlieder des 19. Jahrhunderts versammelt. Und es geht – natürlich! – um die Liebe in all ihren Facetten. In zwei thematische Blöcke hat die Sängerin die Lieder daher unterteilt: "Souvenir" heißt der erste, in dem die Liebe nur noch eine Erinnerung ist, "Désir & Séduction" der zweite, in dem es um Verlangen und Verführung geht – obwohl auch hier der wehmütige Blick in die Vergangenheit nicht fehlt. Und so kommt es, dass die Lieder aus Berlioz’ Zyklus "Les nuit d’été" einmal nicht zusammenstehen, sondern an verschiedenen Stellen dieses Konzeptalbums auftauchen. Berlioz war es übrigens auch, der mit seinen Kompositionen zum Türöffner für die Gattung des französischen Orchesterliedes wurde. Und so überrascht es wenig, wenn "Au cimetière" aus den "Nuits d’été" eines der Highlights dieser Aufnahme ist.
    Musik: Hector Berlioz – Au cimetière
    In nur wenigen Takten malen Orchester und Sängerin ein eindrückliches Stimmungsbild, in dem sich der bleiche Gesang von Sandrine Piau über den fahlen Klängen der Instrumente bewegt. Der Text spricht von morbider Süße und Schönheit – und genauso klingt es auch: Im Pochen der Streicher hört man förmlich die Lebenszeit verrinnen, und wenig später lässt der seidenfeine, gläsern-schneidende Ton der Geige dem Hörer das Blut in den Adern gefrieren.
    Concert de la Loge schließt Farbenreichtum auf
    Auf dem Album finden sich aber nicht nur bekannte Stücke wie Berlioz’ "Sommernächte"; die meisten sind wahre Entdeckungen von zum Beispiel Benjamin Godard, Théodore Dubois oder Jules Massenet. Dessen "Der Dichter und der Geist" ist ein Paradebeispiel für die Kunst der französischen Tonschöpfer, für den Farbenreichtum und die Klangsinnlichkeit ihrer Werke. Auch in dieser Miniatur geht es um die Erinnerung und die Flüchtigkeit des Augenblicks, im perlenden Spiel der Harfe und dem bewegt fließenden Gesang schön eingefangen. Doch immer wieder bedroht Paukengrollen den intimen Moment.
    Musik: Jules Massenet – Le poète et le fantôme
    Bei dieser Platte müssen wir aber nicht nur über die Sängerin sprechen, sondern auch über das Orchester. Denn schon das allein würde diese Aufnahme hörenswert machen! Das "Concert de la Loge" spielt auf historischen Instrumenten, genauer gesagt: auf Instrumenten der Zeit, wie Dirigent Julien Chauvin im Booklet erklärt. Das sorgt selbst bei den bekannteren Stücken der CD für eine neue, unbekannte Klangwelt, in die der Hörer eintauchen kann. Und der kann man sich kaum entziehen, vor allem wenn das so wunderschön musiziert ist wie in Henri Duparcs "Aux étoiles". Das Lied wird zu einer dunklen, schwelgerischen Nachtmusik, über die sich das bleiche Licht der Sterne legt.
    Musik: Henri Duparc – Aux étoiles
    Man kann den Anteil des Orchesters am Gelingen dieser Aufnahme wirklich nicht hoch genug bewerten. Denn diese Musik ist raffiniert, steckt voller instrumentaler Details. Mal ist es eine kurze Episode der Solovioline, mal das Aufblitzen der Harfe und immer wieder pastorale Einwürfe der Holzbläser. Erst durch das wunderbar transparente Spiel des Orchesters und den aufregend anderen Klang des historisch informierten Instrumentariums werden sie für uns Hörer in ihrem ganzen Reichtum erfahrbar. So wird das Zuhören wirklich zum Vergnügen. Und das ist gut so, denn ein Mal hören reicht bei dieser CD einfach nicht. So wie man vor einem Bild von Monet steht und immer wieder neue, kleinste Details wahrnimmt, verlangt diese Aufnahme unsere vollste Aufmerksamkeit. Auch weil die Musik voller schneller Stimmungsumschwünge steckt, wie zum Beispiel im "Morgenspaziergang" von Charles Bordes. Die Reflexionen des Wassers werden darin zur Metapher für die Vergänglichkeit, vom Horn dunkel grundiert. Und auch über die Stimme von Sandrine Piau legt sich ein Schatten, um sich gleich danach in einem schmerzlich-schönen Duett mit der Solovioline zu vereinen.
    Musik: Charles Bordes – Promenade matinale
    Sandrine Piau ist mit dieser Aufnahme ein weiteres Kronjuwel in ihrer qualitativ ohnehin schon beeindruckenden Diskografie gelungen. Die CD ist aber nicht nur ein Plädoyer für eine Sängerin, deren Stimme die Zeit scheinbar nichts anhaben kann, sondern auch für ein Repertoire, das hierzulande weitgehend unbekannt ist. Immer wieder wird der französischen Musik der Vorwurf gemacht, sie sei ein wenig zu parfümiert. Und ja, die hier versammelten Lieder sind weniger schwerblütig als Strauss, haben weniger philosophischen Weltenschmerz als Mahler; gesungen von Sandrine Piau bleiben die vermeintlich flüchtigen Miniaturen jedoch nachhaltig im Ohr. Weil das hier so selbstverständlich und mitreißend musiziert ist. Vor allem wenn ein bisschen Broadway-Glamour hindurchschimmert, wie in Dubois’ "Spaziergang am Teich".
    Musik: Théodore Dubois – Promenade à l’étang
    Si j'ai aimé
    Orchesterlieder von Berlioz, Massenet, Duparc, Saint-Saens, u.a.
    Sandrine Piau, Sopran
    Concert de la Loge
    Ltg.: Julien Chauvin
    Alpha Classics
    Bestellnummer: ALPHA 445/ EAN: 3760014194450