Mittwoch, 24. April 2024

Archiv

Futbolpolitika - Fußball und Politik in Russland (3)
Wie berühmte Fußballer unter Stalins Terror litten

In den 1930er-Jahren herrschten in Russland Angst, Willkür und Verfolgung. Millionen Menschen wurden drangsaliert, verhaftet, erschossen. Auch prominente Fußballer waren nicht sicher - so auch Spartak-Gründer Nikolai Starostin. Er wurde wegen "bourgeoiser Arbeitsmethoden" zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt.

Von Ronny Blaschke | 16.06.2018
    Denkmal der Starostin-Brüder im Spartak-Stadion in Moskau.
    Denkmal der Starostin-Brüder im Spartak-Stadion in Moskau. (dpa/ picture alliance/ Srdjan Suki)
    Am 6. Juli 1936 bedeckte ein Filzteppich den Roten Platz, 10.000 Quadratmeter groß. Die Unterlage für ein Demonstrationsspiel zwischen zwei Teams von Spartak Moskau. Die Massenparade am "Tag der Körperkultur" musste dafür unterbrochen werden. Auf der Ehrentribüne über dem Lenin-Mausoleum beobachtete Josef Stalin regungslos das Geschehen. Als Gegner von Spartak sollte Dynamo Moskau antreten, aber dazu kam es nicht, erzählt Martin Brand, Herausgeber des Sammelbandes "Russkij Futbol".
    "Dynamo Moskau, die Mannschaft, die unter der Patronage des Geheimdienstes stand. Und die haben sich aber nicht getraut. Weil eventuell Stalin, wenn er auf der Tribüne sitzt, den Ball abkriegt und das furchtbare Konsequenzen haben könnte."
    Der Held auf dem Roten Platz war Nikolai Starostin. Ein Mann, der Spartak verkörperte. Als Gründer, Kapitän und Trainer dekoriert mit Titeln und Ehrungen. Doch Erfolg erzeugte Missgunst. Zum Beispiel bei Lawrenti Beria, einem Vertrauten Stalins und mitverantwortlich für dessen "Säuberungen". Beria war Chef der Geheimdienste und damit Anführer bei Dynamo, dem großen Rivalen von Spartak. Berias Lieblingsverein Dynamo Tiflis traf 1939 im Pokalhalbfinale auf Spartak. Martin Brand:
    "Spartak hat gewonnen, hat dann auch das Finale gewonnen. Und dann wurde aber das Halbfinale annulliert, weil der Schiedsrichter angeblich falsch gepfiffen hatte. Und der wurde auch verhaftet. Was mit dem passiert ist, weiß kein Mensch. Aber man kann sich lebhaft vorstellen, dass er das nicht überlebt hat. Genauso wie der Organisator des besagten Spiels auf dem Roten Platz 1936 ein oder zwei Jahre später einfach verhaftet und erschossen wurde."
    Klima der Angst unter Stalin
    Stalin schürte ein Klima der Angst. Wer in Zeiten von Zwangskollektivierung mit neuen Ideen auftrat, machte sich verdächtig. Fußballer galten zum Beispiel als Amateure, doch sie genossen Privilegien. Spartak-Gründer Nikolai Starostin wollte professionelle Strukturen einführen, mit Geldgebern, Spielertransfers, internationalen Gegnern. 1942 wurden er und seine drei Brüder verhaftet – und zu zehn Jahren Lagerhaft verurteilt, wegen "bourgeoiser Arbeitsmethoden". Ihr Eigentum wurde beschlagnahmt, die Presse durfte nicht berichten. Anke Hilbrenner, Professorin für Neuere Geschichte Osteuropas an der Universität Göttingen, beschreibt die Hierarchie im Gulag.
    "Starostin hat dann Sport im Gulag populär gemacht, eingeführt, war dann auch Mitglied unterschiedlicher Sportkommandos. Und hat da auch immer eine hervorgehobene Rolle gespielt, weil er eben ein sowjetischer Held war. Es gibt ja auch Leute, die so weit gehen zu sagen: das ist der Grund, warum er das überlebt hat."
    Ob in Chabarowsk an der chinesischen Grenze oder in Komsomolsk in Sibirien: Nikolai Starostin blieb von unmenschlicher Arbeit verschont. Nur einmal wurde seine Haft unterbrochen, sagt Osteuropaforscher Martin Brand. Wassili Stalin, Sohn des Diktators, wollte Starostin als Trainer für den Verein der Luftwaffe gewinnen.
    "Und er hat ihn zurückgeholt nach Moskau und sich provokativ auf die Tribüne mit ihm gesetzt bei einem Spiel von Dynamo Moskau, woraufhin der Geheimdienst nicht sehr begeistert war und Starostin wieder zurück ins Gulag geschickt hat. Also da sieht man auch, was da auf dem Rücken der Fußballer für politische Intrigen und Machtkämpfe stattgefunden haben."
    Nach dem Tod Josef Stalins 1953 wurde Geheimdienstchef Beria hingerichtet. Nikolai Starostin übernahm wieder die Führung von Spartak – für fast vier Jahrzehnte. Zehn Meisterschaften und neun Pokalsiege folgten nach der Rehabilitierung. Nikolai Starostin wurde zum Zeitzeugen eines Jahrhundert. Er starb 1996, im Alter von 93 Jahren. Noch heute rollen die Fans von Spartak bei Heimspielen ein großes Transparent aus, darauf ein Porträt von Starostin und ein Schriftzug: "Er sieht alles!"