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Freiheit und Verantwortung

Das Leitbild des freien und verantwortungsbewussten Menschen ist das Ideal demokratischer Gesellschaften. Der Bürger soll so autonom sein, dass er sich nicht ohne weiteres vorherrschenden Meinungen anpasst. Gleichzeitig soll er sich sozial engagieren und für gesellschaftliche Belange einsetzen. Dieses sensible Kräftespiel scheint sich in den letzten Jahrzehnten verändert zu haben.

Von Martin Hubert | 01.03.2007
    Welche Freiheit braucht der Mensch, um ein verantwortungsvolles soziales Wesen sein zu können? So etwa ließe sich die Leitfrage der Tagung zusammenfassen, unter der Sozial- und Geisteswissenschaftler am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen miteinander diskutierten. Der Titel : "Freiheit und Verantwortung. Neue Rahmenbedingungen gesellschaftlichen Handelns". Es hat sich einiges geändert, argumentierte der Kieler Philosoph und Tagungsmitveranstalter Ludger Heidbrink: Die Gesellschaften seien viel komplexer und unübersichtlicher als noch vor 20, 30 Jahren. Das mache es auch leichter, Verantwortung von sich wegzuschieben. Dagegen sollte die Tagung Impulse setzen.

    "Die Anregung besteht darin, von dem wegzukommen, was ich schlagwortartig als die "unzuständige Gesellschaft" bezeichnen würde. Die unzuständige Gesellschaft ist die, in der immer jeder glaubt, dass jemand anderes für die Dinge verantwortlich ist. Und wenn dann von den Akteuren eine stärkere Beschäftigung mit Problemen erwartet wird, treten gewissermaßen Rückzugsreaktionen auf und man beobachtet sehr häufig, dass man sich dann für unzuständig erklärt, gleichzeitig aber rhetorisch natürlich immer behauptet, wir müssen die Dinge lösen, wir müssen sie angehen, wir müssen uns um den Klimawandel kümmern, wir müssen uns um die Arbeitsplatzabwanderung kümmern. Und all diese Formen des Engagements finden auf rhetorischer Ebene statt, aber sobald sie praktisch realisiert werden soll, also wenn wirklich das Anpacken erforderlich wird, wird die Flucht in die Unzuständigkeit angetreten und das sollte sich meines Erachtens ändern."

    Allerdings gelte diese Flucht in die Unzuständigkeit auch für den Staat. Denn - Stichwort Hartz IV - er delegiere ja in den letzten Jahren immer mehr Verantwortung an das einzelne Individuum. Der Frankfurter Rechtswissenschaftler Klaus Günther sprach von einer regelrechten "Verantwortungsfalle". Man bürde dem Einzelnen immer mehr Lasten auf, sodass dieser allmählich überfordert wäre. Gleichzeitig wachse die Gefahr, dass staatliche und gesellschaftliche Verantwortung immer weniger nachgefragt würde. Klaus Günter hat untersucht, inwieweit ein solches Denken bereits das Rechtsbewusstsein ergriffen hat. Seine Mitarbeiter konfrontierten Menschen in Frankfurt am Main und in Leipzig mit Rechtsfällen. Zum Beispiel mit einem Sozialhilfeempfänger, der das Sozialamt betrogen hat. Oder mit einem Manager, der vom Arbeitsdruck so gestresst war, dass er einen Autounfall verursachte. Die Versuchspersonen sollten folgende Fragen beantworten: Halten sie die Täter für frei sodass sie selbst für Ihre Tat verantwortlich sind ? Oder gibt es auch eine Mitschuld der Gesellschaft? Das Ergebnis:

    "Wer Sozialhilfeempfänger ist und nebenbei arbeitet und das nicht angibt, da wird eher auf soziale Umstände geschaut und der Vorwurf, dass jemand sich individuell falsch verhalten habe, eher nicht so deutlich artikuliert. Während zum Beispiel in dem Fall der Verursachung eines tödlichen Unfalls dann doch sehr stark die Bereitschaft zu erkennen ist, da jemanden individuell verantwortlich zu machen. Das stimmt überein mit sozialpsychologischen Erkenntnissen, dass die Schwere eines Erfolges, also eines negativen Erfolgs offenbar dazu führt, dass die Urteilenden sagen: Ja, dafür muss jemand verantwortlich sein, individuell, während das bei weniger schweren Folgen nicht der Fall ist."

    Ganz ungebrochen hat sich also die neoliberale Lehre von der alleinigen Verantwortlichkeit des Einzelnen offenbar noch nicht in die Köpfe gegraben. Demgegenüber stellte der Dortmunder Soziologe Ronald Hitzler in Essen eine pessimistische Zeitdiagnose vor. Er sprach vom Trend zu einer "grassierenden Unverantwortlichkeit". In Jugendszenen wie Hip-Hoppern, Gothic- Jüngern oder Skatern würde an einer Existenz und Identität gebastelt, die sich völlig frei und ungebunden wähnt. Diese Tendenz, so Hitzler, zeige sich zunehmend aber auch bei Erwachsenen. Man glaubt, sich in infantiler Weise seine Welt beliebig zusammensetzen zu können. Gleichzeitig würde es immer unwichtiger, sich in Familie, Verein oder Partei zu engagieren.

    "Es gibt immer Gegenbeispiele, wir alle leben natürlich auch noch in traditionellen Formen, aber die Tendenz läuft auf eine immer stärkere Individualisierung im Sinne des Herausgeworfenseins aus den traditionellen Formen hinaus und auch die traditionellen Formen verändern sich, sie werden wählbarer, sie werden immer stärker nicht mehr zu etwas, was per se existiert, sondern was man auch herstellen muss. Also: Familie muss man heute machen, die ist nicht, die muss man machen. Und ich denke, dann hat das im Umkehrschluss die Folge, dass Menschen sich zunehmend auf eine Art und Weise vergemeinschaften, die ihnen möglichst wenig Verpflichtungen auferlegt. Und wenn einem die Gemeinschaft nicht mehr passt , dann wechselt man eher die Gemeinschaft als dass man sich anpasst an das, was die Gemeinschaft erfordert."

    Es war in Essen umstritten, in welchem Ausmaß diese Diagnose tatsächlich zutrifft. Einig war man sich jedoch darin, dass neue Wege gesucht werden müssen, um die Sehnsucht nach Freiheit, das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung und die Forderung nach verantwortlichem Handeln unter schwierigen sozialen Bedingungen miteinander in Einklang zu bringen. Der Sozialpsychologe Harald Welzer kritisierte auch die eigene Zunft: die Geistes- und Kulturwissenschaftler hätten sich viel zu lange als freie Geister der reinen Analyse verstanden, anstatt sich für die aktuellen sozialen Problemlagen verantwortlich zu fühlen. Etwa hinsichtlich des Klimawandels

    "Es ist ja so, / dass die Versicherungswirtschaft sich mit dem Problem sicherlich beschäftigt, es ist auch so, dass sich die Immobilienwirtschaft mit dem Problem beschäftigt, es ist auch so, dass die Sicherheitspolitik sich mit dem Problem beschäftigt und auch die Hersteller von Zäunen sich mit dem Problem beschäftigen, alle denken über die Folgen des Klimawandels nach. Wer bislang nicht darüber nachdenkt, sind die Geistes- und Kulturwissenschaftler! "

    Der Essener Philosoph Dieter Sturma machte auf der Tagung die Ausnahme. Er diskutierte das Problem verantwortlichen Umwelthandelns. Bisher habe man allzu oft an den Bürger appelliert, Opfer für die heile Umwelt künftiger Generationen zu bringen. Die Ab-straktionsleistung, sich in das Interesse zukünftiger Generationen hineinzuversetzen, sei jedoch viel zu hoch. Verantwortung müsse immer auf die eigenen Interessen bezogen bleiben. Dieter Sturma schlug daher vor, bei den gegenwärtigen Generationen anzusetzen. Man müsse dafür sorgen, dass in der Politik die Interessen der Kinder und Jugendlichen stärker berücksichtigt werden.

    "Man sollte fragen, was aus deren Sichtweise eine vernünftige Politik wäre und dann würde man unter der Hand sozusagen immer auch schon Langzeiteffekte und auch umweltethische Effekte erzeugen. Denn was würde das zur Folge haben? Wir würden die Verkehrspolitik ändern, wir werden mehr verkehrsberuhigte Zonen haben, wir würden mehr in Bildung investieren. Und diese Abstraktionsleistung sehe ich gar nicht als so übermächtig an, weil man ja unmittelbar merkt im Umfeld, dass etwas für die Situation der ersten und zweiten Generation getan wird. Und davon erwarte ich mir doch eine wesentlich größere Breitenwirkung für umweltethische Themen. "

    Ob dieser Vorschlag politische Effekte erzielen kann, ist natürlich offen. Aber er zeigte, dass die Kulturwissenschaftler selbst ein wichtiger Teil des sozialen Lernprozesses sein können, in dem Freiheit und Verantwortung neu aufeinander bezogen werden.