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Gefühle deutscher Arbeiter

Darf, wer eine humanere Welt herbeiführen will, Gewalt und Terror einsetzen? Eine Frage, die heute ebenso aktuell ist wie vor 75 Jahren, als in Berlin Bertolt Brechts Lehrstück "Die Maßnahme" uraufgeführt wurde.

Von Ruth Fühner | 10.12.2005
    "So ein Mensch braucht zuviel Fressen
    Dadurch wird der Mensch teurer
    Um das Fressen zu schaffen, braucht man Menschen.
    Die Köche machen das Essen billiger, aber
    Die Esser machen es teurer.
    Es gibt überhaupt zu wenig Menschen
    Was ist eigentlich ein Mensch?
    Weiss ich, wer das weiss!
    Ich weiss nicht, was ein Mensch ist
    Ich kenne nur seinen Preis."

    So viel Menschenverachtung empört den jungen Genossen. Eigentlich ist er gekommen, um mit dem chinesischen Händler über Waffen zu verhandeln:

    "Und wann werden Sie die Kulis gegen die Engländer bewaffnen?"

    Doch in seiner Empörung verscherzt es sich der junge Genosse mit dem Händler - und gefährdet so das Ziel der Partei: Waffen für einen Aufstand gegen die chinesischen und englischen Unterdrücker zu besorgen. Das ist nicht der einzige Fehler, den der junge Genosse macht - weil er dem Mitleid folgt, gefährdet er die Existenz seiner Genossen. Um die Revolution zu retten, ermorden sie ihn - mit seinem Einverständnis.

    "Er sagte noch: im Interesse des Kommunismus,
    Einverstanden mit dem Vormarsch der proletarischen Massen
    Aller Länder
    Ja sagend zur Revolutonierung der Welt."
    Bertolt Brecht schrieb "Die Maßnahme", zusammen mit Slatan Dudow und dem Komponisten Hanns Eisler, im Frühjahr 1930. Es ist das Ergebnis seiner ersten großen Auseinandersetzung mit dem Marxismus und mit den Schriften Lenins - und als solches wurde es auch kritisiert. Ursprünglich sollte "Die Maßnahme" im Rahmen eines Sommerfests der Vereinigung "Neue Musik" in Berlin uraufgeführt werden. Doch die Verantwortlichen - darunter Paul Hindemith - machten nach Lektüre des Stücks einen Rückzieher. Brecht und Eisler sollten es - "zur Zerstreuung politischer Bedenken" - einem Programmausschuss vorlegen - und weigerten sich. Doch auch von anderer Seite blieb die Kritik nicht aus. Der Brecht-Biograph Klaus Völker:

    "Die Vertreter der Kommunistischen Partei, die an der Uraufführung am 10. Dezember 1930 im Großen Schauspielhaus in Berlin teilnahmen, fanden wenig Gefallen an dem Stück. Es wurde hauptsächlich als Kommentar zur bolschewistischen Praxis verstanden, der der bürgerlichen Kampagne gegen den Terror und die Unmenschlichkeit der Bolschewiki nur Argumente in die Hand spiele."

    Doch es kam ganz anders. Auf der bürgerlichen bzw. antikommunistischen Seite nämlich setzte sich über die Jahre der Eindruck fest, Brecht habe mit der "Maßnahme" Stalins Schauprozesse vorweggenommen und den Terror der Parteidisziplin gerechtfertigt. Und so war es am 30. Oktober 1947 eben dieses Stück, das Brecht vom "Ausschuss für unamerikanisches Verhalten" in Washington vorgehalten wurde. Zum Beweis für die kommunistischen Neigungen des Dramatikers zitierte der Ausschussvorsitzende sogar aus dem "Lob der Partei":

    Doch so einfach war Brecht nicht festzunageln. Geschickt packte er den Ausschuss bei der Alliierten-Ehre, nämlich beim gemeinsamen Kampf gegen den Nationalsozialismus, den er nur ein kleines bisschen vordatierte:

    "In diesem Stück versuchte ich die Gefühle und Vorstellungen der deutschen Arbeiter auszudrücken, die gegen Hitler kämpften."

    "Formale Minderwertigkeit des Textes" hatten die Leiter der "Neuen Musik Berlin 1930" Brecht und Eisler vorgeworfen, als sie "Die Maßnahme" für ihr Musikfest ablehnten. Dialektisch zurückgefragt: Kann ein politisches Stück, das so viele unterschiedliche Interpretationen hervorruft - und aushält - tatsächlich minderwertig sein?