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Furioses Ensemblespiel in Stuttgart

In Tschechows "Kirschgarten" geht es dem Autor weniger um eine Familie, die ihren Kirschgarten verkaufen muss, als um eine Studie ihrer Resignation auf der Suche nach dem Glück - trotz des Themas gelingt Michael Thalheimer in Stuttgart eine grandios komische Aufführung.

Von Cornelie Ueding | 17.01.2010
    Alle sind von Anfang an schon da – als Schattenrisse oder als Schemen, ganz hinten auf der Bühne, dort, wo das ansteigende Bühnenpodest auf den langsam, ganz langsam sinkenden Bühnenhimmel trifft. Noch erscheint ihr Spielraum weit, doch sie nutzen ihn nicht. Ankommen, das bedeutet in Stuttgart (Seite des Staatstheaters), dass Tschechows Figuren an die Rampe stürzen, sich als lebende Phalanx aufbauen und – warten, minutenlang, so als würden sie auf Impulse hoffen, vom Publikum, egal, irgendwo von außen. Als nichts geschieht, schnattern und strampeln sie sich selbst aus der Lethargie. Sie verfallen in einen mechanischen Sprech-Geschwindigkeits-Rausch; doch der geht ins Leere. Niemand hört zu bei dieser selbstrettenden Wiederholung des Immergleichen, denn so einen sich selbst abspulenden Text hat jeder drauf: die Summe seines Lebens, die zu Affektimpulsen geronnenen Erinnerungen. So wird Szene um Szene abgerufen – und versickert wieder.

    Dass die Bühne kahl und leer ist, dass Regisseur Michael Thalheimer auf ein realistisches Ambiente verzichtet, lenkt den Blick auf die Wirklichkeitsferne der Figuren. Alles spielt sich nur noch im Kopf, in der Erinnerung ab, die jeder für sich, je nachdem rosig oder rachsüchtig ausmalt, die schöne Jugendzeit und das schwere Leben der Leibeigenen – das vormals jedenfalls geordnete, säuberlich in "ihr da oben - wir da unten" geschiedene Leben. Als man noch zu wissen glaubte, wer man war. Sie alle reden, stampfen, singen oder tanzen sich in Stimmungen hinein, die von Erinnerungen und einer unbestimmten Sehnsucht geformt sind, und versuchen auf diese Weise, Emotionen zu beschwören.
    Für Gefühle, Liebe, die sie so gerne erleben möchten, haben sie keine Sprache. Da kann man geradeso gut wie der Bruder der Gutsherrin, der sich so gerne als wohltönenden Redner erlebt, eine Rede an einen alten Schrank halten, an ein nicht vorhandenes Objekt der Gefühlsentladung. Auch der Kirschgarten blüht ja vor allem in den Köpfen der Gefühlssehnsüchtigen. Keiner macht Anstalten ihn zu retten, obwohl dieser Sehnsuchtsort allen so am Herzen liegt. Jetzt ist er vernachlässigt, heruntergekommen, im Wortsinn nutzlos. Auch für den Aufsteiger, den Aufkäufer Lopachin. Dem fällt nichts anderes ein als: zerstören, abholzen. Geldwert.
    Seine Gefühle erschöpfen sich in Rachsucht und Aufsteigerglück. Doch der Sieg ist schal - und tränenreich. Auch für ihn.

    Lachen und Weinen liegen in dieser hinreißend genauen und auch grandios komischen Aufführung nah beieinander; und die Zuschauer geraten in den Sog dieses Wechselbads der Gefühle. Wann immer die Figuren miteinander Kontakt aufnehmen, geht was schief: Komisch, diese windschiefen Dialoge, dieses Verlegenheitsgezappel. Affektschübe werden vor allem körperlich ausgetragen.

    Sie rütteln sich und schütteln sich und versuchen die Empfindungen aus anderen buchstäblich herauszuklopfen. Der Lehrer fuchtelt belehr-selig herum, doch auch das ist immer nur ein kurzer Selbstaufputschversuch. Dann bricht er, wie alle anderen auch, in haltloses Schluchzen aus, klammert sich ausgerechnet an Lopachin. Die mechanische Selbstbehauptung ist so wenig tragfähig wie das Leben auf Pump. Oft schmilzt die Traurigkeit in dem furiosen Ensemblespiel nuancenreicher Menschendarsteller - und das ist schon wieder komisch - zu weinerlichem Selbstmitleid. Doch der Ausblick, der ziellose Aufbruch am Ende, ist desaströs. Bevor noch der erste Baum gefallen ist, gehen die Menschen in ein erkennbar sinnentleertes Leben. Ein Leben im Sack, wie in der Geschichte des alten Dieners Firs, der sich erinnert, dass es im Sack eines Vorübergehenden immerzu nur "Rumpel-Pumpel" machte.