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Gegen das Vergessen

Der ehemalige bosnische Serbenführer Radovan Karadzic ist an das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag ausgeliefert, jetzt wird nach Ratko Mladic gefahndet, der auch für das Massaker in Srebrenica verantwortlich gemacht wird. Seine Verhaftung ist die letzte Bedingung der EU für die Ratifizierung eines Stabilitäts- und Assoziationsabkommen mit Serbien. Karadzic und Mladic werden von vielen Serben aber noch immer als Helden betrachtet: Aus Belgrad berichtet Dirk Auer und Boris Kanzleiter.

    In einer hellen Altbauwohnung in der Innenstadt von Belgrad. Hier treffen sich die Mitglieder der Jugendinitiative für Menschenrechte, um ihre Aktivitäten zu koordinieren. Ruzica Devic, eine zierliche junge Frau mit kurzen roten Haaren, trifft letzte Vorbereitungen für eine Gruppenreise.

    "In diesem Programm reisen wir mit jungen Leuten in die Kosovo-Hauptstadt Pristina. Das sind Leute, die voller Vorurteile gegenüber den Albanern sind, aber einfach nur deshalb, weil sie nie die Möglichkeit hatten, dorthin zu fahren. Auch die Medien berichten über nichts anderes als die Unabhängigkeit. Im Prinzip gibt es eine komplette mediale Blockade über die Schlüsselfragen unseres Landes. Das gilt in Bezug auf Kosovo und in Bezug auf die Kriegsthematik insgesamt."

    Ruzica hat an der Belgrader Universität Philosophie studiert. Bereits in den 90-er Jahren war sie auf Antikriegsdemonstrationen, vor zwei Jahren hat sie selbst an einem Besuchsprogramm in Pristina teilgenommen. Seither ist sie in der Jugendinitiative aktiv.

    "Meine Hauptmotivation für diese Arbeit ist die Unfähigkeit dieser Gesellschaft, sich mit den Kriegen der 90-er Jahre auseinanderzusetzen. Wir sagen: Die Verantwortung Serbiens für die verübten Verbrechen ist sehr groß. Aber die vorherrschende Stimmung ist die, dass man das vergessen will."

    Gegen das Vergessen - unter diesem Motto stehen praktisch alle Aktivitäten der Initiative. Um die immer noch vorherrschende Mystifizierung der Täter zu durchbrechen, veranstalten die Aktivisten Seminare, Demonstrationen und Kampagnen. Eine Menge Aufklärungsarbeit sei nötig. Denn noch immer gibt es in Serbien kaum ein Bewusstsein über das Ausmaß der verübten Verbrechen, meint Ruzica.

    "Das hat man nach der Verhaftung von Karadzic gesehen. Die Medien haben sich hauptsächlich mit seiner Maskerade beschäftigt. Nur wenige Medien haben thematisiert, wofür er angeklagt ist und was seine Verantwortung ist. Stattdessen ging es um seinen Bart, die langen Haare und seine Zaubertricks. Das zeigt, dass das Problem nicht ernsthaft begriffen wird."

    Und doch: Auch in den staatlichen Institutionen hat der Prozess der Aufarbeitung der Vergangenheit begonnen. Am Belgrader Bezirksgericht arbeitet seit fünf Jahren eine Kammer für Kriegsverbrechen. Schwerbewaffnete Polizisten in blauen Uniformen bewachen das Gerichtsgebäude. Im vierten Stock liegen die Büros von Sonderstaatsanwalt Vladimir Vukcevic. Mit dem bisher Erreichten sei er eigentlich sehr zufrieden, meint der 58-Jährige unter den Augen Justizias, die als Ölgemälde auf ihn herunterblickt.

    "Als ich begonnen habe, wurde in der Öffentlichkeit noch gefragt, ob überhaupt Kriegsverbrechen begangen wurden. Die Verbrecher wurden oft als Helden betrachtet, die das Serbentum verteidigt haben. Meine Kollegen in der Staatsanwaltschaft für Kriegsverbrechen und ich haben gezeigt, dass die Milosevic-Leute im Namen des Serbentums schreckliche Verbrechen begangen haben."

    123 Personen hat Vladimir Vukcevic bislang vor Gericht gebracht. Die meisten von ihnen waren Serben, die in Kroatien, Bosnien und Kosovo an Massakern und Vergewaltigungen beteiligt waren, darunter auch hohe Polizei- und Militäroffiziere.

    "Wir wollen genau aufklären, wer zum Beispiel schuld ist an den Verbrechen in der bosnischen Stadt Zvornik. Wir greifen die Leute heraus, die dort Exekutionen und Folterungen durchgeführt haben. Im Grunde genommen erfüllen wir eine äußerst patriotische Aufgabe. Denn durch unseren Nachweis der individuellen Schuld nehmen wir von den Serben die Kollektivschuld."

    Doch das wird nicht von allen so gesehen. Von der Serbischen Radikalen Partei wird die Staatsanwaltschaft offen angefeindet. Regelmäßig erhält Vladimir Vukcevic Todesdrohungen. Von einzelnen Wirrköpfen, sagt er. Denn im Großen und Ganzen sei die Staatsanwaltschaft im heutigen Serbien eine anerkannte Institution. Auch Ruzica Devic von der Jugendinitiative für Menschenrechte findend lobende Worte für die Arbeit von Vladimir Vukcevic. Aber:

    "Es geht noch alles zu langsam. Außerdem mangelt es an Informationen gegenüber der Öffentlichkeit. Alles geschieht hinter verschlossenen Türen."

    Gerade die Herstellung von Öffentlichkeit sieht Ruzica jedoch als zentrale Aufgabe. Damit eine wirkliche gesellschaftliche Auseinandersetzung beginnen kann und ein dauerhafter Friede möglich wird.

    "Das ist so wie mit den Geistern der Vergangenheit aus dem Zweiten Weltkrieg. Weil wir uns mit ihnen nicht rechtzeitig auseinandergesetzt haben, haben sie zumindest teilweise zum Zerfall Jugoslawiens beigetragen. Auch die Geschehnisse der 90-er Jahre können in zehn Jahren einen neuen bewaffneten Konflikt oder etwas Ähnliches erzeugen. Die einzige Garantie, dass das sich nicht wiederholt, ist die wirkliche Auseinandersetzung mit dem, was geschehen ist."

    Hinweis: Eine längere Version dieses Beitrages können Sie morgen nachhören und -lesen:
    Gesichter Europas 2008-10-25 - Sehnsucht nach Normalität
    Serbien und das schwere Kriegserbe (DLF)