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Frei sein, wo immer du bist

"Die, die es nicht zerrissen hat"

Hans-Jürgen Heinrichs |
    Ich weiß nicht, / ich weiß einfach nicht, warum / sie Granaten werfen / auf diese jungen Leute.

    Wie kann man sie nur töten, / diese Jungen mit ihren unschuldigen Gesichtern, / diese Mädchen mit Tintenklecksen an den Händen?

    Wir akzeptieren Tod und Trauer. Doch hört, / Brüder und Schwestern, diese Granaten haben mit ihrer Explosion / den Himmel zerfetzt. Diese Jungen und Mädchen sind fortgegangen / und ziehen eine Blutspur / hinter sich her.

    Dieses Gedicht des weltberühmten buddhistischen Gelehrten Thich Nhat Hanh hat durch den jüngsten Terroranschlag auf der Insel Bali eine weitere erschreckende Aktualität erhalten. Die Barbarei des Mordens - ob in New York und Washington am 11. September vergangenen Jahres oder im Alltag des Nahost-Konflikts, ob in Afrika, Lateinamerika, im Nahen und Fernen Osten, in den Touristenzentren von Djerba oder Bali - die Barbarei hinterläßt Fassungslosigkeit, Wut und Rachegefühle. Gegen diese Spirale der Gewalt setzt Thich Nhat Hanh in seinen Gedichten, Vorträgen und vermittelnden Gesprächen die Geste der Versöhnung, des Dialogs und des Mitgefühls.

    In vielen Gedichten seines Bandes Nenne mich bei meinen wahren Namen stellt Thich Nhat Hanh dar, wie oft allein das Aussprechen der Worte "Friede" und "Liebe" während der Kriege lebensgefährlich war und ist.

    Unser fester Entschluss

    Ihr bekämpft uns / weil wir den Haß bekämpfen, während ihr eure Stärke / mit Haß und Gewalt zu erlangen sucht. / / Und ihr ermordet uns, / nur weil wir unser Haupt beugen / vor der Liebe und Vernunft des Menschen; / weil wir uns standhaft weigern, ihn mit den Wölfen gleichzusetzen

    Frieden

    Sie weckten mich heute morgen / und erzählten mir, dass mein Bruder im Kampf getötet wurde. / Und doch blüht im Garten / eine neue Rose am Busch - / ihre feuchten Blütenblätter öffnen sich. / Und ich bin am Leben, / atme noch den Geruch von Rosen und Mist, / ich esse, bete und schlafe. / Wann kann ich mein langes Schweigen brechen? / Wann kann ich die Worte aussprechen, / an denen ich zu ersticken drohe?"

    In dem Gedicht "Erfahrung" entwickelt Thich Nhat Hanh zaghaft Gegenpositionen zu Elend, Trauer, Angst, Tod und Resignation. Er spricht von Mut, Umarmung, Vertrauen, Nächstenliebe und Furchtlosigkeit. In den vergangenen vierzig Jahren hat Thich Nhat Hanh, der für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen wurde, bei unzähligen Konflikten, Kriegen und Unwetterkatastrophen interveniert und praktisch geholfen, zuweilen auf abenteuerliche und gefährliche Weise.

    Seine Aktivitäten erstrecken sich auch auf Gruppen wie Polizisten und Kriegsveteranen, die einer solchen Denkweise traditionell skeptisch bis sarkastisch gegenüberstehen. Zur Zeit führt Thich Nhat Hanh auch verstärkt Gespräche mit Amerikanern und islamischen Gemeinden in den USA, wirbt für gegenseitiges Zuhören und Verstehen, für den Dialog der Kulturen in sogenannten "peace talks" und dafür, anzuerkennen, daß auch auf der Gegenseite Menschen stehen, die Angst und Sorgen haben.

    Das Verstehen des anderen ist die Quelle des Mitgefühls und eines Dialogs. Gegenseitige Ignoranz und falsche Vorstellungen verfestigen sich zu gefährlichen kollektiven Gefühlen der Wut und schließlich zu Gewalt.

    In seinem soeben erschienenen Band Drei Juwelen im Herzen spricht Thich Nhat Hanh von der Dreiheit der Person Buddha, seiner Lehre und der Gemeinschaft. Nur die Gemeinschaft könne die durch Technologie, Individualismus und soziale Vereinsamung entstandene Leere ausfüllen. Achtsamkeit, Verstehen und eigene Verantwortung nennt der 1927 in Vietnam geborene buddhistische Lehrer und Schriftsteller als die maßgeblichen Anforderungen an die Mitglieder der Lebens-Gemeinschaften oder sogenannten Sanghas.

    Die Sangha ist wie ein Körper, der aus vielen Zellen besteht. Der gesamte Körper ist schon 2600 Jahre alt. Ich bin eine Zelle dieses Körpers, aber jede dieser Zellen enthält auch in sich den ganzen Körper.

    Thich Nhat Hanhs Lehren unterscheiden sich grundlegend von den esoterischen Schnellkursen für sofortige Erleuchtung. Der Weg der Selbstverantwortlichkeit ist nicht pragmatisch wie eine Wellness- oder Diätkur ausgerichtet. Auch sieht Thich Nhat Hanh wichtige Unterschiede etwa zu einer christlichen Gemeinde, einem Orden oder einem indischen Ashram.

    Thich Nhat Hanh spricht an zentraler Stelle seins Buches Drei Juwelen im Herzen von der gegenwärtigen "Zeit großer Umwälzungen" durch moderne Technologien, Gentechnik, Globalisierung und den Terrorismus. Seine Praxis zielt darauf, die Wurzeln des Terrorismus zu bekämpfen, statt an Symptomen zu laborieren. Für ihn sind der Selbsthaß und der Haß auf andere aufs engste miteinander verknüpft.

    Gewalt mit Gewalt zu beantworten ist nicht der richtige Weg, nicht nur anderen gegenüber, sondern auch uns selbst gegenüber. Gewalt mit Gewalt zu beantworten verwandelt nichts, sondern vergrößert nur die Gewalt, die Wut und den Haß. Mitgefühl ist das einzige Mittel, mit dem wir Gewalt annehmen und umwandeln können.

    Thich Nhat Hanh, der heute neben dem Dalai Lama als der bedeutendste buddhistische Mittler und Gelehrte gilt, notiert in einer weiteren Neuerscheinung, Frei sein, wo immer du bist (Vorträge, die er in einer Strafanstalt gehalten hat):

    Viele Freunde von mir waren lange Zeit in Zwangsarbeitslagern interniert. Da sie aber richtig zu üben wussten, mussten sie nicht über alle Maßen leiden. Ihr spirituelles Leben erfuhr sogar eine beträchtliche Weiterentwicklung. Wenn ich von Freiheit spreche, meine ich die Freiheit von Kummer, von Wut und von Verzweiflung. Wenn ihr Wut in euch fühlt, müsst ihr die Wut umwandeln, um eure Freiheit zurückzugewinnen.

    Sind aber Wut, Aggression und Verzweiflung wandelbar, unter Umgehung der konkreten sozialen und lebensgeschichtlichen Bezüge? Wirken Spiritualität und die in ihrem Namen errungene innere Freiheit nicht wie eine Droge, ohne das Fundament einer lebensgeschichtlich und politisch-sozial erarbeiteten Freiheit?

    Die politische Aktivität, die vermittelnde und helfende Tätigkeit in Krisen- und Kriegssituationen, das soziale Engagement etwa in Strafanstalten, das Gemeinschaftsleben, die Vorträge und die poetische Form sind die tragenden Pfeiler von Thich Nhat Hanhs umfangreichem Werk, das weltweit, zum Teil in sehr hohen Auflagen, publiziert wird. Engagement, Poesie und Spiritualität sind für ihn nur verschiedene Aspekte einer Tätigkeit. Einmal spricht er von der "leuchtenden Fackel der Poesie".

    Thich Nhat Hanhs Poesie und Lehre sind am knappsten ausgedrückt in dem Titelgedicht seines Lyrikbandes Nenne mich bei meinen wahren Namen. Wohlgemerkt: bei mehreren wahren Namen. Und damit verbunden: die Vielfalt der gelebten Gefühle und Ausdrucksformen: Weinen und Lachen, Freude und Schmerz, Leid, Trauer und Glück.



    Ich komme stets gerade erst an, um zu lachen und zu weinen, / mich zu fürchten und zu hoffen. / Der Schlag meines Herzens ist Geburt und Tod / von allem, was lebt.

    Bitte nenne mich bei meinen wahren Namen, / damit ich all mein Weinen und Lachen / zugleich hören kann, / damit ich sehe, / dass meine Freude und mein Schmerz eins sind.

    Besprochene Bände:

    Frei sein, wo immer du bist Aus dem Englischen von Michael Wingender. 96 S.

    Drei Juwelen im Herzen Herausgegeben von Monika Lamberts-Hengster. 144 S.

    Nenne mich bei meinen wahren Namen. Gesammelte Gedichte 196 S.

    Der Buddha 144 S.

    Alle im Theseus Verlag München.

    Außerdem ist auch in diesem Herbst in der Reihe "Arkana" im Goldmann Verlag, München, der Band Ärger. Befreiung aus dem Teufelskreis destruktiver Emotionen erschienen.